Volles Risiko für die Freiheit der anderen
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Burkhart Veigel hat zwischen 1961 und 1970 rund 650 DDR-Bürgern geholfen, in den Westen zu fliehen. Als Student wurde er gleich nach dem Bau der Mauer von einer Gruppe Fluchthelfer angeworben. Noch am selben Tag begann er mit seiner Arbeit.
Zehn Jahre lang hat Burkhart Veigel für die Freiheit anderer seine eigene Freiheit und auch sein Leben riskiert. Unmittelbar nach dem Bau der Mauer bringt der Medizinstudent an der Freien Univiersität in Westberlin Grenzgänger-Studenten aus Ostberlin mit ausländischen Pässen in den Westen.
"Ich habe sofort Ja gesagt, weil ich da schon eine richtige Wut auf die DDR hatte, dass die sich erlaubt, ihre eigenen Bürger einzusperren durch Stacheldraht und Mauer. Diese Wut hat mich die erste Zeit sehr getragen. Mein Motiv war nicht, das System zu stürzen, mein Motiv war, anderen Menschen zur Freiheit zu verhelfen. Am selben Tag, als ich angesprochen wurde, habe ich noch meinen ersten Flüchtling geholt."
Als Kind eingesperrt
Seiner Haarfarbe wegen bekam er den Decknamen "Schwarzer". Das Medizinstudium ließ er schleifen und widmete seine ganze Zeit und Energie der Fluchthilfe. Später, als Veigel hörte, was seine Flüchtlinge in der DDR erlebt hatten, verwandelte sich seine Wut in Hass. Der Sohn eines Pfarrers wurde als Kind selbst immer wieder in einen Keller eingesperrt und machte dabei lebensprägende Erfahrungen.
"Mit etwa zehn Jahren habe ich es geschafft, aus diesem Keller rauszukommen. Das war nicht einfach. Aber ich konnte mit dieser Freiheit, die ich erworben habe, nichts anfangen. Das war das Seltsame, sodass ich dann auch später, beim Zusammenbruch der DDR verstanden habe, warum die Menschen nicht plötzlich eine eigene Meinung haben konnten. Wenn man bisher die eigene Meinung jeden Morgen im ‚Neuen Deutschland‘ gelesen hat, dann kann man nicht von jetzt auf gleich eine eigene Meinung haben. Ich habe das durch eigenes Erleben später verstanden: Freiheit, Denkfreiheit, sich eine eigene Meinung zu bilden – wenn man das nicht kennt, dann kann man nichts damit anfangen."
Im Armaturenbrett über die Grenze
Veigel war als Fluchthelfer sehr einfallsreich. So schmuggelte er DDR-Bürger im Armaturenbrett eines Cadillac über die Grenze.
"Sechs Liter Hubraum, sieben Meter lang, also wie ein Ozeandampfer, das war schon ein Ungetüm. Das hat der Mechaniker dann in sieben Monaten zum Fluchtfahrzeug umgebaut. Wobei das Versteck im Armaturenbrett nicht klein war, wir konnten auch relativ große Flüchtlinge damit befördern. Die Unterschenkel waren im vorderen Radkasten, dann der ganze Körper ab den Knien im Armaturenbrett und der Kopf über der Lenksäule – da hat ein Mensch gut reingepasst. Der Vorteil war: der Fahrer war 50 cm vom Kopf des Flüchtlings und konnte mit ihm reden: ‚Bitte jetzt Ruhe bewahren, jetzt muss ich anhalten und den Pass zeigen.‘ Es war wie ein Panzerschrank, aber er war doch sicher und hat sich sicher fühlen können."
Immer wieder geriet Veigel in Gefahr, mehrfach versuchte die Stasi, ihn zu entführen – erfolglos. Aus familiären Gründen beendete er 1969 seine Tätigkeit als Fluchthelfer und arbeitete als Arzt in Stuttgart. Nach dem Ruhestand zog er wieder zurück nach Berlin. Für sein Engagement erhielt er das Bundesverdienstkreuz.
Die ganze Nacht geheult
Mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 wurde etwas Wirklichkeit, wovon er immer geträumt hatte: Die Bürger der DDR durften frei denken und sagen, was sie wollten.
"Ich bin nach Hause gegangen, habe vorm Fernseher gesessen und die ganze Nacht geheult. Sie haben es erkämpft, dass sie plötzlich in Freiheit waren. Es ist für mich als Mediziner schon sehr wichtig gewesen, dass ich anderen Menschen helfe, aber ihnen die Freiheit zu geben, das war für mich das allerhöchste, schon damals. Und deshalb habe ich vor Glück die ganze Nacht durchgeheult."
(svs)