Ein ehemaliger DDR-Flüchtling bildet heute Flüchtlinge aus
Kurz vor dem Mauerfall floh Thilo Lindner aus der DDR in den Westen - ohne Plan, ohne Ziel. Heute ist er Ausbildungsleiter bei einem führenden Kabelhersteller - und kümmert sich dort um die Integration junger Kriegsflüchtlinge.
"Bayern haben wir uns ganz anders vorgestellt", sagt Thilo Lindner: "Wo wir nach Bayern reingefahren sind, mit den Motorrädern, da waren Straßen kaputt gewesen, Häuser gar nicht so sauber, wie wir uns das eigentlich vorgestellt haben. Obwohl im Fernsehen, wir durften ja seit 1982, seit Willy Brandt durften wir ja auch ARD und ZDF gucken…"
Und da sah Bayern viel schöner aus. Nicht weit von der Ausbildungswerkstatt entfernt, die er leitet, sitzt Thilo Lindner an einem Tisch. Ein athletischer Typ, mit wenigen Haaren auf dem Kopf, der vor Energie regelrecht sprüht. Amüsiert erzählt er von seiner Flucht aus der DDR.
"Wenn alle gehen, gehen wir jetzt auch"
1989 lebt Lindner im thüringischen Rudolstadt. Anfang Oktober beschließen er und einige Freunde: Wir gehen auch. Zu siebt brechen sie auf, jeder fährt ein Motorrad, über die damalige Tschechoslowakei kommen sie bis in den Westen:
"Wir haben von den politischen Verhältnissen in jungen Jahren gar nicht so viel mitbekommen. Aber wir haben das im Fernsehen gesehen und haben gedacht, wenn jetzt alle gehen, dann gehen wir auch. Wir wussten wirklich nicht, was kommt danach- Uns war gar nicht bewusst, dass wir vielleicht nie wieder hätten zurückkommen können. Wir wussten ja nicht, dass die Grenze aufgeht. "
Mit einem Mal ist die Grenze Geschichte
Am Morgen des 10. November, mittlerweile sind die jungen Männer in Köln gelandet, erfährt Thilo Lindner zufällig: Die Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland ist Geschichte. Der 21-Jährige gilt zunächst als Flüchtling aus der DDR und kommt in ein Aufnahmelager:
"Man hat Ängste, ist froh, dass man erst mal da ist, man darf jetzt hier erst einmal bleiben. Aber dann wieder aus dem Heim herauszukommen und der Schritt dann in die eigene Wohnung, das dauert ja alles. Und wenn ich hier erlebe, die hier ankommen, die auf Wohnungssuche sind, dann versuche ich so viel wie möglich zu helfen, wie man mir geholfen hat. 15, 20 Leute, irgendwo in so einem riesengroßen Raum zu wohnen, das ist unerträglich."
Zur richtigen Zeit am richtigen Ort
Als gelernter Industriemechaniker findet er schnell einen Job, sein Meister nimmt ihn kurze Zeit später sogar bei sich zuhause auf. Lindner qualifiziert sich weiter, wird Industriemeister, studiert nach weiteren Stationen Arbeitsorganisationspsychologie. 2011 kommt er in den Südwesten zu Lapp, einem der weltweit größten Kabelhersteller. Am Stammsitz des Unternehmens in Stuttgart baut er ein Ausbildungszentrum mit auf:
"Ich denke, dass ich auch sehr viel Glück hatte, auch zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort war, Menschen da waren, dich mich unterstützt haben."
Vorbildliche Integration
Dieses Glück teilt er heute. 2013 beginnt bei Lapp der erste Flüchtling eine Ausbildung. Seitdem werden es jedes Jahr mehr. Weit über Baden-Württemberg hinaus gilt das mittelständische Unternehmen als vorbildlich bei der Ausbildung und Integration von jungen Flüchtlingen.
Yesan Maky, 24 Jahre, hat im September mit eine duale Ausbildung als Maschinenanlageführer mit Fachrichtung Metall- und Kunststofftechnik begonnen. Vor vier Jahren kam er aus Syrien nach Deutschland: "Türkei, dann durch das Meer, Griechenland, Mazedonien, dann Deutschland."
Ausbildungsleiter Lindner kennt die Fluchtgeschichten, die Auszubildenden kennen auch seine Geschichte. Lindner weiß: Seine Auszubildenden haben auf ihrer Flucht meist viel Schlimmeres erlebt und doch gibt es ein paar Parallelen.
Maky ist deshalb sicher: Thilo Lindner ist für ihn und alle anderen Geflüchteten ein Glücksfall: "Herr Lindner ist sehr wichtig, und er macht wirklich viel."
Der Ausbilder als Vertrauensperson
65 junge Menschen werden derzeit bei Lapp am Stammsitz Stuttgart ausgebildet. Elf von ihnen haben eine Fluchtgeschichte, vier weitere Geflüchtete absolvieren gerade eine Einstiegsqualifizierung. Alle lernen in der ersten Stunde bei ihrem Ausbildungsleiter, erzählt Lindner:
"Wenn ihr was habt, kommt ihr auf mich zu, dann machen wir unter vier Augen. Ich mache das ganz vertraulich und versuche, denen in irgendeiner Art zu helfen. Ob es dann klappt, weiß ich nicht, aber wir machen das."
Auch Sozialkunde steht auf dem Lehrprogramm
Lindner verlangt im Gegenzug auch einiges von den Flüchtlingen. Drei Tage sind die Auszubildenden im Betrieb, einen Tag in der Berufsschule. An einem weiteren Tag bekommen sie bei Lapp zusätzlichen Unterricht, etwa in Gemeinschafts- und Sozialkunde. Pflichtprogramm mit Ausbildungsleiter Lindner ist dabei der Besuch des baden-württembergischen Landtags.
Es gehe darum demokratische Prozesse aufzuzeigen, sagt der heute 50-jährige: "… unsere Landesregierung, wie entstehen Landesgesetze, auch bis Berlin hoch, das müssen sie alles kennen, das wird alles hinterfragt in Sozialkunde."
Damals als er vom Osten in den Westen kam, nahm ihn sein Meister auf. Auch Lindners Tür steht den Flüchtlingen offen, etwa wenn die Familie im Garten grillt. Mit seiner Frau lebt er in einer Ehegemeinschaft, die Patchworkfamilie kommt zusammen auf sieben Kinder:
"Ich mag, wenn viele Menschen um mich herum sind, das ist einfach eine schöne Sache. Jeder hilft mit, macht mit und so soll es auch sein."