Flüchtlinge auf dem Weg nach Schweden

Letzte Etappe Travemünde

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Fähren vor Travemünde © picture alliance / dpa / Ulrich Perrey
Von Nadine Dietrich |
In Lübeck versorgen freiwillige Helfer Flüchtlinge, kaufen Tickets nach Schweden für sie und bringen die Menschen zur Fähre in Travemünde. Nadine Dietrich hat eine Gruppe von Flüchtlingen auf ihrer letzten Etappe in Deutschland begleitet.
Maria hockt sich vor eine Plastikkiste und zieht eine orangefarbene Strickmütze heraus. Sie setzt sie sofort auf. Dann knotet sie sich einen langen blau-weiß-gestreiften Schal um den Hals.
"Ich suche nach Kleidung", sagt sie, "weil ich alle meine Sachen im Meer verloren habe."
Maria entdeckt noch pinke Fingerhandschuhe in der Kleiderkiste, die einige Lübecker spontan beim "Alternativen Zentrum" in Lübeck vorbeigebracht haben. Seit einigen Tagen beherbergen sie hier Flüchtlinge, und sie buchen Fährtickets.
Der älteste Sohn studiert bereits in Schweden
"Unser ältester Sohn lebt in Schweden, er studiert dort Tiermedizin, deshalb wollen wir dorthin", sagt Marias Vater, der seinen Namen und die Heimatstadt nicht nennen möchte.
Mit vier Kindern und seiner Frau ist er seit 25 Tagen auf der Flucht. Der Vater erzählt von den Bomben, die auf Marias Grundschule fielen, von der Flucht über die Türkei, Griechenland und Ungarn. Die übrige Familie sucht derweil Winterkleidung zusammen. Dann kommt der Bus! Der Lübecker Stadtverkehr stellt ihn seit gestern kostenlos zur Verfügung.
Die sechsköpfige syrische Familie schiebt sich schnell hinein, setzt sich auf die Viererplätze und beobachtet still den entstehenden Tumult:
"My family, my family – you see them there! – passt er noch rein, können wir ihn mitnehmen – my friend, everything okay"
Es passen nicht alle in den Bus. Die übrigen Flüchtlinge sollen in private Autos steigen: Freiwillige wollen sie nach Travemünde bringen. Aber die vielleicht 14 oder 15 Jahre alten Jugendlichen ohne Eltern und Verwandte wollen nach so vielen gemeinsamen Tagen auf der Flucht nicht von ihren Freunden getrennt werden.
Eine neue Sprache lernen und zur Schule gehen
Währenddessen zieht die älteste Tochter der syrischen Familie ein Deospray aus der Tasche, rasch und verschämt besprüht sich die ganze Familie, einer nach dem nächsten.
Endlich kann der Bus abfahren und einige irakische Jugendliche beginnen vor Freude zu singen.
"Ich freue mich, dass ich in ein sicheres Land fahre und dass ich meinen großen Bruder wiedersehe", sagt Abdallah, der 14-jährige Sohn der syrischen Familie. "Ich werde eine neue Sprache lernen und zu Schule gehen können."
Nach 20 Minuten stoppt der Bus am Fährterminal in Lübeck-Travemünde. Wieder warten. Keiner weiß, wie lange. Die Stimmung schwankt zwischen überdreht-aufgekratzt und nervöser Anspannung. Einige junge Männer stehen rauchend und laut redend vorm Bus, drinnen stillt eine Frau ihr Baby, ein dreijähriges Mädchen schläft auf den Knien seiner Mutter. Vorm Bus stehen auch die Lübecker Helfer, die Flüchtlinge in ihren Autos hergefahren haben.
Die Tickets werden überwiegend von Spendengeld bezahlt
Nach einer Dreiviertelstunde kommen die Helfer vom "Alternativen Zentrum" aus dem Terminal zurück: sie haben die Tickets nach Schweden, die zum überwiegenden Teil aus Spendengeldern, aber auch von den Flüchtlingen mitbezahlt wurden.
Auch die sechsköpfige syrische Familie bekommt ihre Tickets. Der Vater hält sie fest in der Hand. Er wirkt erleichtert.
"Ich habe schon mit unserem Sohn in Schweden gesprochen", sagt seine Frau. "Er freut sich, dass er uns treffen kann."
Noch einmal fährt der Bus los – diesmal endgültig zur Fähre. Staunend blicken die Flüchtlinge auf das große, erleuchtete Schiff, das in der Dunkelheit am Kai liegt. Als Maria, die Neunjährige, aus dem Bus steigt, greift sie sich das Mikrofon, hält es mit beiden Händen fest, mit ihren pinkfarbenen Handschuhen, die sie die ganze Zeit nicht ausgezogen hat, ebenso wie die Mütze und die Jacke.
Tränen zum Abschied
"Wir danken den Deutschen und der Organisation, sie hat uns geholfen, nach Schweden zu fahren..." Sie sagt noch etwas, aber der Dolmetscher kann nicht anders als Maria zu umarmen, alle anderen Familienmitglieder haben Tränen in den Augen, streicheln ihre Jüngste. Sie nehmen ihre Rucksäcke und Tüten und folgen den anderen Flüchtlingen zum Fahrstuhl, der sie an Deck der Fähre fährt. Die Mutter weint und die älteste Tochter zieht ihren Vater dichter zu sich, dann schließen sich die Türen.
Und während der ganzen Zeit: kein einziger Polizist, keine einzige Kontrolle. Nicht einmal ein Polizeiauto am Straßen- oder Parkplatzrand.
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