Unter Tränen durchs Chaos
Die ungarische Regierung lässt an der Südgrenze des Landes einen 175 Kilometer langen Zaun aufbauen. Flüchtlinge, die dennoch nach Ungarn gelangen, wollen schnell weiter, zu schlecht sind die Bedingungen für sie. Wer ihnen helfen will, riskiert, von Rechtsextremen attackiert zu werden. Einblicke in das Flüchtlingschaos.
Samstagmorgen Anfang August, Bahnhof Budapest Nyugati. Mitten in dem Gewusel vor dem Bahnhof sitzen auf den Treppen Familien in bunten Kleidern, ihre Kinder liegen auf Decken. Es sind Afghanen und Syrer.
Kinan, Syrer: "Train station Germany?"
Autorin: "Train station Germany from here? No."
Kinan, Syrer: "No? But my brother and sister women in Germany."
Autorin: "The problem is, no paper, no Germany."
Autorin: "Train station Germany from here? No."
Kinan, Syrer: "No? But my brother and sister women in Germany."
Autorin: "The problem is, no paper, no Germany."
Kinan, jung und sportlich-schlank, versucht einer ungarischen Helferin mit Händen und Füßen zu erklären, dass er nach Deutschland zu seinem Bruder fahren möchte. Kinan kommt aus Syrien, sein Haus in Aleppo wurde zerbombt.
"You have to go to Vámosszabadi camp!"
Kinan, Syrer: "No camp."
Nur 4000 bis 6000 Flüchtlinge leben offiziell in Ungarn
Kinan, seine verängstigte Frau und die beiden Töchter wurden von der Polizei aufgegriffen und von der Einwanderungsbehörde in ein Flüchtlingslager im Westen Ungarns geschickt. Das ist gut, versucht die Helferin zu erklären, weil die österreichische Grenze nah ist. Nur fünf bis zehn Prozent der einreisenden Flüchtlinge erscheinen überhaupt in den ungarischen Lagern, denen sie zugeteilt werden. Die meisten reisen weiter: nach Österreich, Deutschland, Schweden. Aber auch die, die in Ungarn bleiben wollen, finden ihren Weg nicht. Informationen gibt es nur spärlich und nur auf Ungarisch. Ergebnis: Nur 4000 bis 6000 Flüchtlinge halten sich derzeit offiziell in Ungarn auf.
Kinan hat einen syrischen Pass – und Angst, dass dieser ihm im Flüchtlingslager weggenommen werden könnte. Kata, eine freiwillige Helferin, will ihn auf Englisch beruhigen, er versteht sie aber nicht:
Kata, Helferin: "What is your language? Arabic?"
Kinan, Syrer: "Arabisch."
Kata, Helferin: "I have a translator in phone, OK?"
Kata, freiwillige Helferin um die 25, ist seit früh um halb sechs im Einsatz. Seit einem Monat hilft sie am Nyugati Bahnhof den Flüchtlingen bei der Orientierung. Viele wissen nicht einmal, wo sie sind. Migration Aid heißt die Facebook Gruppe, bei der sie mitmacht - eine von vielen spontanen Bürgerinitiativen, die der abweisenden Politik der Regierung etwas entgegensetzen, indem sie Hilfe anbieten. Kata sucht jetzt über das Portal nach einem arabischsprachigen Helfer – wenige Minuten später hält sie Kinan ihr Handy ans Ohr.
Kinan, Syrer: "Hallo Salem Alejkum."
Ein alter Mann kommt vorbei, er spendet zehn Fahrscheine, damit die Flüchtlinge von einem Bahnhof zum anderen kommen. Er ist selbst arm, aber er will helfen.
"Die wollen bloß keinen Wehrdienst leisten!"
Nachdem sie an der Grenze erfasst wurden, verteilt Ungarns Einwanderungsbehörde nur eine schlechte Skizze des Landes. Danach fahren die meisten nach Budapest. Dort gibt es keine Bleibe für sie, deshalb campen sie auf Spielplätzen, in Parks oder direkt vor dem Bahnhof wie Kinan und seine Familie. Menschenhändler und Schlepper lungern dort herum und bieten ihre Dienste gegen viel Geld an.
Ein Sicherheitsmann von der Bahn kommt vorbei und schimpft. Er ist groß, verschwitzt, sein Gesicht rot.
MItarbeiter vom Bahnsicherheitsdienst: "Sie scheißen und pissen hier hinter dem Bahnhof. Das ist Tatsache. Man sollte sie doch irgendwo hinbringen, wo sie sich waschen können! Sie haben doch viel Geld! Solche Handys! Das sind doch keine Flüchtlinge, die mehrere 100 Kilometer gelaufen sind! Die laufen doch nicht vorm Staat weg, die wollen bloß keinen Wehrdienst leisten! Ich habe kein Problem mit ihnen, aber ich arbeite wie ein Hund und könnte meinen Kindern nie solche Reisen zahlen. Zuerst sollten die Ungarn gute Arbeitsmöglichkeiten bekommen."
Solche Töne sind verbreitet in Ungarn – die Politik schürt den Hass. Wollen Sie lieber, dass Flüchtlingen geholfen wird oder ungarischen Familien und ihren Kindern? Solche Fragen wurden jüngst bei einer nationalen Umfrage gestellt.
Neuer Zaun an alter Grenze
Um die Bahnhöfe von den campenden Flüchtlingen zu entlasten, sollen nun drei Auffanglager in Budapest eingerichtet werden. Gleichzeitig wird die Grenze mit einem 175 Kilometer langen Zaun gesichert.
Die freiwilligen Helfer am Bahnhof Nyugati und anderswo leben gefährlich. Rechtsextreme jagen sie im Internet und verbreiten deren Fotos und Namen. Eine Frau um die 50, die wie Kata am Bahnhof hilft, erzählt aus Erfahrung.
Helferin: "Eines Morgens saßen afghanische Familien hier, da rannten fünf, sechs Typen aus der Tram hierher, kahlköpfig, in weißen Hemden und schwarzen Hosen, ballten die Fäuste und hauten auf einen Afghanen los. Ich rief um Hilfe, dieser Sicherheitsmann von der Bahn stand hier rum und rührte sich nicht. Er sagte, hilf du dir selber, wenn du denen da helfen willst."
Der Syrer Kinan und seine Familie sollen keinesfalls am Bahnhof Nyugati bleiben, denn hier sind sie in Gefahr. Die Helferin Kata wird sie mit den Tickets des alten Mannes zum anderen Bahnhof begleiten, von wo sie ins Flüchtlingscamp Vámosszabadi fahren können – in der Hoffnung, bald legal nach Deutschland einreisen zu dürfen.
Kinan: "Train?"
Kata: "Metro. So we take metro."
Kata: "Metro. So we take metro."
Der Syrer Kinan sitzt neben seiner Frau auf der Treppe des Nyugati Bahnhofs, die Töchter kuscheln sich auf ihren Schoß. Tränen rollen über sein Gesicht.