Immer noch keine Rede zur Lage der Nation
Politisches Reden ist die eine Sache. Politisches Handeln ist die andere. Insbesondere beim Umgang mit den Flüchtlingen in Europa klafft zwischen beidem eine riesige Lücke, meint Reinhard Mohr und er fordert klare Worte von der Kanzlerin.
Tag für Tag spitzt sich die Flüchtlingskrise zu, doch die Führungskräfte unserer Regierung bevorzugen immer noch den Talkshow-Sound aus rhetorischer Beschwichtigung und parteipolitischer Rangelei. Das Mantra der Kanzlerin "Wir schaffen das!" ist zwar bis in den letzten Winkel der Welt gedrungen, aber hierzulande warten viele verunsicherte Bürger auf klare Worte.
Auch Angela Merkels gestrige Regierungserklärung schwebte, den aufgezählten Maßnahmen, Gesetzesänderungen und Appellen an den Zusammenhalt Europas zum Trotz, eher in metaphysischen Höhen. "Historische Bewährungsprobe" heißt die neue Formel. Aber kein Wort über die akuten Nöte in Ländern und Kommunen.
"Alle große politische Aktion besteht in dem Aussprechen, was ist und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und dem Bemänteln, was ist." Das hat Ferdinand Lassalle, Gründervater der Sozialdemokratie, vor über hundert Jahren gesagt.
Der Satz stimmt noch immer. Doch die politische Klasse unserer Republik hält sich nicht daran, von Ausnahmen abgesehen. Dabei wäre es heute dringender denn je, Tacheles zu reden.
Es braucht selbstbewussten Realismus
Deutschland ist ein großartiges Land, und wir können stolz darauf sein. Dass wir das jetzt so sagen können, liegt auch daran, dass wir uns mit unserer dunklen Vergangenheit jahrzehntelang intensiv auseinander gesetzt haben. Die emphatischen "Germany, Germany!"-Rufe hunderttausender Flüchtlinge, die seit Wochen unablässig über unsere de facto offene Grenze kommen, irritieren uns trotzdem.
Denn als gute Deutsche sind wir seit je gewohnt, das eigene Land sehr kritisch, wenn nicht misstrauisch zu betrachten. Der deutsche Selbstverdacht lebt, mitsamt hysterischen Übertreibungen. Immer wieder müssen wir der Welt und uns selbst beweisen, dass wir weltoffen, demokratisch und friedfertig sind.
Warum eigentlich? Haben wir Angst vor uns selbst? Fürchten wir die Wiederkehr der Nazi-Herrschaft? Trauen wir uns nicht über den Weg? Dabei zeigt doch gerade der anhaltende Flüchtlingsstrom, dass dieses Deutschland für Millionen zum Sehnsuchtsort geworden ist. Es scheint, als fehle uns immer noch ein realistisches Selbstbewusstsein.
Diesen selbstbewussten Realismus brauchen wir jetzt. Dabei sollten wir uns hüten, Moral gegen Politik, Herz gegen Verstand und Gefühl gegen Vernunft auszuspielen. Ein buchstäblich grenzenloser Moralismus, der die Folgen nicht bedenkt, ist ebenso von Übel wie eine amoralische, antihumane Fremdenfeindlichkeit, die weder Anstand kennt noch die Gebote des Christentums.
Deutschland ohne Grenzen ist ein offenes Experiment
Angst ist kein guter Ratgeber, und Angstpropaganda ist schädlich. Trotzdem ist wahr: Viele Bürger haben Angst. Im Kern geht es um das Gefühl, keinen Einfluss mehr auf den Lauf der Dinge zu haben. Auf die Talkshow-Plattitüde, dass sich "dieses Land verändern" werde, reagieren viele mit dem Satz, dass sie da gerne ein demokratisches Wörtchen mitsprechen würden: Wer sind wir - und vor allem wie viele?
Sagen wir es klar heraus: Die Festung Europa ist geschleift. Nun geht es darum, wie ein faktisch grenzenloser Flüchtlingsstaat namens Deutschland in einem Europa funktionieren kann, das sich im Gegenzug mehr und mehr an seine nationalen Grenzen klammert.
Ja: Es gibt ganz praktische Grenzen auch unserer Möglichkeiten, in kürzester Zeit Millionen fremder Menschen aufzunehmen. Vielerorts scheinen sie schon erreicht, andernorts sind sie absehbar – ebenso wie massive Konflikte, die unsere freie Gesellschaft herausfordern werden.
Seien wir ehrlich: Es ist ein Experiment mit offenem Ausgang.
Reinhard Mohr, geboren 1955, ist freier Journalist. Zuvor schrieb er für "Spiegel Online" und war langjähriger Kulturredakteur des "Spiegel". Weitere journalistische Stationen waren der "Stern", "Pflasterstrand", die "tageszeitung" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung".