"Keine Schule − es ist langweilig"
Mittlerweile scheint es an der Zeit, den Staat daran zu erinnern, dass Kinder ein Schulrecht haben und die Behörden die Pflicht, Schulplätze für alle anzubieten. Schulplätze für Flüchtlingskinder, denn daran mangelt es, besonders in Berlin.
Wo früher Flugzeuge standen, spielen jetzt Flüchtlingskinder Fußball. Der stillgelegte Flughafen Tempelhof ist Berlins größte Asylbewerberunterkunft. In einem der provisorischen Zimmer sitzt der 16-jährige Eimal aus Afghanistan über einem Deutsch-Lernbuch. Seit 7 Monaten ist er hier, untätig. Eimal langweilt sich. Geht er nicht zur Schule?
"Nein, aber ich möchte in die Schule gehen. Aber keine Schule. Es ist langweilig. Es ist nicht gut. Nicht gut."
So wie ihm geht es vielen Jugendlichen im Asylbewerberheim am ehemaligen Flughafen. Maria Kipp vom privaten Heimbetreiber Tamaja hat eine aktuelle Statistik ausgedruckt, zeigt auf die Tabelle: Weniger als 10 Prozent aller Jugendlichen zwischen 16 und 18, die hier in der Notunterkunft leben, gehen momentan zur Schule. Das geht gar nicht, sagt Maria Kipp. Sie bezeichnet diese meist männlichen Jugendlichen als "Hochrisikogruppe".
"Wenn ich ein Jahr in Deutschland bin, ein Jahr in einer Notunterkunft wohne, ein Jahr unter Druck bin, ein Jahr keine Struktur habe, die mich da auffängt. Dann bin ich gefährdeter als ein Jugendlicher, der zur Schule geht, Deutsch lernt und Perspektive sieht."
Die Verlockungen der Großstadt Berlin sind groß. Wer ohne Perspektive ist, gerät schneller auf Abwege – sagt Maria Kipp:
"Wenn mir der Zugang zur Bildung fehlt, natürlich überlege ich mir dann, ob ich mit dem Herrn mitfahre, der mir sagt, ich kann für 5 Euro die Stunde in seinem Blumenladen arbeiten, dann habe ich eine Möglichkeit, Geld zu verdienen. Das Nachtleben in Berlin ist ja auch ganz toll, dann trinkt man auch mal mehr, vielleicht auch um zu vergessen, öfter, dann raucht man vielleicht auch mal einen Joint."
Im letzten Monat fehlten in Berlin 2600 Schulplätze für Flüchtlingskinder Damit verstößt das Land massiv gegen sein eigenes Schulgesetz. In der Hauptstadt gilt eine Schulpflicht für Flüchtlingskinder ab dem ersten Tag – anders als in anderen Bundesländern. Bildungsstaatsekretär Mark Rackles:
"In dem Moment, wo die auf dem deutschen Territorium sind und jemand Asyl sagt, sind die Kinder ab 6 Jahren schulpflichtig. Das Kind hat ein Schulrecht ab dem Tag 1 an."
Der SPD-Politiker verweist auf die Anstrengungen des Landes: 11.000 Flüchtlingskinder werden derzeit in Willkommensklassen beschult, 1000 Lehrkräfte wurden neu eingestellt. Dass so viele Plätze fehlten, habe auch ihn alarmiert, sagt Rackles – und verspricht Besserung.
"Das hat sich in den letzten Monaten aufgebaut. Inzwischen läuft das deutlich besser, auch das Meldewesen. Ich gehe davon aus, dass wir bis zum Sommer den größten Teil der Kinder, die schulpflichtig sind, im System haben."
Doch dann sind Sommerferien, die Schule beginnt erst wieder im September. Und bis dahin sind tausende neue Flüchtlingskinder nach Berlin gekommen, die wieder einen Schulplatz brauchen. Syrische Kinder wie Karam und Muhamad, die seit fast einem Jahr keinen Unterricht haben.
"Ich heiße Muhamad, ich 13 Jahre alt. Karam Al Harani. Ich komme aus Syrien."
Die beiden syrischen Jungs sind mit ihrem Onkel Muhamad Al Haitham über das Mittelmeer nach Deutschland geflohen. Im August kamen sie in Hamburg an, wurden dann weiterverteilt nach Berlin. Seit neun Monaten sind sie hier, ohne ein Klassenzimmer von innen gesehen zu haben.
"Everytime they told me: No place, no place."
Muhamad Al Haitham fragte immer wieder nach – wann können meine Neffen endlich zur Schule gehen? Bislang ohne Erfolg. Der 26jährige Apotheker aus dem syrischen Qaram ist frustriert.
"Wir lieben es zu lernen. Wir lieben die Wissenschaft. Weil: Dieses Leben hängt von der Wissenschaft ab. Jeder in der Gesellschaft muss lernen, um das Beste in diesem Leben zu erreichen. Wir müssen alles wissen."
Muhamad Al Haitham blickt auf sein Handy, zeigt auf neue Nachrichten aus Syrien. Die Eltern von Karam und Muhamad haben sich gemeldet. Wenn es nicht weitergeht in Deutschland, haben sie geschrieben, dann schick doch unsere Kinder zurück nach Syrien.