Flüchtlinge in Ungarn

"Die Regierung schürt Angst und Abneigung"

Hunderte Flüchtlinge laufen bei Budapest über eine Autobahn in Richtung der österreichischen Grenze.
Nur weg aus Budapest: Hunderte Flüchtlinge machten sich zu Fuß Richtung Österreich auf © dpa / Boris Roessler
Rudolf Ungvary im Gespräch mit Ute Welty |
Der ungarische Schriftsteller Rudolf Ungvary erhebt schwere Vorwürfe gegen die Regierung in Budapest: Diese führe das Flüchtlingschaos im Land bewusst herbei. Asylsuchende seien Geiseln eines politischen Ränkespiels.
Die ungarische Regierung schürt nach Auffassung Rudolf Ungvarys "auf Schritt und Tritt" Angst und Abneigung gegenüber Asylsuchenden. Die Mehrheit der Bevölkerung sei so eingestellt, dass sie "automatisch" zu bangen beginne, wenn sie zu viele Flüchtlinge sehe. Sie glaube, was auf Plakaten und im Fernsehen verbreitet werde - dass Asylsuchende Arbeit wegnähmen, Unruhe stifteten und Epidemien verbreiteten.
"Aber es genügt zu sehen, wie diese Leute in Ungarn hin und her getrieben (werden) in Massen - das wirkt beängstigend", sagt Ungvary. "Diese Regierung will niemanden integrieren." Sie strebe "eine Art Alleinherrschaft" an und missbrauche Asylsuchende als Geiseln eines politischen Ränkespiels. Sogar Fälle wie jüngst der Tod von 71 Flüchtlingen in einem Kühlwagen kommen nach Überzeugung des Schriftstellers der Regierung zugute: "Sie zeigen einfach nur die Gefahrsituation."
Natürlich gingen Bilder wie das des toten syrischen Jungen am Strand nicht spurlos an den Menschen vorbei, so Ungvary. Der gesunde Menschenverstand reagiere mit Empörung. Aber diejenigen, die sich tatsächlich für Flüchtlinge in Ungarn einsetzten, seien in der Minderheit: "Die Mehrheit der Bevölkerung befindet sich irgendwo in einer Art Schweigezustand."

Das vollständige Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Flüchtlinge, die rund um den Budapester Bahnhof Keleti kampieren, Flüchtlinge, die sich seit Tagen weigern, einen Zug zu verlassen, der etwa 40 Kilometer vor der ungarischen Hauptstadt entfernt gestoppt wurde, und Flüchtlinge, die sich zu Fuß auf der Autobahn in Richtung österreichische Grenze aufmachen. Das Brennglas, unter dem wir diese Krise zu betrachten haben, scheint ein ungarisches zu sein – oder vielleicht doch ein globales? Adelheid Wedel hat sich eingelesen.
Bildung und Integration, das sind die Stichworte, über die ich jetzt auch mit dem ungarischen Schriftsteller Rudolf Ungvary sprechen kann, denn in und mit Ungarn eskaliert immer wieder die Situation. Der ungarische Mnisterpräsident Orbán gehört unter EU-Kollegen mindestens zu den Hardlinern, und dann neigt man von außen schon dazu, mit dem Finger auf Ungarn und seine Politik zu zeigen. Wie die Ungarn das selbst sehen, darüber kann uns Auskunft geben eben der ungarische Schriftsteller und Publizist Rudolf Ungvary. Guten Morgen nach Budapest.
Rudolf Ungvary: Guten Morgen!
Welty: Herr Ungvary, sind Sie in den letzten Tagen Bahn gefahren? Ich frage das deshalb, weil die komprimierten Fernsehbilder hier oft ein sehr unterschiedliches Bild abgeben von dem, was Sie vor Ort erleben.
Ungvary: Ja, diese Bilder entsprechen der ungarischen Wirklichkeit heute.
Eine Nationalregierung, die außer politische Kontrolle geraten ist
Welty: Das heißt?
Ungvary: Das heißt eigentlich, was aus diesen Bildern strömt, dass die Zigtausenden von Flüchtlingen im Grunde genommen in Ungarn als Ball einer immer mehr außer politischer Kontrolle geratenen Nationalregierung missbraucht werden. Und das Chaos, das man diesbezüglich in Ungarn sieht, ist eine durch die Regierung bewusst geschürte Situation.
Welty: Geht diese Rechnung denn auf, die Sie da für den ungarischen Ministerpräsidenten Orbán aufmachen?
Ungvary: Auf alle Fälle kann sie sehr leicht aufgehen, nämlich die Mehrheit der Bevölkerung ist so eingestellt, dass sie automatisch zu bangen beginnt, wenn sie zu viele Flüchtlinge sehen. Und diese Regierung, die der engste Parteifreund von Angela Merkel in der Fraktion der Europäischen Volkspartei ist, schürt auf Schritt und Tritt durch Plakate und Fernsehauftritte Angst und Abneigung vor und gegen die Asylanten. Das wirkt letztlich sicher auf die Bevölkerung.
Die Mehrheit glaubt, was auf Plakaten über Flüchtlinge verbreitet wird
Welty: Was genau wird da in der Werbung oder in den Fernsehauftritten, auf Plakaten et cetera, was wird da vermittelt?
Ungvary: Es wird natürlich lauter Blödsinn gesagt, aber dieser Blödsinn – eine Mehrheit, die nicht genügend orientiert ist, ist Käufer dieser Sachen, dass diese die Arbeit wegnehmen, dass diese Leute Unruhe stiften, dass diese Leute Epidemien verbreiten und so weiter. Aber es genügt, wie gesagt, zu sehen, wie diese Leute in Ungarn hin- und hergetrieben werden in großen Massen. Das wirkt beängstigend.
Welty: Das heißt, von den Stichworten, die ich gerade genannt habe, nämlich Bildung und Integration, sind Sie Ihrer Meinung nach in Ungarn weit entfernt?
Ungvary: Ja, davon ist gar keine Rede. Diese Regierung will niemanden integrieren. Diese Regierung will eine Art Alleinherrschaft ausüben, und die Asylanten - die sind nur gut als Geisel eines politischen Ränkespiels. Sie werden nie gewillt sein, diese Flüchtlinge aufzunehmen.
Die rechte Seite führt eine rassistische Hetzkampagne
Welty: Aus Ungarn kam ja auch jener Kühlwagen, in dem 71 Menschen auf der Flucht erstickt sind. Hat das die öffentliche Diskussion in irgendeiner Weise bewegt? Oder eben auch das Bild des kleinen syrischen Jungen, der ertrunken sind. Das sind ja Geschehnisse, das sind Bilder, die eigentlich jeden treffen. Geht das an der ungarischen Gesellschaft so spurlos vorbei?
Ungvary: An der Oberfläche geht das natürlich nicht spurlos vorbei, und der normale Menschenverstand reagiert natürlich mit Empörung. Aber diejenigen, die diesbezüglich für die Flüchtlinge auftreten - es sind welche - diejenigen befinden sich aber in der Minderheit. Und die Mehrheit der Bevölkerung befindet sich irgendwo in einer Art Schweigezustand.
Und diese Fälle mit den Schleppern und mit ihrer Gewissenlosigkeit, gerade diese Fälle kommen ebenfalls gut dieser Regierung: Sie zeigen nämlich einfach nur die Gefahrensituation. Eine sehr große Gefahrensituation, das ist der Eindruck dann. Und da von der äußersten rechten Seite eine ganz offene rassistische Hetzkampagne läuft und selbst die Regierung ebenfalls, wie gesagt, den Unmut schürt - das bewirkt letztlich das, worauf die Regierung zielt: dass die Bevölkerung sich langsam, aber sicher von den Flüchtlingen abwenden wird.
Welty: Kritik an Orbán kommt aus Deutschland, wenn auch sehr vorsichtig, Unterstützung für ihn aus Polen, Tschechien und der Slowakei. Inwieweit stärkt das Orbáns innenpolitische Situation noch zusätzlich?
Ungvary: Natürlich, das hilft ihm. Und diese Länder, die sind ja jetzt sogenannte "Frontländer" geworden. Die Migranten kommen nämlich zuerst in diese Staaten, und sie müssten die wichtigsten organisatorischen und administrativen und humanitären Arbeiten leisten. Und die Politiker in der Slowakei und in der Tschechei sind auf alle Fälle nationalistische Politiker, wenn auch nicht in diesem Maße verbohrt und verborgen faschistoid wie der Orbán. Und diese Leute versuchen sich ebenfalls irgendwie zu stemmen.
Welty: Der ungarische Blick auf die Flüchtlingskrise zusammen mit dem ungarischen Schriftsteller Rudolf Ungvary. Ich danke Ihnen sehr!
Ungvary: Gern geschehen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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