Flüchtlinge in Italien

Willkommen in Riace

Das Ortsschild von Riace in Kalabrien
Das Ortsschild von Riace in Kalabrien © Foto: Eberhard Schade
Von Eberhard Schade |
"Stadt der Zukunft" und "Dorf der Begegnung", so nennt sich ein kleiner Ort in Süditalien. Flüchtlinge aus Afrika, Afghanistan und Syrien geben Riace ein neues Gesicht - zur Freude der Dorfbewohner.
Karton in den gelben Sack. Plastik in den blauen. Bio-Müll in den braunen. In den schwarzen den Rest. Und ein Sack für Flaschen. Traumwandlerisch sortiert Saymon das bisschen Müll, das neben den kleinen, an jedem Hauseingang angebrachten Müllkästen steht, in die richtigen Beutel. Schlägt mit einer schnellen Handbewegung einen Knoten oben rein und trägt fünf, sechs auf einmal zur Sammelstelle direkt hinter der Kirche.
Es ist sieben Uhr morgens, das kleine kalabrische Bergdorf schläft noch. Nur ein paar alte Männer sitzen schon vor der Bar und spielen Karten. Sie grüßen Baggio, der von der Sammelstelle in die entgegengesetzte Richtung ausschwärmt und wenig später mit Müllsäcken zurückkommt.
Baggio und Saymon – der alte Kalabrier und der junge Eritreer – sind ein ulkiges Paar. Der alte Biaggio mit O-Beinen wie ein Fußballer, mit denen er sich durch die steilen Gassen arbeitet, mehr schaukelnd als gehend. Daneben der junge Saymon: dünn und drahtig, der trotz seiner klobigen Schuhe gleich mehrere Stufen auf einmal nimmt. Bleibt er stehen, fährt ihn Baggio an.
"Das ist schon in Ordnung", sagt Saymon. "Der Alte kann nicht anders, steht immer unter Strom." Saymon dagegen wirkt ruhig, müde, fast ein bisschen wie betäubt. Erledigt stoisch seinen Job. "Es ist Arbeit", sagt er. Und, dass sie ihm gut tut. Noch vor ein paar Monaten saß er in einem Auffanglager für Flüchtlinge, keine zwei Autostunden entfernt.
Jetzt hat er plötzlich ein Dach über dem Kopf und Arbeit − zumindest so lange, bis die Sache mit seinen Papieren erledigt ist. Saymon ist Teil eines Projekts der kleinen kalabrischen Gemeinde Riace, die Asylbewerbern und Flüchtlingen, die andernorts aufgrund fehlender Papiere abgeschoben werden, Wohnraum und Arbeit gibt. Als Gegenleistung helfen die Flüchtlinge den Einheimischen bei der Ernte, sanieren baufällige Häuser oder sammeln Müll.
Zwei Stunden macht Saymon das, dreimal in der Woche, unterbrochen nur von einer Zigarettenpause. In der alle Stationen seiner Flucht aus Eritrea nach Europa zu erzählen – schier unmöglich.
Saymon stammt aus Eritrea und lebt nun in Süditalien. 
Saymon hat es aus Eritrea nach Italien geschafft.© Foto: Eberhard Schade
Die Odyssee beginnt, als er 17 ist. Er wird zwangsrekrutiert. Ist vier Monate Soldat, dann läuft er weg, flüchtet in den Sudan. Dort findet er Arbeit in einer Fabrik, die Fenster und Türen herstellt. Bis die Regierung im Sudan keine Flüchtlinge mehr duldet.
Saymon gibt einem Schleuser seine ersparten 700 Dollar, damit der ihn nach Israel bringt. An der Grenze aber wird er zurückgeschickt nach Ägypten, wo ihn die Polizei schnappt, das erste Mal ins Gefängnis sperrt.
"I don't have place, just like animal ..."
Saymon kann flüchten, schafft es irgendwie durch die große Wüste. Zurück in den Sudan. Dort hat sich die politische Lage nicht so entspannt wie er gehofft hatte. Deshalb macht er sich erneut auf in Richtung Europa. Diesmal ist Libyen Endstation. Wieder ein Gefängnis. Fünf lange Jahre. Saymon zeigt auf seine Schuhe:
"Five years prison, I not outside my shoes ..."
Fünf Jahre lang zieht er die nicht aus. Weil er panische Angst hat vor willkürlichen Schlägen und Attacken im Gefängnis. Und die Chance nicht verpassen will zu fliehen.
"Now I am happy. Before life is very bastard ..."
"Heute bin ich glücklich", stottert Saymon heraus. In Libyen aber habe er sich gefühlt wie ein Hund.
Der Fischmann ist da. Für Saymon das Zeichen, dass er los muss, noch einmal zur Sammelstelle an der Kirche, den Müll aufladen und dann durch den mittelalterlichen Torbogen runter ins Tal. Bis zur Mittagspause soll er dort noch helfen beim Heu einfahren.
Die Scheune steht am Fuße eines 50 Meter hohen Dorfhangs, auf dem fein säuberlich Terrassen angelegt wurden. Orangen, Pfirsich- und Maulbeerbäume wachsen hier. Und schon bald sollen sich zum Dorfesel noch Kühe und Schweine gesellen, weil Riace Milch und Wurst produzieren will, um die in den benachbarten Dörfern zu verkaufen.
Riace profitiert vom Flüchtlingsprojekt, Riace putzt sich raus. Der kleine Ort mit den drei Kirchen und knapp 1300 Einwohnern, in den sich kaum ein Tourist verirrt, will mehr Besucher anlocken, die am Ende ein bisschen Geld hier lassen. Im Verkaufsladen der Glaswerkstatt oder der Weberei. Beim Bäcker oder im Restaurant.
Der Mann, der Saymon jetzt sagt, was er zu tun hat, ist Barham Acar, ein Kurde. Vor 15 Jahren selbst mit einem Schiff an der Küste gestrandet, findet Barham im kalabrischen Hinterland einen Job auf dem Bau, gründet eine Familie, nimmt schließlich die italienische Staatsbürgerschaft an. Und bleibt. Heute hilft er im Ort den Neuankömmlingen.
Zusammen mit seinem Freund, dem Bürgermeister, hat er die Idee für das Eingliederungsprojekt. Beide gründen zusammen den Verein mit dem schönen Namen "Città Futura" – Stadt der Zukunft.
Der Verein gehört zu einem Schutzprogramm für Flüchtlinge, das vom italienischen Innenministerium finanziert wird. Und ohne den Verein würde es Geschichten wie die von Saymon in Riace gar nicht geben.
Oder die von Tahira, der Afghanin. Die in der kleinen Stickerei sitzt, umgeben von einem deckenhohen Regal voller Topflappen, Geschirrtücher und Tischdecken. Tahira guckt bei der Arbeit entweder auf den gefliesten Boden oder auf das Stück Ginsterstoff, in das sie gerade ein Kreuzmuster einarbeitet.
Wenn die 38-Jährige spricht, dann flüstert sie. Neben ihr: Catarina. Kalabrierin. Laut, offen, hilfsbereit. Sofort springt sie Tahira bei:
"Natürlich hat es anfangs sprachliche Probleme gegeben, aber das hat sich mit der Zeit gelegt, weil Tahira ja auch einen Sprachkurs besucht. Peu à peu habe ich ihr das Sticken beigebracht, mittlerweile klappt auch das ganz prima."
Beide sitzen schon ein paar Monate so nebeneinander. Sticken, reden, hören einander zu. Caterina spürt, sagt sie, wie gut Tahira die Ruhe in Riace tut, auch wenn sie sie manchmal fast zerreißt. Zusammen mit ihrem Mann und ihren Kindern ist sie vor den Taliban geflohen, musste alles zurücklassen. Auf der Flucht dann wird sie von ihrem Mann getrennt. Zuletzt hat der sich vor acht Wochen bei Tahira gemeldet, aus einem Auffanglager in der Türkei. Seitdem hat sie nichts mehr von ihm gehört.
Caterina glaubt, dass sie schon allein durchs Zuhören der Afghanin helfen kann. Und sie hat das Gefühl, dass Tahira umgekehrt auch ihr Leben bereichert:
"Wir teilen eigentlich alles, nicht nur die Arbeit. Wir besuchen uns, unsere Kinder spielen miteinander. Es ist einfach eine Erweiterung des Freundeskreises. Manchmal fragt sie mich auch: Caterina, wie bereitet man dies oder jenes zu und dann zeige ich es ihr. Und sie bringt mir ein Rezept aus ihrer Heimat bei. Ich weiß gar nicht mehr, wie es heißt, aber noch genau, wie es gemacht wird. So eine Art Gemüseröllchen mit Peperoncino."
In der Werkstatt gegenüber, einer Weberei, herrscht kurz vor Mittag Hochbetrieb. Vier Kalabrier und drei Flüchtlinge versuchen einen riesigen Webrahmen aufzubauen. Das Ganze hat slapstickhafte Züge. Mittendrin steht Domenico Lucano, der Bürgermeister von Riace. In Jeans, Sandalen und Poloshirt.
Schon bald werden wir wieder 50 Flüchtlinge in Riace haben, sagt er, so viele wie lange nicht mehr. Denn: Italien ächzt. Über 60.000 Bootsflüchtlinge sind allein schon in diesem Jahr an den Küsten gestrandet. Frauen, Männer, Kinder. Aus Schwarzafrika, aus Ägypten, aus Syrien. Armutsflüchtlinge, Kriegsflüchtlinge, politische Flüchtlinge.
Wer wohin geschickt wird, steuert Rom. Doch manchmal hilft Lucano ein bisschen nach. So wie bei Saymons Freundin Katici. Bei ihr hat er einfach behauptet, sie sei verwandt mit Saymon – und alle im Ort haben die kleine Lüge gedeckt.
Katici verdient in der Weberei 500 Euro im Monat, Saymon mit seinen Jobs beim Verein sogar 900.
Lucano: "Im Norden Italiens würde man ihnen mit sehr viel Skepsis begegnen. Hier dagegen arbeiten sie eigenverantwortlich mit und haben am Ende des Monats noch Geld übrig, das sie nach Hause, nach Afrika schicken können. Ein echtes Glückslos."
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Domenico Lucano, der Bürgermeister von Riace © Foto: Eberhard Schade
Angefangen hat alles, als das Boot mit Barham und 216 weiteren kurdischen Flüchtlingen in Riace strandet. Lucano ist damals noch Lehrer, mit ersten Ambitionen in der Politik. Politisch links zu stehen, sagt er, hat für mich schon immer bedeutet, mich um die Schwächsten zu kümmern. Statt mitanzusehen, wie die Flüchtlinge in eines der Auffanglager verfrachtet werden, bietet er ihnen Häuser an:
"Dass ausgerechnet hier, an einem Ort, an dem einige Leute an eine soziale Utopie glauben, damals das Segelschiff strandete – ich weiß nicht: vielleicht war es so etwas wie eine Fügung. Jedenfalls ist mit der Strandung ein Experiment gestartet. Der Ort war damals dabei, ein Geisterort zu werden – heute ist es ein Ort der Begegnung. Ein Ort, in dem immer Leute kommen und gehen."
Vor allem die jungen Leute zieht es damals weg. In den Norden, in die Industriestädte Turin, Genua und Mailand, dorthin, wo es Arbeit gibt.
Das Problem war die Abwanderung. Die Flüchtlinge waren die Lösung. Und Lucano – mittlerweile Bürgermeister – sah, wie sie seine Heimat belebten. Sein Verein nahm damals ein Darlehen auf, um baufällige Häuser wieder herzurichten und den Flüchtlingen für ihre Arbeit Löhne zu zahlen. Heute ist "Città Futura" der größte Arbeitgeber im Ort.
Es gibt vier kleine Kunsthandwerksbetriebe und eine Schule, die nur dank der Kinder der Einwanderer nicht geschlossen werden musste. Und so zynisch es klingt: Am Nachschub von Flüchtlingen fehlt es nicht.
Die kalabrische Regierung hat Lucano mittlerweile eine Sondergenehmigung für die unbürokratische Aufnahme von Flüchtlingen gegeben. Wohl auch, weil sich das Ganze für beide Seiten rechnet. Denn die Unterbringung eines Flüchtlings in einem Auffanglager kostet den Staat etwa 55 Euro pro Person und Tag. Riace dagegen kommt für jeden Migranten mit nur halb so viel Geld aus Rom aus.
"Dorf der Begegnung" steht auf dem Ortsschild der kleinen Gemeinde. Flüchtlinge und Einheimische begegnen sich aber – außer in den Werkstätten – so gut wie gar nicht. Morgens, mittags, abends: immer das gleiche Bild. Die einen hier, die anderen dort. Haben die Bewohner Riaces vielleicht Angst vor den Fremden? "Nein", sagt Lucano:
"Als allererstes kommt da doch ein Mensch! Und warum soll ein Mensch vor einem anderen Menschen Angst haben? Wenn jemand Angst vor einem andern Menschen hat, dann handelt es sich eher um eine psychologische Störung, die er bei sich selbst suchen sollte."
12. Uhr mittags. Die Flüchtlinge sind auf dem Weg in ihre Pause, nicken den Alten in der Bar zu. Die spielen weiter Karten. Auch Saymon kommt vorbei, sein T-Shirt ist voller Heu.
Seine Zwei-Zimmer Wohnung, die er sich mit seiner Freundin teilt, ist einfach eingerichtet. Bett, Nachttisch, ein großer Spiegelschrank oben, Gasofen, kleine Küche und Couch unten.
Saymon holt als erstes Fisch aus dem Gefrierfach, legt ihn in die Spüle zum Auftauen. Schaltet dann den Fernseher an, ohne Ton. Zieht sein T-Shirt aus und lässt sich aufs Sofa fallen. Im Fernsehen läuft Dick & Doof.
Neben dem Fernseher liegt eine Cortisonsalbe. "Im Auffanglager war mein Kopf voller Angst und das macht etwas mit meinem Auge", erklärt Saymon. Wenn es ganz schlimm ist, wird es rot und schwillt an wie ein Tennisball. Nachdem ihn Lucano aber dreimal ins Krankenhaus gefahren hat, ist alles wieder gut.
Von seinem kleinen Balkon kann Saymon das Meer sehen. Da ist er rüber, mit 90 anderen Bootsflüchtlingen. 71 sind auf der Überfahrt ertrunken oder erstickt. Saymon aber überlebt.
Nach zehn Jahren auf der Flucht erreicht er im November 2013 endlich sein langersehntes Ziel: Europa. Und der italienische Staat sperrt ihn als erstes wieder weg. In ein Auffanglager, zusammen mit 6000 anderen Flüchtlingen. Wie ein Tier.
Saymon ist am Ende seiner Kräfte. Er ruft seinen Freund an, den die Behörden nach Riace geschickt haben. "Komm hierher", sagt der, "hier ist alles besser".
Von seinem Lohn schickt er mal 200, mal 600 Euro nach Eritrea. Zu seiner Mutter, seine Schwester und zu einem Freund. Das geht, solange er auf die Bearbeitung seines Asylantrages wartet, er Teil des Flüchtlingsprojekts in Riace ist. Er umsonst wohnt, keine Miete, keinen Strom zahlen muss. Was danach kommt, er weiß es nicht. Saymon weiß nur, dass er dahin gehen wird, wo Arbeit ist. Und es in Italien momentan keine Jobs gibt.
"Now I am not finished paper. After I finished paper – new life ..."
Der Palazzo Pinarro liegt nur einen Steinwurf von Saymons Wohnung entfernt. Im ersten Stock sitzt der Verein, der den Flüchtlingen hilft. Dort hat auch der Bürgermeister sein Büro. An der Tür hängt ein Schild mit der Aufschrift „Ich empfange zu jeder Tageszeit", an einer Wand ein mit Buntstift gemaltes Che-Guevara-Porträt und das Plakat eines Kurzfilms von Wim Wenders über die "Città Futura".
Lucano ist nicht da, wieder mal auf Achse. Morgen Abend ist im Rathaus eine kleine Feier anlässlich seiner dritten Wiederwahl. Da ist noch dies und das vorzubereiten.
Im Raum nebenan ist mehr los. Vormittags gehen die Kinder der Flüchtlinge in die Pflichtschule, nachmittags kommen sie zu Elena ins Vereinshaus. Sie hilft ihnen bei den Schularbeiten.
Heute aber haben sie überhaupt keine Lust. Es ist der letzte Schultag, morgen gibt es Ferien. Tómas, Iljas, Mohammed und Gloria wollen jetzt nicht lesen oder schreiben üben. Also bindet Elena den Reporter mit ein. Ihm sollen sie jetzt beweisen, wie gut sie schon Italienisch sprechen. Sich kurz vorstellen. Sagen, wo sie herkommen und seit wann sie schon hier sind. Bühne frei.
Neben der kleinen Gloria, die ihre Zöpfe immer wieder zurückwirft, sitzt Mohammed aus Somalia mit seinen vier Geschwistern. Seine Familie ist schon drei Jahre in Riace, der Vater arbeitet als Übersetzer im Verein. Mohammeds Schwestern möchten, wenn sie groß sind, genau wie Gloria Ärztin werden, die Jungs Fußballer.
Dass alle Kinder in dem bunten Klassenzimmer zum Teil traumatische Flucht-Erlebnisse hinter sich haben, merkt man ihnen auf den ersten Blick nicht an. Und ihre Profesoressa würde auch nie auf die Idee kommen, sie danach zu fragen:
"Nein, niemals. Sehr viele von ihnen haben Schreckliches hinter sich und das will ich nicht auch noch aufwühlen. Und außerdem wissen bereits die Kinder, dass es sich bei ihrem Aufenthalt hier meist nur um eine Etappe handelt, Riace nur eine Station ist auf ihrer oft langen Reise."
Und auf der will Elena ihnen viel beibringen, vor allem die Sprache. Mindestens genauso wichtig aber findet sie, dass sie hier Spaß haben und einfach mal Kind sein können:
"Mit den Eltern habe ich nicht so viel zu tun, mit den Kindern aber – natürlich! Die laufen mir hinterher wie dem Rattenfänger von Hameln. Sie schauen Filme bei mir, fragen, ob ich ihnen Popcorn dazu machen kann. Da spiele ich dann gern mal die zweite Mama."
Der Bürgermeister ist zurück. Lucano ist immer wieder erstaunt über das Interesse an seinem „kleinen Projekt", sagt er bescheiden. In Wahrheit aber platzt er fast vor Stolz. Er, der Bürgermeister eines kleinen Dorfes, zeigt der Welt im Kleinen, wie Europa auch sein könnte. In Internetforen wurde er schon als Kandidat für den alternativen Nobelpreis gehandelt. Und dann kommt da auch noch dieser berühmte Regisseur aus Deutschland und setzt ihm mit seinem Kurzfilm ein Denkmal.
Der liegt natürlich auf der Festplatte seines Laptops. Lucano startet ihn. Wim Wenders wollte in Kalabrien eigentlich einen fiktiven Kurzfilm über Migranten drehen. In Riace aber holt ihn die Realität ein. Er begegnet einem Flüchtlingsjungen aus Afghanistan – der Film erzählt seine Geschichte.
An einer Stelle führt Wenders ein Interview mit Lucano, nennt ihn mutig und visionär. Lucano lässt die Passage laufen – ohne sie zu kommentieren. Später erzählt er dann, dass er noch heute eine Gänsehaut bekommt, wenn er an Wenders' Worte anlässlich des 20. Jahrestags des Mauerfalls denkt. "Die wahre Utopie ist nicht der Fall der Mauer", sagt Wenders da, "sondern das Zusammenleben der Menschen in Riace."
Manchmal trägt der Film ganz schön dick auf, romantisiert das Zusammenleben im Dorf. Das spürt wohl auch der Bürgermeister. Und warnt draußen vor der Tür davor, dass die Geschichte, die wie eine Wolke, wie eine Sternschnuppe über Riace gekommen ist, auch ganz schnell weiterziehen könnte.
Das ist sie längst. Zwei Nachbardörfer nehmen nun ebenfalls Flüchtlinge auf. Aber auch hier leben Dorfbewohner und Flüchtlinge, wenn auch friedlich nebeneinander, nicht wirklich miteinander.
Das zumindest erzählt ein Freund von Saymon, der am nächsten Abend nach Riace kommt. Er ist gar nicht gut auf Lucano zu sprechen, der geschmückt mit einer Schärpe in den Farben der italienischen Trikolore wie ein kalabrischer Hahn inmitten einer Traube von Menschen vor dem Rathaus steht.
Früher war Saymons Freund auch Teil des Projekts in Riace. Seitdem er aber seine Papiere hat, steht er auf der Straße ohne jegliche staatliche Unterstützung. Und sucht händeringend Arbeit, die es in der Region nicht gibt. Das ist die Kehrseite des Projekts: Wer Papiere hat, muss weiterziehen.
Die beiden Afrikaner sitzen am Abend der Zeremonie im Rathaus an der äußersten Ecke des davor gelegenen Spielplatzes. "So ist es jeden Abend", sagt Saymon und hebelt mit einem Feuerzeug eine Flasche Bier auf. "Die dort, wir hier. Nach all den Jahren haben sie mit uns noch immer ein Problem."
Würde Saymon jetzt aufstehen, sich neben einen jungen Italiener setzen – er ist sich ganz sicher: der würde aufstehen und weggehen.
"Wir hören es doch jeden Tag", sagt er, "wie sie es Lucano sagen. Wir wollen keine Schwarzen, keine Flüchtlinge hier." Dabei sind sie es doch die Flüchtlinge, die im Dorf den Müll wegräumen. Das Heu stapeln. Und die Häuser reparieren. Saymon nimmt einen Schluck aus der Flasche. Er möchte einfach nur Arbeit und Ruhe. Und vielleicht irgendwann am Wochenende mal runter an den Strand fahren zum Baden.
Seit acht Monaten lebt er jetzt in Riace. Ans Meer ist er seitdem nicht mehr zurückgegangen.
Eberhard Schade: "Anfangs dachte ich: Wie einfach es doch sein kann, Flüchtlingen zu helfen, wenn man nur will. Nach drei Tagen dann wurde mir klar: Selbst der Ort, an dem Flüchtlinge willkommen sind, wird am Ende doch nur wieder zu einer weiteren Etappe auf ihrer oft langen Odyssee."
Eberhard Schade
Eberhard Schade© Foto: privat
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