Fluchthilfe für NS-Verbrecher
NS-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann – auf einem Schiff in Richtung Argentinien. © imago images / United Archives International
Die "Rattenlinie" nach Argentinien
28:54 Minuten
Als sicherer Hafen für Nazis hat Argentinien traurige Berühmtheit erlangt. Dahin zu gelangen war gar nicht so schwer. Ermöglicht durch schwache Kontrollen und Unterstützer in verschiedenen Ländern. Darunter auch der argentinische Staatspräsident Perón.
Mitte der vierziger Jahre: In der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires bevölkern elegant gekleidete Menschen die herrschaftlichen "Avenidas", die Opernhäuser, Theater und Tangosäle. Während Europa nach dem Zweiten Weltkrieg am Boden liegt, ist Argentinien ein wohlhabendes Land mit einer aufstrebenden Industrie, das hungerleidende Länder wie Spanien mit großen Mengen an Getreide und Fleisch versorgt.
Im Vergleich zu Europa, wo Zerstörung, Elend und Chaos herrschen, sind die Zustände in Argentinien 1945 geradezu paradiesisch. Kein Wunder, dass der dünnbesiedelte südamerikanische Staat zum Magneten für Menschen wird, die der Nachkriegsnot Europas entfliehen wollen. Da trifft es sich gut, dass General Juan Domingo Perón, der 1946 zum Präsidenten gewählt wird, eine offensive Einwanderungspolitik betreibt.
"Er wollte Millionen von Europäern nach Argentinien holen – und Deutsche waren ihm dabei besonders lieb", sagt Holger Meding, Historiker an der Universität Köln. Laut Meding kamen in jenen Nachkriegsjahren dreißig- bis vierzigtausend deutschsprachige Immigranten nach Argentinien.
"Sie galten als fleißig, innovativ und organisiert – und da wollte Perón keine problematischen Signale setzen."
Problematische Signale: damit meint Meding, "dass man zum Beispiel die einzelnen Biografien prüfen würde und Leute gegebenenfalls zurückschicken würde – das hätte dem gesamten Einwanderungsprojekt ja Schaden zugefügt. Also fragte man hier nicht genau nach und ließ wirklich nahezu alle ins Land.
Völkermörder konnten fliehen
Meding hat die Flucht nationalsozialistischer Kriegsverbrecher untersucht und ein Buch verfasst unter dem Titel "Flucht vor Nürnberg? Deutsche und österreichische Einwanderung in Argentinien zwischen 1945 und 1955".
Hunderte deutscher und österreichischer Nationalsozialisten, unter ihnen Schwerstverbrecher und Völkermörder wie Adolf Eichmann, Josef Mengele, Eduard Roschmann oder Erich Priebke flohen nach Südamerika, um der Strafverfolgung zu entkommen.
Als sicherer Hafen für Nazis hat Argentinien traurige Berühmtheit erlangt. Über die Fluchtrouten, die nach Südamerika führten, hat der argentinische Journalist Uki Goñi ein Buch geschrieben: "Odessa: Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher".
"Um Argentiniens Beziehung zu den Nazis zu verstehen, muss man wissen, dass beide Länder schon lange vorher ein gutes Verhältnis hatten", sagt Uki Goñi.
"Als Hitler an die Macht kam, gab es in Argentinien bereits eine große deutsche Gemeinschaft. Und, die argentinische Armee war zum Teil von der preußischen Armee ausgebildet worden. Diese langjährigen Bande gingen dann in gute Beziehungen zum NS-Regime über."
Nach 1933 sympathisierte ein großer Teil der deutschen Gemeinschaft am Río de la Plata mit Hitler. Es gab eine Filiale der NSDAP, und die meisten deutschen Institutionen, etwa Schulen und Unternehmerverbände, gerieten unter die Kontrolle der Nationalsozialisten.
Nazi-Großkundgebungen in Buenos Aires
Argentiniens Behörden erlaubten sogar Nazi-Großkundgebungen: Im April 1938 feierten mehr als zwölftausend Menschen im bekannten Boxstadion Luna Park den sogenannten Anschluss Österreichs. Das NS-Regime etablierte in Südamerika ein Spionagenetz, das von Buenos Aires aus operierte. Und: Argentinien erklärte Nazi-Deutschland als letzter Staat der Welt den Krieg – erst im März 1945, nur weil die USA erheblichen Druck ausübten.
"Im Grunde genommen: Argentinien war das einzige neutrale Land des amerikanischen Kontinents, galt als pro-deutsch, und damit war es quasi ein natürliches Zielgebiet für Personen nach Ende des Zweiten Weltkriegs, die aus Europa auswandern wollten und irgendwo eine neue Heimstatt suchen wollten", so Historiker Holger Meding.
An einer Kategorie von Deutschen war Präsident Juan Domingo Perón besonders interessiert: an Ingenieuren, Wissenschaftlern und Technikern aus dem NS-Staat, die nach der deutschen Niederlage arbeitslos geworden waren. Luftfahrtingenieure, die für den NS-Staat gearbeitet hatten, landeten am Río de la Plata und bauten in wenigen Jahren den Pulqui II, den ersten einsatzfähigen Düsenjäger Südamerikas.
"Von argentinischer Seite wurde die Zentrallage der Schweiz zur Steuerung der deutschen Auswanderung genutzt. Perón persönlich entsandte auf dem Luftweg hochrangige argentinische Staatsfunktionäre mit dem Auftrag, so viele nützliche Deutsche wie möglich nach Buenos Aires zu bringen." - So steht es in Holger Medings Buch "Flucht vor Nürnberg?".
Die argentinische Regierung bezahlte die Anreise, die oft auf illegalem Wege erfolgte, da vor allem für Personen mit Nazi-Vergangenheit eine legale Auswanderung aus den alliierten Besatzungszonen Deutschlands unmöglich war. Ein Fluchtweg, über den deutsche Spezialisten, aber auch SS- und Wehrmachtsangehörige nach Argentinien gelangten, entstand 1947 in Skandinavien.
Fluchtroute über Dänemark und Schweden
"Die Nordroute war die erste Fluchtroute. Sie führte aus Deutschland über Dänemark nach Schweden. Argentinische Diplomaten waren an der illegalen Ausschleusung der Deutschen beteiligt. Diese flogen in der Regel von Schweden aus in die Schweiz und dann weiter nach Argentinien. Mit diesen Schlepperaktivitäten war es vorbei, als die schwedische Polizei den Organisator festnahm und alle involvierten Argentinier des Landes verwies", sagt Uki Goñi.
Im November 1945 hatte in Nürnberg der Hauptprozess der Siegermächte gegen nationalsozialistische Funktionäre, Kriegsverbrecher und Verantwortliche der Shoa begonnen. Im Oktober 1946 wurden zwölf zum Tode verurteilte Angeklagte hingerichtet –Hermann Göring verübte einen Tag zuvor Selbstmord.
Dutzende anderer NS-Krimineller und Holocaust-Täter waren zu diesem Zeitpunkt untergetaucht. Adolf Eichmann, Organisator der Juden-Deportationen, arbeitete als Holzfäller in der Lüneburger Heide. Der KZ-Arzt Josef Mengele, verantwortlich für sadistische Experimente an Häftlingen, war auf einem Bauernhof in Oberbayern untergeschlüpft. Der Ghetto-Kommandant Eduard Roschmann, bekannt als "Schlächter von Riga", versteckte sich unter Kriegsgefangenen in seiner Heimat Österreich. Alle drei schafften es, nach Argentinien zu fliehen – über Italien.
"Italien war das zentrale Fluchtland. Die meisten NS-Täter, denen die Flucht nach Übersee gelungen ist, zwischen 1946 und 1950 meistens, die sind über Italien nach Übersee geflüchtet. Wenn man mal in Italien war, dann war man relativ sicher."
Die italienische Fluchtroute hat der Historiker Gerald Steinacher, derzeit Professor an der US-amerikanischen University of Nebraska, erforscht. Der Weg in das Transitland führte über die grüne Grenze, über den Brenner nach Südtirol.
"Trotz aller versuchter Kontrollen ist diese Methode, nach Italien zu gelangen, so simpel, dass es in einen Spaziergang über die Grenze ausartet. Wird man gefasst und zurückgeschickt, probiert man es am nächsten Tag wieder. Dies wiederholt man, bis man Erfolg hat." - Das berichtete 1947 der US-Geheimdienstagent Vincent La Vista, zitiert in Steinachers Buch "Nazis auf der Flucht".
Nachkriegschaos erleichterte die Flucht
Das Chaos, das in den Nachkriegsjahren in Europa herrschte, erleichterte es den NS-Verbrechern, sich unerkannt fortzubewegen.
"Das überwiegend von deutschsprachiger Bevölkerung bewohnte Südtirol war eine Art Niemandsland – eine territoriale, ethnische, aber auch politische Übergangszone, aus der die alliierten Truppen bereits im Dezember 1945 abgezogen waren." - Heißt es weiter im Buch. Und: "Südtirol war damit die erste überwiegend deutschsprachige Region und Fluchtroute, wo keine alliierten Kontrollen stattfanden. Ab 1946 mussten Kriegsverbrecher auf der Flucht kaum mehr Verhaftungen befürchten.
Der Historiker spricht von Südtirol als einer "Identitätsschleuse". Denn in der norditalienischen Region war es nicht schwer, neue Papiere und damit eine neue Identität zu erlangen. Ehemalige Südtiroler Nazis halfen mit ihren Kontakten, und Gemeindeämter stellten NS-Kriminellen und SS-Angehörigen Ausweise mit falschen Namen aus.
"Man denke nur an bekannte Fälle wie Adolf Eichmann, der zum Südtiroler Richard Klement aus Bozen wurde. Aber auch Josef Mengele hat eine neue Identität als Helmut Gregor damals in Südtirol bekommen. Und viele andere prominente und weniger prominente Nazitäter", sagt Steinacher.
Ein großer Vorteil für diese Männer war, dass sie mit ihren Südtiroler Ausweisen nun als staatenlos galten. Und staatenlose Flüchtlinge bekamen in den Nachkriegsjahren auf unbürokratische Weise Reisedokumente vom Internationalen Roten Kreuz.
"Es fragte aufgrund seines ideellen Selbstverständnisses und völkerrechtlichen Status grundsätzlich nur nach menschlicher Schutzbedürftigkeit, niemals nach politischer Orientierung und moralischem Verhalten." - Das schreibt der österreichische Geschichtswissenschaftler Johannes Sachslehner.
Er lässt keinen Zweifel daran, dass das Rote Kreuz ein Schlüssel-Akteur im Fluchtnetzwerk für NS-Verbrecher war. "Bis 1948 bekamen etwa siebzigtausend Personen Rotkreuz-Reisepapiere, darunter viele Kriegsverbrecher, die dieses System ausgenutzt haben."
"La Vista Report" als wichtige Quelle für Historiker
"Der Name auf den Reisepässen ist oft frei erfunden und meist einer von mehreren Decknamen einer Person, dessen Foto am Reisepass angebracht ist." - Steht im "La Vista Report". Der Bericht, den der US-Agent Vincent La Vista 1947 an seinen Vorgesetzten schickte, ist eine der wichtigsten Quellen für Historiker, die die Nazi-Flucht über Italien erforschen.
Er wirft nicht nur einen kritischen Blick auf das Vorgehen des Roten Kreuzes, sondern betont auch die entscheidende Rolle der katholischen Kirche: "Der Vatikan ist sicher die größte einzelne Organisation, die an der illegalen Bewegung von Emigranten beteiligt ist."
Ein aktuelles Werk, das sich mit der katholischen Fluchthilfe für NS-Verbrecher beschäftigt, ist Johannes Sachslehners 2019 erschienenes Buch "Hitlers Mann im Vatikan; Bischof Alois Hudal. Ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Kirche". Bischof Hudal war ein glühender Verehrer Adolf Hitlers, ein Antisemit und Antikommunist, der nach dem Krieg in Rom zahlreiche Nazis bei der Flucht unterstützte.
"Hudal hat ein Netzwerk koordiniert, das wesentlich geholfen hat. Er war ja Chef der österreichischen Sektion der päpstlichen Flüchtlingshilfe, und als Leiter hat er doch einige Möglichkeiten gehabt. Das war eine päpstliche Institution, die mit dieser Flüchtlingshilfe betraut war, die Hudal in seinem Sinne ausgenutzt hat", erklärt Sachslehner.
Alois Hudal wusste, dass er Verbrechern half, so Sachslehner weiter: "Er hat ja immer gesagt: Ich frage nicht nach der Schuld der Menschen, die bei mir um Hilfe bitten. Ich frage nicht nach ihren Taten. Aber er hat zweifellos einiges gewusst. Er wusste, diese Menschen haben im Krieg tatsächlich Schuld auf sich geladen."
Dass Hudal ein Überzeugungstäter war, zeigt sein Artikel mit dem Titel "Gruß übers Meer", den 1948 die nationalsozialistische deutschsprachige Zeitschrift "Der Weg" in Buenos Aires abdruckte.
Zitat Hudal: "An meine lieben Landsleute in Argentinien! Viele von Euch kenne ich persönlich. Manchen, vielleicht nicht wenigen, konnte ich in den schwierigsten Wochen ihres Rom-Aufenthaltes helfend zur Seite stehen. (…) Glaubt nicht ohne weiteres allen Prozess-Akten von Nürnberg, Landsberg und manchen Spruchkammern. (…) Nur wenige Jahre werden vergehen und die große Revision der deutschen Geschichtsschreibung der letzten dreißig Jahre wird beginnen, um auch unserem Volke wieder zu Recht und Gerechtigkeit zu verhelfen."
Kirchlicher Fluchthelfer: Bischof Alois Hudal
Zu den NS-Tätern, denen Alois Hudal half, nach Argentinien zu fliehen, gehörten Eduard Roschmann, verantwortlich für die Ermordung Zehntausender lettischer Juden, und der SS-Mann Erich Priebke, der 1944 an der Massen-Erschießung von Zivilisten in den Ardeatinischen Höhlen bei Rom beteiligt war.
Hudal, der wegen seiner offen zur Schau gestellten Sympathie für den Nationalsozialismus schließlich im Vatikan in Ungnade fiel, war wohl der engagierteste, aber nicht der einzige kirchliche Fluchthelfer. Auch die deutsche, die kroatische und die ungarische Sektion der päpstlichen Flüchtlingshilfe nutzten ihre Möglichkeiten, Kriegsverbrechern und Kollaborateuren unter die Arme zu greifen: Mit Empfehlungsschreiben für das Rote Kreuz sowie Kost und Logis in Klöstern.
"Dem Papst muss all dies bekannt gewesen sein", meint Uki Goñi, argentinischer Journalist und Autor von "Odessa: Die wahre Geschichte", über Papst Pius XII., der von 1939 bis zu seinem Tod 1958 das Oberhaupt der katholischen Kirche war.
"Ihm kann auf keinen Fall verborgen geblieben sein, was Hudal tat, denn das ging damals schon durch die Presse. Selbst, wenn Papst Pius XII. die Fluchthilfe für Nazis nicht persönlich genehmigt haben sollte – die Tatsache, dass er sie nicht verboten hat, zeigt, dass er in gewisser Weise damit einverstanden war."
"Es ist ein gewisses Die-Augen-verschließen. Und das ist, wenn man die Größe der Verbrechen betrachtet, durchaus eine bedenkliche Sache. So würde ich das mal nennen. Man kann auch natürlich das Wort Schuld da in den Mund nehmen", sagt der Hudal-Experte Johannes Sachslehner über die Haltung der Kirchenspitze zu den Fluchthilfe-Aktivitäten.
Der Historiker Holger Meding nennt Gründe dafür, warum der Vatikan die Hilfe für Nazis deckte.
"Die katholische Kirche unterstützte diejenigen, die man eher auf der eigenen Seite wähnte. Die im Zweifel Streiter für die eigene Sache sein konnten, auf jeden Fall verlässliche Antikommunisten waren. Ein zweiter Grund war ein karitativer Grund. Und das führte dann dazu, dass die katholische Kirche in Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz diese Fluchtlinien erst ermöglichte."
Amerikanische Fluchthilfe für Klaus Barbie
Den erbitterten Antikommunismus teilte die Kirche mit den Westmächten unter Führung der Vereinigten Staaten. Dass Hunderte von Nationalsozialisten und Nazi-Kollaborateuren fliehen konnten, lag auch daran, dass sich für die USA mit dem Beginn des Kalten Krieges das Feindbild änderte.
"Es hat ein Wandel stattgefunden, zweifellos. Spätestens ab 1943 befürchteten die Alliierten im Falle einer Niederlage des Dritten Reichs würde ein nicht unbeträchtlicher Teil von NS-Flüchtlingen irgendwo versuchen unterzuschlüpfen. Und das wollte man zweifellos verhindern und hat dann auch auf die einzelnen Staaten Amerikas eingewirkt", sagt Meding.
"Dann aber veränderten sich die geopolitischen Umstände, und aus dem ursprünglichen Feind, der jetzt besiegt war, nämlich dem Dritten Reich, und dem italienischen Faschismus, wurde jetzt nicht unbedingt ein Verbündeter, aber man sah die Prioritäten jetzt gewandelt und man sah den eigentlichen Gegner in der Sowjetunion und vor allem im aggressiven, expansiven Kommunismus. Demgegenüber war jetzt die Suche nach NS-Kriminellen nicht mehr prioritär."
1947 baute das Counter Intelligence Corps, kurz CIC, ein Nachrichtendienst der US-Armee, sogar selbst einen Fluchtweg auf. Über ihn schleuste das CIC eigene Agenten aus, die wegen ihrer Nazi-Vergangenheit unbequem geworden waren.
Der bekannteste von ihnen: Klaus Barbie, ehemaliger Gestapo-Chef von Lyon. Nach dem Krieg hatte er das CIC bei seinen Aktivitäten gegen den Kommunismus unterstützt. 1951 verließ Barbie Europa – mit Hilfe der US-Amerikaner und des kroatischen Priesters Krunoslav Draganovic. Er entkam nach Argentinien und von dort nach Bolivien.
"Geheimdienstler, die sozusagen enttarnt und nicht mehr verwendungsfähig sind, aber die gefährlich sein könnten in Zukunft, die muss man irgendwo quasi entsorgen. Und dieses Ausschleusen und das Versehen mit einer neuen Legende, das bezeichnet man dann als eine 'Ratline'", erklärt Meding.
"Ratline", auf Deutsch Rattenlinie, hat sich als Bezeichnung für das gesamte Nazi-Fluchtnetz eingebürgert. Doch streng genommen bezeichnet der Begriff nur jene Route, über die US-Geheimdienste ehemalige Mitarbeiter illegal nach Südamerika schleusten.
Auswanderung über Genua
Was auch immer die individuellen Fluchtgründe waren – ein großer Teil der nationalsozialistischen Auswanderung nach Argentinien lief über Genua. In dem italienischen Mittelmeerhafen schifften sich auch kroatische Ustascha-Faschisten, belgische und französische Kollaborateure und andere Kriegsverbrecher ein.
In Genua befand sich ein Büro der Delegación Argentina de Inmigración en Europa, Peróns Einwanderungsorganisation für Europäer. Und das argentinische Konsulat in der Hafenstadt erteilte die Einreise-Visa.
"In den meisten Fällen konnten sich flüchtige Nazis (…) sicher sein, das Konsulat mit einem Visumsstempel in ihrem Rote-Kreuz-Pass zu verlassen. Zur gleichen Zeit stellte der Konsul eine Identitätsbescheinigung auf den Namen des Immigranten aus, die benötigt wurde, damit bei der Ankunft in Buenos Aires eine 'Cédula de Identidad' beantragt werden konnte, einen von der argentinischen Polizei ausgestellten Standardausweis. Damit war der Weg frei für eine erfolgreiche Flucht nach Südamerika", schreibt Uki Goñi.
Zwar war Juan Domingo Perón insbesondere an der Einwanderung deutscher Fachleute gelegen – doch der argentinische Präsident öffnete sein Land bewusst auch für hochrangige Vertreter des nationalsozialistischen Staates. Der General betrachtete sie als politisch Verfolgte, über ihre Verbrechen sah er hinweg. Die Verurteilungen und Hinrichtungen von Nürnberg kritisierte Perón wiederholt mit einer bemerkenswerten Schärfe.
In dem Buch "Yo, Juan Domingo Perón" von 1976 zitieren ihn die Verfasser so: "In Nürnberg fand etwas statt, das ich persönlich als Infamie, als unheilvolle Lektion für die Zukunft der Menschheit, ansah. Nürnberg war die größte Ungeheuerlichkeit und die Geschichte wird sie nicht verzeihen!"
Zur nationalsozialistisch orientierten deutschen Gemeinschaft in Argentinien pflegte Juan Domingo Perón enge Kontakte. Einer der Freunde des ehrgeizigen Militärs und Politikers war seit den dreißiger Jahren der einflussreiche Unternehmer Ludwig Freude. Als Perón als Vizepräsident einer Militärregierung im Oktober 1945 vorübergehend entmachtet wurde, gewährte Freude ihm in seinem Wochenendhaus nahe Buenos Aires Unterschlupf.
Offizielle argentinische Fluchthilfe durch Perón
Nach seiner Wahl zum Präsidenten im Jahr darauf beauftragte Perón den Sohn seines Gönners, Rodolfo Freude, mit dem Aufbau eines Nachrichtendienstes. Freude organisierte vom Regierungspalast aus die Nazi-Einwanderung. Der Journalist Uki Goñi hat diese offizielle argentinische Fluchthilfe für sein Buch "Odessa. Die wahre Geschichte" erforscht.
"Glücklicherweise haben Dokumente überlebt, die die äußerst enge Beziehung zwischen Perón und einigen nach Argentinien geflüchteten Nazis und Kollaborateuren belegen. Eine der wichtigsten Quellen ist das Tagebuch des belgischen Kollaborateurs Pierre Daye, das Forschern zugänglich ist. Daye erzählt darin, wie er und andere Flüchtige aus Deutschland, Frankreich und Kroatien zweimal von Perón im Präsidentenpalast empfangen wurden. Einige der ersten deutschen Ankömmlinge schickte Perón zurück nach Europa, um weiteren Nazis bei der Ausreise zu helfen."
Zum Haupt-Fluchthelfer wurde der Deutsch-Argentinier Horst Carlos Fuldner, ein ehemaliger SS-Hauptsturmführer. Ab 1948 war er in Peróns Auftrag in der Schweiz und Italien unterwegs. Fuldner und der Nachrichtendienst Rodolfo Freudes sorgten dafür, dass die argentinische Migrationsbehörde die Einreisegenehmigungen erteilte – sowohl für begehrte Wissenschaftler als auch für Schwerverbrecher vom Schlage Adolf Eichmanns.
1950 gründete der ehemalige SS-Mann Fuldner in Argentinien die Firma CAPRI, die Staatsaufträge erhielt und in der Eichmann und andere Nazis Arbeit fanden. Zwar gab es eine geheime Flucht-Organisation ehemaliger SS-Leute, wie sie 1972 der britische Schriftsteller Frederick Forsyth in seinen Roman "Die Akte Odessa" beschrieb, nicht. Was aber existierte, war ein Kameradenwerk: eine solidarische Unterstützung nationalsozialistischer Kreise in Argentinien für die Gesinnungsgenossen aus Europa, die Perón willkommen hieß.
"Das Kameradenwerk hat es natürlich gegeben"
"Das Kameradenwerk hat es natürlich gegeben", sagte Wilfried von Oven, ab 1943 Pressereferent von Propaganda-Minister Joseph Goebbels, in einer Sendung des Westdeutschen Rundfunks 1994. Von Oven kam Anfang der fünfziger Jahre nach Buenos Aires und lebte dort bis zu seinem Tod 2008, ohne der Nazi-Ideologie abzuschwören.
Viele deutsch-argentinische Unternehmen brachten Neuankömmlinge in Lohn und Brot. Adolf Eichmann arbeitete auch bei Mercedes Benz sowie bei Orbis, einer von einem Deutschen gegründeten Firma, die in Argentinien bis heute Gasherde und Heizungen herstellt. Orbis beschäftigte noch weitere Nazis, unter ihnen der KZ-Arzt Josef Mengele.
Andere NS-Täter machten sich selbstständig – etwa gründete Eduard Roschmann, der "Schlächter von Riga", eine Holzfirma. Und Erich Priebke eröffnete in der südargentinischen Stadt Bariloche ein Feinkostgeschäft. Wie viele Nazi-Kriminelle insgesamt in Argentinien ein neues Leben anfingen, ist nicht eindeutig zu sagen. Dem Historiker Holger Meding zufolge waren es um die fünfzig Schwerverbrecher – bei einer Erweiterung der strafrechtlichen Kriterien könne diese Zahl aber auf mehr als tausend steigen.
Viele Nationalsozialisten lebten bis zu ihrem Tode völlig unbehelligt in Argentinien. Doch für manche war es nach einigen Jahren vorbei mit der friedlichen Existenz.
"Sie fühlten sich absolut sicher, solange Perón an der Macht war. Aber als dieser 1955 durch einen Militärputsch gestürzt wurde, bekamen einige Nazis Angst", sagt Goñi.
Adolf Eichmanns Flucht nahm dramatisches Ende
Ein dramatisches Ende nahm der Aufenthalt in Argentinien für Adolf Eichmann, den 1960 der Geheimdienst Mossad nach Israel entführte, wo er in einem aufsehenerregenden Prozess zum Tode verurteilt wurde.
Josef Mengele fühlte sich in Buenos Aires so sicher, dass er dort wieder seinen richtigen Namen annahm. Aber 1959 erließ die deutsche Justiz einen Haftbefehl gegen ihn und Mengele floh ins Nachbarland Paraguay. Bis zu seinem Tod in Brasilien zwei Jahrzehnte später musste sich der ehemalige Lagerarzt verstecken.
Eduard Roschmann starb 1977 in Paraguay, wohin er sich abgesetzt hatte, weil die deutsche Justiz seine Auslieferung beantragt hatte. Josef Schwammberger, auch er ein ehemaliger Ghetto-Kommandant, wurde 1990 von Argentinien an Deutschland überstellt.
Und Erich Priebke, jahrzehntelang ein angesehener Bürger im idyllischen Bariloche, ereilte das gleiche Schicksal fünf Jahre später – auf den inzwischen greisen Ex-SS-Hauptsturmführer wartete ein Prozess in Italien.
"Argentiniens Regierungen haben von selbst nie etwas gegen die Nazis in ihrem Land unternommen", sagt der argentinische Journalist Uki Goñi. Bis heute ist die freundliche Aufnahme vieler NS-Verbrecher unter Präsident Perón ein Tabuthema in seinem Land, an das sich nur wenige Historiker herangewagt haben.
Die Anstöße zur Aufarbeitung seien oft aus dem Ausland gekommen, sagt der Geschichtswissenschaftler Holger Meding.
"Es sind Historiker aus den Vereinigten Staaten und dem deutschsprachigen Raum, die sich intensiv damit beschäftigt haben. Denn in Argentinien gilt das streckenweise immer noch als ein gewisses vermintes Gelände. Wer sich damit beschäftigt, legt sich mit den Peronisten an, und das ist in Argentinien nicht besonders glücklich, das zu machen."