Yiftach Ashkenazi, Jahrgang 1980, ist Schriftsteller. Er studierte Geschichte und Cultural Studies und arbeitete in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Sein erster Roman "Die Geschichte vom Tod meiner Stadt" erzählt von seinem Geburtsort Karmiel im Norden Israels, den er nach dem Militärdienst wieder besuchte und nun mit anderen Augen sah. Weitere Veröffentlichungen sind: "Birkenau my love", "Persona non grata" sowie der Roman "Fulfillment" von 2014, in dem er die Geschichte der israelischen Linken erzählt. In der Anthologie "Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen. Israelische und deutsche Autoren schreiben über das andere Land" (2015) ist Ashkenazi mit einer Kurzgeschichte vertreten.
Europa muss Vorbild sein
Viele Israelis empfinden die Aufnahme der zahlreichen Flüchtlinge in Europa als naiv. So hole man sich den IS ins Land und der Antisemitismus werde wieder wachsen. Der israelische Schriftsteller Yiftach Ashkenazi sieht das anders.
Soll Israel den Flüchtlingen aus Syrien einen Zufluchtsort bieten? Angesichts der schrecklichen Krise fordern das immer wieder Oppositionspolitiker in der Knesset.
Eine typische Antwort aus der Mitte der Politik und der Gesellschaft lautet aber: Die syrische Krise ist ein Problem Europas. Israel darf sich nicht hineinziehen lassen, denn die Flüchtlinge würden den Charakter Israels als jüdischen Staat verändern. Und dafür könne man als Nachfahre von Holocaust-Überlebenden nicht eintreten.
Das ist zwar eine sehr merkwürdige Logik. Doch offenbar ergibt es für viele Menschen Sinn, die syrischen Flüchtlinge nicht in ihrer Not wahrzunehmen, sondern als Gefahr. Und deshalb erscheint aus israelischer Sicht die Bereitschaft in Europa und in Deutschland, abertausende Flüchtlinge aufzunehmen, als kindlich, naiv oder schlichtweg dumm.
Die Politik hole damit letztlich den IS ins Land, lautet die Befürchtung, und der Antisemitismus werde wieder wachsen. Insbesondere die Deutschen sollten aus der Geschichte lernen und keine Situation erschaffen, die den nächsten Holocaust hervorbringen könnte. Diese Mahnung erscheint – wie gesagt – nicht sonderlich logisch.
Hintergrund dieser völlig verschiedenen Ansichten zur Flüchtlingskrise ist die alte Frage, was aus dem Holocaust zu lernen sei. Israels Ministerpräsident Netanjahu missbraucht ihn schon seit Jahren als Entschuldigung Nummer 1 für jedwede israelische Aggression – von der Besatzungspolitik bis zur Ablehnung des historischen Atomabkommens mit dem Iran.
Viele Europäer dagegen kritisieren - wie auch die israelische Linke -, ausgerechnet die Opfer des Holocausts seien nun zum Aggressor geworden. In diesem alten Streit sollten wir etwas erfrischend Neues versuchen und uns gegenseitig zuhören.
Vielleicht sind die Ängste vieler Israelis nicht ganz unberechtigt
Das bedeutet – und das fällt mir nicht leicht – auch die Selbstgerechtigkeiten und Verschwörungstheorien derjenigen anzuhören, die den jüdischen Staat Israel durch die Flüchtlinge bedroht sehen. Denn wir können nicht leugnen, dass diese Ängste viele Israelis ansprechen.
Und womöglich sind solche Sorgen nicht ganz so paranoid, wie viele linke Israelis gerne glauben. Immerhin wurden in den vergangenen Jahren quer durch Europa viele Anschläge auf Juden und jüdische Einrichtungen verübt – von muslimischen Bürgern, von denen manche vorher in Syrien waren. Die Ängste, begründet oder nicht, sind deshalb verständlich.
Europa trägt eine große Verantwortung. Israel hat sich mittlerweile zu weit abgegrenzt, um Teil einer raschen Antwort auf die Flüchtlingskrise zu sein. Mein bescheidener Ratschlag an Europa lautet deshalb, die Sorgen Israels sorgfältig zu hören und zu bedenken. Damit meine ich nicht, die Hilfsbereitschaft zu schmälern.
Ich hoffe vielmehr, dass die deutsche Regierung nicht nur PR in eigener Sache betreibt, um zu zeigen, dass sie aus der Vergangenheit gelernt hat. Sondern dass alle in der EU diese große Gelegenheit erkennen, nicht nur die Zukunft des Kontinents zu gestalten, sondern der ganzen Welt neue Hoffnung zu geben.
Europa sollte die Flüchtlinge willkommen heißen und allen tatsächlichen Schwierigkeiten mit dem Ziel begegnen, mit den Einwanderern eine neue demokratische Gesellschaft zu erschaffen: gemeinsam erbaut von Menschen verschiedener Religionen, Kulturen und Gemeinschaften.
Das ist keine einfache Aufgabe. Aber wenn Europa sie meistert, wird dieser Erfolg auch anderen Teilen der Welt helfen. Europa kann ein Vorbild werden – auch für Israel und alle Orte, an denen Ängste und Fatalismus die Überhand gewonnen haben.