Wird Algeciras das neue Lampedusa?
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Es wird eng in Spaniens Aufnahmelagern: Täglich kommen neue Boote mit Flüchtlingen aus Afrika. Ein Ende des Ansturms ist nicht in Sicht. Wie meistern Politiker und Behörden die Lage? Und wollen wirklich die meisten der Migranten nach Deutschland weiterziehen?
Von der Anlegestelle im Hafen von Algeciras steuert das schweres Patrouillenboot Rio Belelle der Guardia Civil auf Gibraltar zu, dann hinaus aufs offene Meer. Seit 14 Uhr schieben Feldwebel Rafael und seine vierköpfige Besatzung ihren 24-Stunden-Dienst. Grenzsicherung lautet ihre Aufgabe. Sie machen Jagd auf Zigaretten- und Drogenschmuggler, suchen illegale Einwanderer. Koordiniert wird das Ganze zentral von Madrid. Das Kontrollzentrum informiert die Außenstellen über verdächtige Bewegungen auf dem Meer und diese die Patrouillen. Auf der Rio Belelle geht eine Nachricht ein, zwei Schnellboote seien unterwegs.
"Richtet den Scheinwerfer auf das Boot!", befiehlt Rafael. "Entweder ist das Boot defekt oder schwer beladen mit Drogen – oder die veräppeln uns."
Zigaretten kommen aus Gibraltar, Haschisch aus Marokko. Menschen auch. Aber die haben nicht so gute Boote wie die Drogenkuriere, die die Polizei an der Nase herumführen und einfach davonrasen.
"Früher haben wir sehr oft Migranten auf offener See gerettet. Diese Aufgabe hat jetzt Salvamento Maritimo, die Seerettung, weitgehend übernommen. Wir halten deshalb mehr nach Tabak- und Haschischschmugglern Ausschau."
Während Rafael und seine Leute von der Guardia Civil die Meerenge von Gibraltar patrouillieren, sind weiter westlich vor der Küste bei Tarifa etliche "Pateras" – Schlauchboote mit Flüchtlingen – gesichtet und von der Seerettung aufgenommen worden.
Von der Guardia Civil gibt es ein kleines Lunchpaket
Schon von weitem kann man die Flüchtlinge an den roten Decken erkennen, die ihnen die Helfer gegen Unterkühlung zur Verfügung gestellt haben. Das Bild an der Hafenmole in Tarifa hat etwas Surreales: Rechts liegt ein großes Fährschiff, in dessen riesigem Bauch Autos und Touristen verschwinden, die dorthin reisen, wo die Flüchtlinge herkommen. Links lungern mindestens 150 Flüchtlinge an der Hafenmole herum, reihen sich jetzt ein, um ein kleines Lunchpaket von der Guardia Civil in Empfang zu nehmen.
Auch Valdemar aus der Elfenbeinküste steht in der Reihe. Er ist sichtlich erschöpft. Seit Stunden harrt er hier schon am Hafen auf dem harten Beton aus, weil es zurzeit keine Unterkünfte oder Anlaufstellen für Menschen wie ihn gibt.
"Wir hatten Freunde, wir haben es mehrfach versucht. Um das Geld für die Überfahrt zu bekommen, haben wir in der Heimat angerufen. Dann haben die Geld geschickt und wir haben immer wieder mal 100 Euro gezahlt. Dann haben wir das Material gekauft und sind gestern rübergekommen."
Valdemar ist Automechaniker – ohne Ausbildung. Hauptsache Europa, Hauptsache Arbeit: Seine Motivation ist klar: Er sucht ein besseres Leben, um seine Leute zu Hause zu unterstützen. Ähnlich Gibril, den ich ebenfalls an der Hafenmole treffe.
"Meine Großfamilie lebt im Senegal, aber ich habe Verwandte in Paris. Wenn ich die Erlaubnis bekomme, will ich von hier weg nach Paris. Dort ist meine ganze Familie."
"Wir bringen sie unter, so gut es geht"
Die meisten wollen nach Frankreich – oder in Spanien bleiben. Während Valdemar und Gibril gierig ihr Essen in sich hineinschlingen, ruhen viele hungrige und durstige Augen auf ihnen. Die Arcturus, das Rettungsschiff von Salvamento Maritimo, liegt im Hafen mit neuen Migranten.
"Mehr als 150 Personen befinden sich auf dem Boot, das ist gar nicht für so viele ausgerichtet, aber wir bringen sie unter, so gut es geht."
Seeretter Eugenio und zeigt auf einen Haufen Schlauchboote.
"Das hier sind die großen. Die kommen aber auch in kleinen Schlauchbooten, solche, mit denen die Kinder am Strand spielen. Da sind dann manchmal 10, 12 Leute drin, darunter schwangere Frauen und Kinder, und rudern."
Die Menschen stammen fast ausnahmslos aus Schwarzafrika. Jetzt stehen die meisten dicht gedrängt auf der Arcturus. Mit erwartungsvollen Augen schauen sie auf die Guardia Civil und Rot-Kreuz-Helferin Ana, die auf ihre Kollegen wartet.
Es fehlt an Mitteln und Helfern
"Noch nicht einmal das Baby darf von Bord, und ich darf ihm kein Wasser geben, denn gebe ich einem etwas, dann wollen das alle."
Aus Anas Worten klingt Verzweiflung und eine gewisse Ohnmacht, aber noch lässt die Guardia Civil die Menschen nicht von Bord: Die Hafenmole ist jetzt schon übervölkert. In diesen Tagen fehlt es an Helfern und Mitteln, den Ansturm der Flüchtlinge zu meistern.
"Wir geben ihnen Essen, neue Kleidung, Kranke, wie eine an Unterkühlung leidende Frau, werden medizinisch versorgt. Babys und Schwangere dürfen zuerst von Bord gehen. Dann werden die Menschen registriert, bekommen ein Armband. Dann werden sie normalerweise abtransportiert, damit die nationale Polizei die Fingerabdrücke nimmt."
Wer so registriert ist, muss seinen Asylantrag in Spanien stellen und muss dort bleiben oder kann zurückgeschickt werden. Das ist im sogenannten Dublin-Abkommen vereinbart. Aber Deutschland verhandelt in diesen Tagen mit Italien, Griechenland und Spanien noch zusätzliche Rücknahmeabkommen. Spanien hat gerade zugestimmt. Allerdings wollen diejenigen, die heute in Tarifa an der Hafenmole warten, gar nicht nach Deutschland. Frankreich und Spanien sind die Ziele der meisten Ankömmlinge.
"Die Sporthalle ist aber auch schon voll – wir platzen aus allen Nähten."
So klagt Ana vom Roten Kreuz. Binnen zehn Tagen sind mehrere Tausend Flüchtlinge in Tarifa, Cadiz, Barbate und Algeciras gestrandet.
Von einer alarmierenden, aber kontrollierten Situation, die jedoch aus den Fugen geraten könnte, spricht der Bürgermeister der Hafenstadt.
Algeciras – so José Ignacio Landaluce, der auch Senator der Volkspartei ist - könnte das neue Lampedusa werden.
"Man hätte Vorsorge treffen können"
Insgesamt sind laut UNHCR 28.000 Personen seit Jahresbeginn bis Ende Juli über Spanien in die EU gekommen, 24.000 davon auf dem Seeweg über die Meerenge von Gibraltar. Der Strom reißt nicht ab: Allein am zurückliegenden Wochenende haben Salvamento Maritimo und Guardia Civil über 400 Menschen aus Schlauchbooten gerettet.
"Man hätte Vorsorge treffen können. Der Wechsel der Routen war zwar nicht unbedingt vorhersehbar, allerdings hat sich schon vergangenes Jahr die Zahl der Zuwanderer verdoppelt."
Erst seit wenigen Wochen bekleidet Estrella Rodriguez das Amt der Staatssekretärin für Migration im Arbeits- und Migrationsministerium in Madrid. Spanien hat Italien und Griechenland als Einfallstor für illegale Einwanderer in die EU überholt. Zwei Fünftel aller Migranten der Mittelmeerroute kommen mittlerweile über Spanien in die EU.
Will Marokko die EU unter Druck setzen?
Die strikte Weigerung der italienischen Regierung, Flüchtlinge von Rettungsschiffen auf italienischen Boden zu lassen, ist ein Faktor. Die größere Bereitschaft des neuen spanischen Regierung von Ministerpräsident Pedro Sánchez Flüchtlinge aufzunehmen ein anderer, um die Verschiebung der Route ins westliche Mittelmeer zu erklären.
Auch eine laxere Haltung der Mauretanier und vor allem Marokkaner dürfte eine Rolle spielen. Spanien hat zwar Kooperationsabkommen zur Kontrolle der Migration mit diesen Ländern und auch mit Algerien geschlossen. Gemunkelt wird jedoch, dass Marokko in jüngerer Vergangenheit bewusst lax gehandelt hat, um Druck auf die EU zu machen. Die Strategie ging offensichtlich auf: Die EU hat gerade eine Tranche von 30 Millionen Euro für eine bessere Überwachung der Zone durch marokkanische Sicherheitskräfte freigegeben. Offensichtlich reicht dies den Marokkanern, die in gemischten Teams mit der Guardia Civil die Meerenge von Gibraltar patrouillieren, nicht aus.
"Die Linke hat nicht das Monopol der guten Gefühle"
Erst letztes Wochenende sind wieder mehrere hundert Flüchtlinge an der andalusischen Küste angekommen, was jedoch auch an den günstigen Wetterbedingungen liegen kann, wie Kommandant Moises vom Kontrollzentrum der Guardia Civil betont.
"Die Wetterbedingungen in der Meerenge von Gibraltar und im Alborán Meer beobachten wir sehr genau. Normalerweise sind die Wellen ein Meter bis ein Meter fünfzig – wenn sie nur noch fünfzig Zentimeter hoch sind, wissen wir, dass eine Lawine an Immigranten kommt, weil sie in sehr wackligen Außenbordern oder in Schlauchbooten übersetzen."
Solche Wetterbedingungen sind keineswegs unüblich im Hochsommer. Es könnte also genauso weitergehen – ein Szenario, das der frisch gekürte Chef der Volkspartei Pablo Casado zu nutzen weiß.
"Immigration ist kein Thema für Demagogie. Die Linke hat nicht das Monopol der guten Gefühle, auch uns zerreißt es das Herz, wenn wir die Bilder sehen, aber wir müssen uns verantwortungsbewusst und nicht populistisch geben. Was die Spanier von einer Partei hören wollen, ist, dass wir nicht allen Papiere geben können, dass Spanien nicht Millionen an Afrikanern aufnehmen kann, die auf der Suche nach einer besseren Zukunft nach Europa kommen. Und wenn es nicht möglich ist, dann müssen wir das sagen, auch wenn es politisch nicht korrekt ist."
Millionen von Afrikanern gibt es aber nicht. Angeblich warten in Libyen 680.000, in Marokko und Mauretanien 80. 000 Menschen aus der Subsaharazone auf eine Chance, nach Europa zu reisen.
Selbst wenn alle versuchen sollten, über Marokko und Spanien einzuwandern, sind es keine Millionen.
Bei den Behören herrscht Kompetenzwirrwarr
Die mit viel Medienhype inszenierte Aufnahme der rund 600 Flüchtlinge des Rettungsschiffes Aquarius hätte ein falsches Signal ausgestrahlt, so lautet der Vorwurf, den Oppositionelle in Spanien immer wieder gegen Pedro Sánchez erheben. Der Regierungschef kontert:
"Die Aktion der Aquarius, die Entscheidung der Regierung, den Flüchtlingen einen sicheren Aufnahmepunkt zu bieten, hat viel soziale Unterstützung durch die spanische Gesellschaft erfahren. Das beweist die Solidarität des spanischen Volkes und stärkt das Bewusstsein, dass wir vor einer Herausforderung stehen, die Grenzen übersteigt und eine gemeinsame Lösung durch die EU erfordert."
Da stimmt auch der konservative Senator und Bürgermeister von Algeciras zu. Algeciras, einer der Anlaufpunkte der Flüchtlinge an der andalusischen Küste, könnte das neue Lampedusa werden, behauptet José Ignacio Landaluce. Ihn stört, dass viele Medien über die 600 Flüchtlinge der Aquarius berichtet haben, aber nur wenige über die Tausende, die jetzt tagelang auf Schiffen, in Sporthallen oder sonst irgendwie improvisierten Unterkünften in Algeciras und Umgebung ausharren müssen.
Der Regierungschef fordert eine europäische Lösung
Immerhin wurde letzte Woche ein provisorisches Aufnahmelager in Algeciras für bis zu 350 Neuankömmlinge eingerichtet. Und auch anderswo entstehen Lager.
"Wir öffnen schnell neue Kapazitäten wie in Chiclana für 500 Leute, eventuell mehr. Das ist für die Unterbringung nach den ersten 72 Stunden, die die Polizei per Gesetz für die Personenerfassung hat. Von da können wir die Menschen dann weiter an Unterkünfte der Hilfsorganisationen vermitteln."
Staatssekretärin Estrella Rodriguez aus dem Arbeits- und Migrationsministerium ist Teil des Krisenstabes, der das Problem lösen soll. Denn abgesehen von der mangelnden Vorkehrung ist das Kompetenzwirrwarr in Spanien ein Problem: Die Guardia Civil ist für Grenzschutz zuständig und zusammen mit Salvamento Maritimo für die Seerettung, die nationale Polizei und damit das Innenministerium für die Registrierung. Die Kommunen und das Arbeits- und Migrationsministerium sind für die Unterbringung und Versorgung der Menschen zuständig – eine Aufgabe, die weitgehend an ein Dutzend vom Staat mitfinanzierter Hilfsorganisationen delegiert wird.
Auch die sind der Meinung: Man hätte früher reagieren können und müssen.
Problem erkannt!? Vor Urlaubsantritt bekam Ministerpräsident Pedro Sánchez 55 Millionen Hilfe von der EU und verkündete das Ende des Kompetenzwirrwarrs zumindest bei der Rettung und Erstaufnahme der Flüchtlinge.
"Es wird eine einzige Kommandoeinheit der Sicherheitskräfte in der Meerenge von Gibraltar geschaffen. Dort werden operative, keine politischen Entscheidungen getroffen. Das werden weiterhin die zuständigen Stellen tun. Diese Einheit wird sämtliche Aktivitäten, das Personal und Material rund um die illegale Einwanderung bündeln, die entsprechenden Informationen sammeln und schnell weitergeben. Dadurch soll der Einsatz der Ressourcen optimiert, die Kooperation in den Ursprungsländern gestärkt und die Abreise von Migranten und unerwartete Einreise in Spanien verhindert werden."
Kann das gelingen? Fakt ist: Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Zahl der Migranten, die bisher in diesem Jahr übers Mittelmeer gekommen sind auf rund 60.000 nahezu halbiert. Somit ist die Belastung zwar für Spanien gestiegen, insgesamt hat sie sich jedoch verringert.
Situation in den Herkunftsländern verbessern
Mindestens 1.500 Menschen haben nach Erkenntnissen der Migrationsbehörde in Genf in diesem Jahr bereits bei der Flucht ihr Leben verloren. Die Mittelmeerroute bleibt tödlich. Es sei längst Zeit, generell umzudenken, die Situation in den Ursprungsländern zu verbessern, argumentiert Maria Segurado von Caritas Spanien.
"Es gibt eine Fülle an legalen Einwanderungsmöglichkeiten, die wir nicht nutzen. Stattdessen geben wir das ganze Geld aus, um zu verhindern, dass die Menschen zu uns kommen. Ich glaube, wir sind es doch, die den Schlepperbanden das Geld verschaffen. Unser Steuergeld fließt dieser Mafia zu."