Flüchtlinge

"Griechenland ist eine Durchgangsstation"

Ein Boot mit Flüchtlingen erreicht den Lerapetra Hafen vor der griechischen Insel Kreta am 27. November 2014.
Ein Boot mit Flüchtlingen erreicht den Lerapetra Hafen vor der griechischen Insel Kreta. © picture alliance / dpa / Rapanis Stefanos
Thomas Bormann im Gespräch mit Isabella Kolar |
In Griechenland kamen am Wochenende Hunderte gerettete Migranten an. Die Aufnahmelager sind überfüllt. Unser Griechenland-Korrespondent Thomas Bormann schildert die miserable Situation der Flüchtlinge und die Maßnahmen der Regierung Tsipras.
Isabella Kolar: Am vergangenen Wochenende sind 4.500 Bootsflüchtlinge aus dem Mittelmeer gerettet worden, allein die griechische Küstenwache griff bis zum Sonntagmittag in der Ägäis knapp 530 weitere Migranten auf. Thomas Bormann, unser Griechenland-Korrespondent: Hat die griechische Regierung vor lauter Finanzsorgen überhaupt noch Zeit und Geld, sich mit Flüchtlingspolitik zu befassen? Und wer macht das, ist das Chefsache?
Flüchtlinge sind meist auf sich selbst gestellt
Thomas Bormann: Ja, Geld hat sie keines, aber die Zeit muss sie sich nehmen. Und es gibt in der Regierung auch bei allen Regierungsmitgliedern den guten Willen, den Flüchtlingen zu helfen. Es gibt eine Ministerin für Migrationspolitik und sie versucht, diesen Ansturm der Flüchtlinge irgendwie zu bewältigen, aber auch von der Küstenwache kommen da oft ohnmächtige Hilferufe, die sagen, wir schaffen es einfach nicht mehr, alle Flüchtlinge zu versorgen, liebe EU, bitte helft uns, nehmt auch einige Flüchtlinge auf.
Denn in der Tat, der griechische Staat kann die Flüchtlinge, die nach Griechenland kommen, überhaupt nicht versorgen, die Flüchtlinge sind dort meist auf sich selbst gestellt oder auf die Hilfe von Nichtregierungsorganisationen oder der Kirche. Der griechische Staat hat da quasi schon aufgegeben.
Kolar: Angeblich wurde unter Flüchtlingen das Gerücht gestreut, die von der Linkspartei dominierte Koalition in Athen habe die Tore des Landes für Flüchtlinge geöffnet. Gibt es jetzt in der Flüchtlingspolitik einen spürbaren Unterschied zur Vorgängerregierung Samaras?
Bormann: Ja, den gibt es, und zwar vor allem: Flüchtlinge werden nicht mehr weggesperrt. Früher war es so, dass, wenn Flüchtlinge auf der Straße aufgegriffen wurden, dann kamen sie in sogenannte Abschiebelager. Und das waren ziemlich unmenschliche Gefängnisse, kann man sagen, da waren die Personen weggesperrt, konnten nicht raus, sie wussten nicht, wie lange sie da bleiben sollen. Und Griechenland wurde auch scharf kritisiert für diese unmenschliche Behandlung von Flüchtlingen.
Und die neue Regierung hat entschieden, all diese Abschiebelager zu öffnen. Und die werden jetzt nach und nach geleert, die sind wohl schon leer, da sind mehrere Tausend Flüchtlinge auf freien Fuß gekommen. Und die bekommen nun von den Behörden ein Papier ausgestellt, da steht dann drauf: Sie werden hiermit aufgefordert, die Republik Griechenland innerhalb der nächsten sechs Monate zu verlassen. Und dann werden sie weitgehend ihrem eigenen Schicksal überlassen.
Es gibt einige wenige Flüchtlingsunterkünfte, die der Staat organisiert, und einige der geschlossenen Abschiebelager werden jetzt wieder neu geöffnet als Flüchtlingslager. Also, da sind noch die gleichen Zustände, aber die Tür ist nicht mehr verschlossen, die Flüchtlinge können raus. Aber die Masse der Flüchtlinge in Griechenland, die zieht in die Städte und versucht, irgendwie weiterzuflüchten, nach Frankreich, nach Großbritannien, nach Deutschland, nach Skandinavien, denn dort versprechen sich die Flüchtlinge eine Zukunft, dort hoffen sie auf Arbeit und dort, glauben sie, gibt es zumindest für die Anfangszeit eine staatliche Unterstützung, bis sie dann Arbeit gefunden haben. Aber in Griechenland gibt es all das nicht.
Kolar: Das heißt, diese Öffnung der Lager gehört zu einer Reihe von Notmaßnahmen, die die Regierung Tsipras beschlossen hat. Gab es da noch weitere?
Ein europäisches Problem
Bormann: Ja, vor allem die Öffnung der unmenschlichen Lager war die wichtigste Maßnahme. Das Zweitwichtigste ist der Regierung Tsipras, immer wieder zu appellieren an die anderen EU-Länder: Helft uns, lasst uns mit den Problemen nicht alleine, das ist kein Problem Griechenlands oder Italiens oder der Insel Malta, wo die meisten Flüchtlinge ankommen, sondern das ist ein europäisches Problem. Aber da kann die Regierung viel appellieren, es müssen eben alle 28 EU-Staaten gemeinsam beschließen: Jawohl, auch Ungarn, auch Tschechien, auch Estland, alle werden Flüchtlinge aufnehmen. Und das dauert wohl noch, ehe es so weit ist. Und dann hat die Regierung auch – das hat aber auch die Vorgängerregierung Samaras schon begonnen – das Asylverfahren deutlich verbessert.
Man kann also jetzt relativ leicht in Griechenland Asyl beantragen, das Verfahren funktioniert, das war vor drei, vier Jahren noch völlig chaotisch, jetzt funktioniert es. Aber viele Flüchtlinge möchten in Griechenland kein Asyl beantragen, weil sie wissen: Wir haben hier in Griechenland keine Zukunft. Nicht nur, dass der griechische Staat uns nicht versorgen kann, weder mit Flüchtlingsunterkünften noch mit Sozialhilfe, es gibt wegen der tiefen Krise auch überhaupt keine Arbeit. Deshalb wollen also die meisten Flüchtlinge nicht in Griechenland bleiben und auch nicht in Griechenland Asylanträge stellen, obwohl das in der Zwischenzeit doch deutlich einfacher wurde.
Kolar: Sie wollen nicht bleiben. Und woher kommen die Flüchtlinge, die in Griechenland stranden?
Immer wieder tödliche Zwischenfälle
Bormann: Immer mehr kommen tatsächlich aus dem Bürgerkriegsland Syrien. Es sind aber auch sehr viele aus Afghanistan, aus Pakistan oder aus Somalia oder anderen afrikanischen Ländern. Die Flüchtlinge, die nach Griechenland kommen, die kommen alle vorher aus der Türkei. Die Türkei selbst hat ja, ja, man kann sagen: Millionen Flüchtlinge aufgenommen, allein aus Syrien sind in der Türkei 1,5 Millionen Flüchtlinge. Und viele dieser syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge wollen halt weiter in Richtung Europa, vielleicht weil dort schon Verwandte sind, irgendwo in Deutschland oder Schweden oder Großbritannien. Und weil der offizielle Weg geschlossen ist, weil sie kein Visum bekommen, weil die Länder keine weiteren syrischen Flüchtlinge hineinlassen, gehen diese Flüchtlinge dann an die Küste, an die türkische Küste, und in Sichtweite der türkischen Küste liegen einige griechische Inseln. Und da gibt es nun Schlepper, die bieten den Flüchtlingen an: Für vielleicht 2.000 Euro bringen wir euch diese etwa zehn, 15 Kilometer Luftlinie zu einer griechischen Insel, dort landen oder stranden die Flüchtlinge dann, auch hier in der Ägäis gibt es immer wieder tödliche Zwischenfälle. Und auf diesen Inseln werden die Flüchtlinge dann interniert, aber nach ein paar Tagen dann weitergeschickt aufs Festland Griechenlands, dort registriert und dann ihrem weiteren Schicksal selbst überlassen.
Kolar: Die von Ihnen erwähnte Ministerin für Migrationspolitik erwartet in diesem Jahr insgesamt 100.000 Flüchtlinge, die in Griechenland europäischen Boden betreten werden. Ist das realistisch?
Bormann: Es könnte sein, dass es so viele werden, vielleicht bleibt es aber auch bei 50.000. In den ersten drei Monaten kamen etwas über 10.000 Flüchtlinge nach Griechenland. Und die Angst ist da, weil eben der Bürgerkrieg in Syrien nicht enden will und weil im Nachbarland Türkei immer mehr syrische Flüchtlinge leben, immer mehr von den syrischen Flüchtlingen aus der Türkei eben Richtung Europa wollen. Und da ist Griechenland Durchgangsstation. Deshalb könnte es durchaus sein, 50.000 bis 100.000 Flüchtlinge in diesem Jahr 2015. In einem Land wie Griechenland, das selbst etwa nur zehn Millionen Einwohner hat, also eine sehr hohe Quote.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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