Flüchtige Überlieferungen
Wie schreibt man Geschichte auf der Grundlage elektronischer Quellen? Diese Frage diskutiert der Historikertag in Mainz. Der Historiker Christoph Classen nennt die Datenmengen im Internet eins der Probleme. Er regt an, auch die SMS-Nachrichten der Kanzlerin zu archivieren.
Joachim Scholl: Wie archiviert man das Word Wide Web, wie dokumentiert man mediale Quellen aus Radio und Fernsehen, wenn Magnetbänder auf lange Sicht zerfallen, Videokassetten nicht mehr abspielbar sind – wie schreibt man Zeitgeschichte mit solcherart flüchtigen Quellen? Mit dieser Problematik beschäftigt sich der Historiker Christoph Classen vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Zurzeit ist er beim deutschen Historikertag in Mainz, wo auch das Thema dort diskutiert wird. Guten Tag, Herr Classen!
Christoph Classen: Ich grüße Sie!
Scholl: Zeitgeschichte ohne Ressourcen – das ist der Titel einer Diskussion, die Sie heute Vormittag geleitet haben. Gehen der modernen Geschichtsschreibung die Ressourcen, sprich, die Quellen aus?
Classen: Nein, in vielerlei Hinsicht natürlich auch gar nicht, weil wir haben es auch mit einer unglaublichen Flut von Quellen, von neuen Quellen zu tun. Zugleich sind diese modernen Quellen, also seien es jetzt Rundfunksachen, zum Teil auch Internetsachen, sehr viel schwerer zugänglich und schwerer greifbar und auch schwerer zu interpretieren für Historiker. Das ist eigentlich das Problem, von dem wir ausgegangen sind.
Scholl: Schauen wir mal auf diese sogenannten audiovisuellen Quellen. Das 20. Jahrhundert ist wesentlich dokumentiert auf Filmmaterial oder auf Tonbändern, die von den Radio- oder Fernsehanstalten aufgezeichnet sind. Auf welche Probleme stößt man denn, wenn man diese Quellen benötigt?
Classen: Zunächst mal, in der Tat, ich glaube, wir leben in medialisierten Gesellschaften, schon das 20. Jahrhundert über, und deshalb kann die Zeitgeschichtsschreibung, die Zeitgeschichtsforschung nicht mehr so tun, als hätten wir nur mit Texten zu tun. Sie kennen vielleicht das Diktum des Soziologen Niklas Luhmann, was wir wissen, wissen wir aus den Medien. Da ist viel dran, und die Zeithistoriker können nicht so tun, als sei das anders und als sei das Buch oder die Akte, die Staatsakte, das Einzige, worauf man Geschichtsschreibung bauen könne. Das haben sie inzwischen, glaube ich, auch verstanden – oder wir haben es verstanden, wir Historiker. Die Probleme sind nun vielfältiger Art, also wir haben ein Problem damit, solche Quellen überhaupt zu finden, weil wir keine übergreifenden Verzeichnisse, Findmittel haben. Wir haben Probleme der Zugänglichkeit – diese Archive, diese Quellen liegen in aller Regel in Produktionsarchiven der Rundfunkanstalten, die sie produziert haben, wir haben rechtliche Probleme des Urheberrechts, zum Teil auch des Persönlichkeitsrechts, und wir haben natürlich methodische Probleme, also wie gehen wir als Historiker überhaupt damit um und was schreiben wir für eine Geschichte dann auf der Basis solcher Quellen.
Scholl: Wie zitiert man eine Fernsehsendung sozusagen wissenschaftlich?
Classen: Ja, wie zitiert man sie, und vor allen Dingen, wie analysiert man sie, würde ich zunächst mal auch sagen. Also es ist ja nicht ... die Geschichtswissenschaft ist als kritische Textwissenschaft entstanden. Die ganze Methode beruht im Grunde auf der Interpretation von Texten, und wenn wir es jetzt mit Bildern zu tun haben oder mit – was ja noch viel komplizierter ist im Fall von Filmen etwa, oder Fernsehen mit Kombinationen von Texten und Bildern, dann brauchen wir ja ganz andere Analyseinstrumente, um diese Quellen zu interpretieren.
Scholl: Ein weiterführendes Problem, was die Bibliothekswissenschaft schon seit etlichen Jahren problematisiert und thematisiert, sind auch die Speichermedien, also Tonbänder, Kassetten, Audio und Video, neben dem viel schnelleren technischen Zerfall kommt das Problem dazu, dass man sie irgendwann nicht mehr abspielen kann, weil es die entsprechenden Geräte nicht mehr gibt. Da werden ja auf längere Sicht Dinge verloren gehen, ja, und zwar unwiederbringlich.
Classen: Ja, man weiß das noch nicht so ganz genau, muss man sagen. Also es ist klar, jeder, der vielleicht noch ein paar alte VHS-Videos im Schrank hat, weiß, dass die dann nach 20 Jahren unter Umständen nicht mehr funktionieren. Und vor ähnlichen Problemen stehen tatsächlich die professionellen Anbieter, die Sender durchaus auch. Das sind zwar andere Videoformate, aber auch die müssen in der Tat zum einen technisch migriert werden, wie man das nennt – also die müssen überspielt werden auf Formate, für die es heute wieder oder noch Technik gibt, dass ist ein Prozess, den mal alle paar Jahre machen muss, so ungefähr, weil die Geschwindigkeit, mit der sich diese technischen Plattformen ändern, unglaublich wächst. Zugleich können Sie sich vorstellen, was das bedeutet, wenn Sie jetzt ein riesiges Archiv haben von solchen Dingen. Und zum anderen ist in der Tat das Problem, dass dieses Trägermaterial Videoband sich als besonders wenig haltbar erwiesen hat, also viel weniger haltbar etwa als das alte Material Film.
Scholl: Wie schreibt man Geschichte im medialen Zeitalter? Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Historiker Christoph Classen. Nun könnte man sagen, Herr Classen, Gott sei gedankt für die Digitalisierung. Erstens erlaubt sie eine – also ist losgelöst von der Hardware – langfristige Speicherung, also auch die Rundfunkanstalten, die Fernsehanstalten gehen ja dazu über, ihr historisches Material auch von den Bändern zu digitalisieren und dann wirklich haltbar zu machen. Zweitens erleichtert sie immens die Suche nach entsprechendem Material, also mit Schlagwörtern, Suchbegriffen, das müsste doch für den Historiker toll sein!
Classen: Ja, wie man es nimmt, also zum einen haben wir natürlich das Problem, dass wir es mit immensen Datenmengen dann auch zu tun haben. Also wenn Sie irgendwie daran denken, ich weiß nicht, was im Internet täglich erscheint, oder so, wenn Sie irgendwie anfangen wollten, Facebook zu archivieren oder so, sie hätten einfach eine riesige Datenmenge, derer man erst mal Herr werden muss. Ja, das ist sozusagen das eine Problem. Das nächste Problem ist, dass das eben auch sehr unterschiedliche Daten sind, die dort gespeichert werden. Sie haben ja auf einer Website etwa nicht nur Text, sondern Sie haben Bilder, Sie haben Videos, sie haben Audioelemente, Sie haben irgendwelche Grafiken oder Animationen, also ganz unterschiedliche Elemente, die dann auch nicht so ohne Weiteres zu finden sind. Es reicht ja nicht, dass man irgendeinen Text eingibt, um möglicherweise irgendein Video oder eine Grafik zu finden. Also die Findbarkeit ist, glaube ich, auch im digitalen Zeitalter ein Problem, obgleich – und da haben Sie natürlich recht – diese Quellen in der Regel maschinenlesbar durchsucht werden können, was die Sache dann wiederum sehr erleichtert. Allerdings, auch das muss man wahrscheinlich sagen, also wenn man etwas maschinenlesbar durchsucht, dann muss man irgendwelche Softwareprogramme schreiben, die das tun, und das ist ja auch noch mal eine Herausforderung, die Kriterien dort zu definieren und zu erreichen, dass das Programm genau das findet, was ich will, also eine Kompetenz, von der ich erst mal sagen würde, dafür sind Historiker bisher überhaupt nicht ausgebildet.
Scholl: Man spricht ja auch vom Ende der Gutenberg-Galaxis, also dass das gedruckte Wort allmählich verschwindet. Was heißt das eigentlich für die Geschichtsschreibung? Also wenn jetzt zum Beispiel auch keine Briefe mehr in dem Sinne geschrieben werden, also Staatschefs früher, was weiß ich, Adenauer hat noch mit de Gaulle Briefe gewechselt, unsere Kanzlerin ist eher als SMS- und Handy-Königin bekannt. Werden wir später überhaupt die Genese der Eurokrise noch dokumentiert, also auf dieser privaten politischen Ebene dokumentiert haben, jenseits der Akten und der Verträge?
Classen: Ich glaube, auf dieser ganz hohen Ebene, die Sie jetzt ansprechen, also die SMS von Frau Merkel, die werden ganz bestimmt archiviert, da muss man sich, glaube ich, keine Sorgen machen ...
Scholl: Ja, tatsächlich? Das glauben Sie, ja?
Classen: Ja, das glaube ich, ja. Da wird man ein Auge drauf haben, also zumindest sofern sie nicht rein privater Natur sind und mit ihren Amtsgeschäften zu tun haben, das denke ich schon. Aber sehr viel schwieriger wird es natürlich bei allem, was ein bisschen tiefer liegt. Wir haben, wie Sie völlig zu Recht sagen, im Moment noch Nachlässe, also wir haben eine Überlieferung, die in der Regel aus Briefen, aus Sammlungen von Texten bestehen, die dann, wenn jemand stirbt, an irgendein Archiv gehen und eine Sammlung, die sich dafür interessiert, wie wir das dann im E-Mail-Zeitalter noch haben wollen, das ist in der Tat eine gute Frage. Also wir hatten jetzt hier gerade heute auf der Sektion, da war ein Archivar aus dem ZDF dabei, der sagte, ja, also ein großes Problem ist, dass im Moment die EDV vorsieht, dass E-Mails nach zehn Jahren automatisch gelöscht werden. Also das ist sozusagen die klassische Methode, wie sie vorgehen, die sagen also, nach zehn Jahren braucht man das nicht mehr, und dann wird es einfach gelöscht. Das heißt, es wird überhaupt keine Bewertung danach stattfinden, ob das irgendwie wichtig ist oder nicht, ob da zentrale Kontroversen, die vielleicht gesellschaftlich wichtig sind, abgebildet sind oder nicht, sondern das würde pauschal alles gelöscht – ein Riesenproblem.
Scholl: Sie sprachen vorhin die großen methodischen Probleme an, die also die Geschichtswissenschaftler in Zukunft genau unter dieser Ägide der digitalen Zeit hat. Mich würde mal folgendes Experiment interessieren, Herr Classen: Wie würde ein Historiker den 26. September – also unser heutiges Datum – 1912 recherchieren heute, und 100 Jahre später, ein Historiker den 26. September 2012?
Classen: Na ja, gut, da würde ich sagen, das ist selbst für den 26. September 1912 natürlich schon nicht ganz leicht, weil man es mit einer ungeheuren Quelle von sehr unterschiedlichen Quellen zu tun hätte. Aber klar, man würde sicherlich irgendwie mit Zeitungen zum Beispiel anfangen, um einfach mal zu gucken, was an dem Tag überhaupt passiert ist, da kann man in bestimmte Archive gehen, die solche alten Zeitungen aufheben.
Scholl: Man könnte sich Tagebücher von vielen großen Persönlichkeiten anschauen, unter diesem Eintrag. Was hat Thomas Mann, ...
Classen: Zum Beispiel, ja.
Scholl: ... was hat der Kaiser am 26. September 1912 eingetragen.
Classen: Klar, genau, es wird Ego-Dokumente geben, wo jemand etwas aufgeschrieben hat. Ob das sozusagen für unser heutiges Datum dann auch in dieser Form möglich sein wird, das weiß man nicht. Also im Moment ist es jedenfalls so, dass das Internet nur – ich sage mal – relativ fragmentarisch archiviert wird. Wir haben auf der nationalen Ebene bisher keine wirklich greifende Lösung. Wir haben zwar eine Abgaberegelung der deutschen Nationalbibliothek, die im Gesetz steht, die aber nicht umgesetzt wird im Moment, einfach, glaube ich auch, weil man die Verfahren noch nicht hat, weil man mit den Datenmengen ein riesiges Problem hat und weil auch die Betreiber von Internetseiten gesagt haben, sie können das gar nicht leisten, dass jede Seite dort irgendwie als Pflichtexemplar abgeliefert werden muss. Wir haben eine private Initiative in den USA, das Internet Archive, das ist allerdings – also Web Archive – auch nicht vollständig. Also wenn Sie da mal dann rein gucken, dann stellen Sie fest, gut, Sie haben dann irgendwie eine Seite, aber Verlinkungen funktionieren natürlich häufig überhaupt nicht, weil die verlinkten Seiten eben nicht abgespeichert sind. Sie haben dort eingebundene Elemente, die man eigentlich braucht, um das verstehen zu können, also etwa Filme oder so, die gar nicht vorhanden sind, also die Sie anklicken, aber es passiert dann nichts und so. Das heißt, wir haben im Moment eine sehr, sehr fragmentarische Speicherung auf dieser Ebene, und wir haben eben gleichzeitig wahrscheinlich in vielen Fällen die schriftlichen Quellen, also die alten Briefe, Zeitungen – gut, die haben wir jetzt noch – aber die alten Briefe oder so, die haben wir eben nicht mehr.
Scholl: Zeitgeschichte mit prekären Quellen. Das war der Historiker Christoph Classen live vom deutschen Historikertag in Mainz. Herzlichen Dank für das Gespräch, Herr Classen, und wir sind gespannt, ob in 20 Jahren es dann Doktorarbeiten gibt oder wissenschaftliche Monografien "Die Geschichte der Eurokrise anhand der SMS-Protokolle von Angela Merkel".
Classen: Danke, tschüss!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Christoph Classen: Ich grüße Sie!
Scholl: Zeitgeschichte ohne Ressourcen – das ist der Titel einer Diskussion, die Sie heute Vormittag geleitet haben. Gehen der modernen Geschichtsschreibung die Ressourcen, sprich, die Quellen aus?
Classen: Nein, in vielerlei Hinsicht natürlich auch gar nicht, weil wir haben es auch mit einer unglaublichen Flut von Quellen, von neuen Quellen zu tun. Zugleich sind diese modernen Quellen, also seien es jetzt Rundfunksachen, zum Teil auch Internetsachen, sehr viel schwerer zugänglich und schwerer greifbar und auch schwerer zu interpretieren für Historiker. Das ist eigentlich das Problem, von dem wir ausgegangen sind.
Scholl: Schauen wir mal auf diese sogenannten audiovisuellen Quellen. Das 20. Jahrhundert ist wesentlich dokumentiert auf Filmmaterial oder auf Tonbändern, die von den Radio- oder Fernsehanstalten aufgezeichnet sind. Auf welche Probleme stößt man denn, wenn man diese Quellen benötigt?
Classen: Zunächst mal, in der Tat, ich glaube, wir leben in medialisierten Gesellschaften, schon das 20. Jahrhundert über, und deshalb kann die Zeitgeschichtsschreibung, die Zeitgeschichtsforschung nicht mehr so tun, als hätten wir nur mit Texten zu tun. Sie kennen vielleicht das Diktum des Soziologen Niklas Luhmann, was wir wissen, wissen wir aus den Medien. Da ist viel dran, und die Zeithistoriker können nicht so tun, als sei das anders und als sei das Buch oder die Akte, die Staatsakte, das Einzige, worauf man Geschichtsschreibung bauen könne. Das haben sie inzwischen, glaube ich, auch verstanden – oder wir haben es verstanden, wir Historiker. Die Probleme sind nun vielfältiger Art, also wir haben ein Problem damit, solche Quellen überhaupt zu finden, weil wir keine übergreifenden Verzeichnisse, Findmittel haben. Wir haben Probleme der Zugänglichkeit – diese Archive, diese Quellen liegen in aller Regel in Produktionsarchiven der Rundfunkanstalten, die sie produziert haben, wir haben rechtliche Probleme des Urheberrechts, zum Teil auch des Persönlichkeitsrechts, und wir haben natürlich methodische Probleme, also wie gehen wir als Historiker überhaupt damit um und was schreiben wir für eine Geschichte dann auf der Basis solcher Quellen.
Scholl: Wie zitiert man eine Fernsehsendung sozusagen wissenschaftlich?
Classen: Ja, wie zitiert man sie, und vor allen Dingen, wie analysiert man sie, würde ich zunächst mal auch sagen. Also es ist ja nicht ... die Geschichtswissenschaft ist als kritische Textwissenschaft entstanden. Die ganze Methode beruht im Grunde auf der Interpretation von Texten, und wenn wir es jetzt mit Bildern zu tun haben oder mit – was ja noch viel komplizierter ist im Fall von Filmen etwa, oder Fernsehen mit Kombinationen von Texten und Bildern, dann brauchen wir ja ganz andere Analyseinstrumente, um diese Quellen zu interpretieren.
Scholl: Ein weiterführendes Problem, was die Bibliothekswissenschaft schon seit etlichen Jahren problematisiert und thematisiert, sind auch die Speichermedien, also Tonbänder, Kassetten, Audio und Video, neben dem viel schnelleren technischen Zerfall kommt das Problem dazu, dass man sie irgendwann nicht mehr abspielen kann, weil es die entsprechenden Geräte nicht mehr gibt. Da werden ja auf längere Sicht Dinge verloren gehen, ja, und zwar unwiederbringlich.
Classen: Ja, man weiß das noch nicht so ganz genau, muss man sagen. Also es ist klar, jeder, der vielleicht noch ein paar alte VHS-Videos im Schrank hat, weiß, dass die dann nach 20 Jahren unter Umständen nicht mehr funktionieren. Und vor ähnlichen Problemen stehen tatsächlich die professionellen Anbieter, die Sender durchaus auch. Das sind zwar andere Videoformate, aber auch die müssen in der Tat zum einen technisch migriert werden, wie man das nennt – also die müssen überspielt werden auf Formate, für die es heute wieder oder noch Technik gibt, dass ist ein Prozess, den mal alle paar Jahre machen muss, so ungefähr, weil die Geschwindigkeit, mit der sich diese technischen Plattformen ändern, unglaublich wächst. Zugleich können Sie sich vorstellen, was das bedeutet, wenn Sie jetzt ein riesiges Archiv haben von solchen Dingen. Und zum anderen ist in der Tat das Problem, dass dieses Trägermaterial Videoband sich als besonders wenig haltbar erwiesen hat, also viel weniger haltbar etwa als das alte Material Film.
Scholl: Wie schreibt man Geschichte im medialen Zeitalter? Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Historiker Christoph Classen. Nun könnte man sagen, Herr Classen, Gott sei gedankt für die Digitalisierung. Erstens erlaubt sie eine – also ist losgelöst von der Hardware – langfristige Speicherung, also auch die Rundfunkanstalten, die Fernsehanstalten gehen ja dazu über, ihr historisches Material auch von den Bändern zu digitalisieren und dann wirklich haltbar zu machen. Zweitens erleichtert sie immens die Suche nach entsprechendem Material, also mit Schlagwörtern, Suchbegriffen, das müsste doch für den Historiker toll sein!
Classen: Ja, wie man es nimmt, also zum einen haben wir natürlich das Problem, dass wir es mit immensen Datenmengen dann auch zu tun haben. Also wenn Sie irgendwie daran denken, ich weiß nicht, was im Internet täglich erscheint, oder so, wenn Sie irgendwie anfangen wollten, Facebook zu archivieren oder so, sie hätten einfach eine riesige Datenmenge, derer man erst mal Herr werden muss. Ja, das ist sozusagen das eine Problem. Das nächste Problem ist, dass das eben auch sehr unterschiedliche Daten sind, die dort gespeichert werden. Sie haben ja auf einer Website etwa nicht nur Text, sondern Sie haben Bilder, Sie haben Videos, sie haben Audioelemente, Sie haben irgendwelche Grafiken oder Animationen, also ganz unterschiedliche Elemente, die dann auch nicht so ohne Weiteres zu finden sind. Es reicht ja nicht, dass man irgendeinen Text eingibt, um möglicherweise irgendein Video oder eine Grafik zu finden. Also die Findbarkeit ist, glaube ich, auch im digitalen Zeitalter ein Problem, obgleich – und da haben Sie natürlich recht – diese Quellen in der Regel maschinenlesbar durchsucht werden können, was die Sache dann wiederum sehr erleichtert. Allerdings, auch das muss man wahrscheinlich sagen, also wenn man etwas maschinenlesbar durchsucht, dann muss man irgendwelche Softwareprogramme schreiben, die das tun, und das ist ja auch noch mal eine Herausforderung, die Kriterien dort zu definieren und zu erreichen, dass das Programm genau das findet, was ich will, also eine Kompetenz, von der ich erst mal sagen würde, dafür sind Historiker bisher überhaupt nicht ausgebildet.
Scholl: Man spricht ja auch vom Ende der Gutenberg-Galaxis, also dass das gedruckte Wort allmählich verschwindet. Was heißt das eigentlich für die Geschichtsschreibung? Also wenn jetzt zum Beispiel auch keine Briefe mehr in dem Sinne geschrieben werden, also Staatschefs früher, was weiß ich, Adenauer hat noch mit de Gaulle Briefe gewechselt, unsere Kanzlerin ist eher als SMS- und Handy-Königin bekannt. Werden wir später überhaupt die Genese der Eurokrise noch dokumentiert, also auf dieser privaten politischen Ebene dokumentiert haben, jenseits der Akten und der Verträge?
Classen: Ich glaube, auf dieser ganz hohen Ebene, die Sie jetzt ansprechen, also die SMS von Frau Merkel, die werden ganz bestimmt archiviert, da muss man sich, glaube ich, keine Sorgen machen ...
Scholl: Ja, tatsächlich? Das glauben Sie, ja?
Classen: Ja, das glaube ich, ja. Da wird man ein Auge drauf haben, also zumindest sofern sie nicht rein privater Natur sind und mit ihren Amtsgeschäften zu tun haben, das denke ich schon. Aber sehr viel schwieriger wird es natürlich bei allem, was ein bisschen tiefer liegt. Wir haben, wie Sie völlig zu Recht sagen, im Moment noch Nachlässe, also wir haben eine Überlieferung, die in der Regel aus Briefen, aus Sammlungen von Texten bestehen, die dann, wenn jemand stirbt, an irgendein Archiv gehen und eine Sammlung, die sich dafür interessiert, wie wir das dann im E-Mail-Zeitalter noch haben wollen, das ist in der Tat eine gute Frage. Also wir hatten jetzt hier gerade heute auf der Sektion, da war ein Archivar aus dem ZDF dabei, der sagte, ja, also ein großes Problem ist, dass im Moment die EDV vorsieht, dass E-Mails nach zehn Jahren automatisch gelöscht werden. Also das ist sozusagen die klassische Methode, wie sie vorgehen, die sagen also, nach zehn Jahren braucht man das nicht mehr, und dann wird es einfach gelöscht. Das heißt, es wird überhaupt keine Bewertung danach stattfinden, ob das irgendwie wichtig ist oder nicht, ob da zentrale Kontroversen, die vielleicht gesellschaftlich wichtig sind, abgebildet sind oder nicht, sondern das würde pauschal alles gelöscht – ein Riesenproblem.
Scholl: Sie sprachen vorhin die großen methodischen Probleme an, die also die Geschichtswissenschaftler in Zukunft genau unter dieser Ägide der digitalen Zeit hat. Mich würde mal folgendes Experiment interessieren, Herr Classen: Wie würde ein Historiker den 26. September – also unser heutiges Datum – 1912 recherchieren heute, und 100 Jahre später, ein Historiker den 26. September 2012?
Classen: Na ja, gut, da würde ich sagen, das ist selbst für den 26. September 1912 natürlich schon nicht ganz leicht, weil man es mit einer ungeheuren Quelle von sehr unterschiedlichen Quellen zu tun hätte. Aber klar, man würde sicherlich irgendwie mit Zeitungen zum Beispiel anfangen, um einfach mal zu gucken, was an dem Tag überhaupt passiert ist, da kann man in bestimmte Archive gehen, die solche alten Zeitungen aufheben.
Scholl: Man könnte sich Tagebücher von vielen großen Persönlichkeiten anschauen, unter diesem Eintrag. Was hat Thomas Mann, ...
Classen: Zum Beispiel, ja.
Scholl: ... was hat der Kaiser am 26. September 1912 eingetragen.
Classen: Klar, genau, es wird Ego-Dokumente geben, wo jemand etwas aufgeschrieben hat. Ob das sozusagen für unser heutiges Datum dann auch in dieser Form möglich sein wird, das weiß man nicht. Also im Moment ist es jedenfalls so, dass das Internet nur – ich sage mal – relativ fragmentarisch archiviert wird. Wir haben auf der nationalen Ebene bisher keine wirklich greifende Lösung. Wir haben zwar eine Abgaberegelung der deutschen Nationalbibliothek, die im Gesetz steht, die aber nicht umgesetzt wird im Moment, einfach, glaube ich auch, weil man die Verfahren noch nicht hat, weil man mit den Datenmengen ein riesiges Problem hat und weil auch die Betreiber von Internetseiten gesagt haben, sie können das gar nicht leisten, dass jede Seite dort irgendwie als Pflichtexemplar abgeliefert werden muss. Wir haben eine private Initiative in den USA, das Internet Archive, das ist allerdings – also Web Archive – auch nicht vollständig. Also wenn Sie da mal dann rein gucken, dann stellen Sie fest, gut, Sie haben dann irgendwie eine Seite, aber Verlinkungen funktionieren natürlich häufig überhaupt nicht, weil die verlinkten Seiten eben nicht abgespeichert sind. Sie haben dort eingebundene Elemente, die man eigentlich braucht, um das verstehen zu können, also etwa Filme oder so, die gar nicht vorhanden sind, also die Sie anklicken, aber es passiert dann nichts und so. Das heißt, wir haben im Moment eine sehr, sehr fragmentarische Speicherung auf dieser Ebene, und wir haben eben gleichzeitig wahrscheinlich in vielen Fällen die schriftlichen Quellen, also die alten Briefe, Zeitungen – gut, die haben wir jetzt noch – aber die alten Briefe oder so, die haben wir eben nicht mehr.
Scholl: Zeitgeschichte mit prekären Quellen. Das war der Historiker Christoph Classen live vom deutschen Historikertag in Mainz. Herzlichen Dank für das Gespräch, Herr Classen, und wir sind gespannt, ob in 20 Jahren es dann Doktorarbeiten gibt oder wissenschaftliche Monografien "Die Geschichte der Eurokrise anhand der SMS-Protokolle von Angela Merkel".
Classen: Danke, tschüss!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.