Kaltstart im Klassenzimmer
Sie kommen aus Syrien, aus Afrika, aus dem Irak und werden in Deutschland in eine unbekannte Welt gestoßen: Junge Flüchtlinge, die gezwungen wurden, zusammen mit ihren Familien ihre Heimatländer zu verlassen. In Deutschland müssen sie im Schnellverfahren Deutsch lernen, um integriert werden zu können - eine nahezu unlösbare Aufgabe.
"Hast du eine Freundin – und wenn ja, erzähl uns mal etwas über sie!" - "Sie heißt Samira, sie wohnt in Syrien, sie ist 14 Jahre alt..."
Drei Tische zu einem Quadrat zusammengeschoben sitzen zwei Mädchen und vier Jungs dicht an dicht mit ihrer Lehrerin. Auf dem Lehrplan: Freies Sprechen.
"Hast du denn in Deutschland auch schon eine Freundin gefunden?" – "Ich hab eine Freundin, ja und sie heißt Anne, wir sind in einer Klasse. Und äh...sie ist 14 Jahre alt und sie mag kein Sport." – "Nein?" – "Nein..."
Satz für Satz kommt Ayat ihrem großen Ziel näher: dem Deutschen Sprachdiplom. Das braucht sie, denn sie will Abitur machen, studieren, Pharmazeutin werden. Jeden Donnerstagnachmittag kämpft sich das Mädchen mit dem weißen Kopftuch und der knielangen, blauen Strickjacke dafür durch den Deutsch-Förderunterricht. In einem schlichten Betonbau in Berlin-Lichtenberg. Zwischen hellgrünen Wänden, die Heizung wohl noch aus DDR-Zeiten.
"Wir haben jetzt Ayat zugehört. Wie schätzt ihr das ein? Ist der Prüfer mit ihr zufrieden, oder? Florian?" - "Das war gut..."
"Wir haben jetzt Ayat zugehört. Wie schätzt ihr das ein? Ist der Prüfer mit ihr zufrieden, oder? Florian?" - "Das war gut..."
Ayat lächelt, auch ein bisschen Stolz mischt sich hinein. Deutsch hat sie vor anderthalb Jahren zum ersten Mal gehört. Ihre Heimatstadt ist Damaskus, ihre Muttersprache Arabisch. Erst seit Sommer 2012 lebt sie in Berlin.
"Am Donnerstag ich stehe um 6 Uhr 45 Minuten auf..."
Pasa aus dem Iran sitzt neben seinem Zwillingsbruder Paham. An Ayats rechter Seite: Liana aus dem Kaukasus, gegenüber Florian aus dem Kosovo, Ali aus Bangladesch. Die einen schon fast erwachsen, 16, 17 Jahre alt. Die anderen noch Kinder mit pausbäckigen Gesichtern.
Ihre Heimatländer zwangen sie, sie zu verlassen
"Welche Fächer hast du?" – "Ich habe am Donnerstag Deutsch und Mathe..."
Hinter Pasa an der Wand: eine Landkarte. Bunte Nadeln zeigen, woher all die Schüler dieser Schule kommen. Auch aus dem Irak, aus Gambia und aus Afghanistan. Aus Ländern, die Menschen dazu zwingen, ihre Heimat zu verlassen.
"Wo hast du in Russland genau gewohnt?" – "Im Kaukasus, in Nalchik, kleine Stadt in Gebirge..."
Liana ist dran. Ein blaues Kopftuch umrahmt ihr blasses Gesicht. Ihre Schwester ist zuckerkrank, das Insulin in Russland zu teuer. Deshalb kommt sie gemeinsam mit zwei Geschwistern und ihrer Mutter nach Deutschland.
"Stell deine Frage, ist okay." – "Warum kommst du? Nur deine Schwester krank? Ich hab gehört in Kaukasus gibt Krieg." - "Ja." – "Und warum hat dein Papa und dein Bruder nicht hier gekommen?" – "Also ich wollte nicht über das Thema reden." - "Gut. Ist okay, alles ist in Ordnung. Dann war das genau das Falsche."
Ihre Lehrerin lenkt das Gespräch zu harmlosen Themen: Dagmar Hafemeister. Etwa Ende 50, kurze graue Haare, ungeschminkt. Hafemeister kennt viele ihrer Geschichten - schöne und nicht so schöne. Sie begleitet Ayat und Liana schon seit Sommer 2012, bei ihren ersten Schritten in der für sie so neuen Sprache. Und jetzt in Vorbereitung auf das Sprachdiplom.
"Wenn man sie so hört, sie sprechen ein sehr ordentliches Deutsch, grammatikalisch, finde ich. Was sie sprechen, fand ich, hört sich schon richtig gut an. Und wenn man dann merkt: Das haben sie bei uns gelernt! Ach, das ist so schön!"
"Ich heiße Aziz..."
Dasselbe Klassenzimmer im September vor anderthalb Jahren. Ayats Weg vom schüchternen Mädchen, das so gut wie kein Wort Deutsch versteht, beginnt genau hier: Im grau-grünen Betonbau in Berlin-Lichtenberg. Ayat sitzt etwas weiter hinten. Begrüßungsrunde.
"Ich heiße Ayat, äh, ich wurde in Syrien geboren, meine Schule steht in Berlin." – "Richtig. Wie alt bist du?"
Hilfesuchend dreht sich Ayat zu ihrer großen Schwester Alaa neben ihr. Doch die – wie sie mit dunklem Kopftuch - zuckt nur mit den Schultern.
"...ich bin 50 Jahre alt, und du bist?" - "Ich bin 13 Jahre alt." – "Super!"
Die syrischen Schwestern sitzen in der Willkommensklasse. Eine Klasse für Flüchtlingskinder, die vor kurzem in Lichtenberg angekommen sind.
Musto ist dran. Mehr gemalt als geschrieben entstehen Buchstaben auf der Tafel. Leicht krakelig führt er die Kreide von einem Wort zum nächsten. Ein hochgewachsener Junge mit dunklem Flaum auf der Oberlippe.
"So Musto, lies bitte vor, was du geschrieben hast!" - "Ich hore." – "Lauter!" – "Ich hore, du horst..."
Deutsch ist Mustos erste Fremdsprache. Aber Deutsch ist auch die erste Sprache, der er Buchstaben und Wörter zuordnet. Deutsch sind überhaupt die ersten Wörter, die er hier seit zwei Wochen lesen und schreiben lernt: Musto ist Analphabet.
Sie lehrt sie sprechen
"Sie hören." – "Wunderbar alles korrekt, super!"
Gerade ist er 15 geworden, geboren im Irak. Wie Ayat und Alaa ist er erst seit wenigen Monaten in Deutschland. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder Aziz sitzt er jeden Tag in der ersten Reihe.
"Ich spreche vor, ihr sprecht nach. So, der erste Buchstabe: A" – "A" – "Ananas" – "Ananas..."
Die Lehrerin der Willkommensklasse: Saskia Demke. Ihr roter Pferdeschwanz wippt bei jedem Wort. Sie macht das möglich, was die Jugendlichen in der neuen, ungewohnten Stadt am meisten brauchen: Sie lehrt sie sprechen.
"N" – "N" – "Nudel" – "Nudel, lecker..." (lachen)
"Und Ü" – "Ü" – "Übung" – "Übung" – "Das war klasse heute, richtig gut. Prima, Musto!"
"Und Ü" – "Ü" – "Übung" – "Übung" – "Das war klasse heute, richtig gut. Prima, Musto!"
"Einige haben überhaupt noch nicht gelacht. Aziz hat erst nach dem dritten Tag angefangen zu lachen. Ja also es geht eigentlich um das komplette Leben dieser Kinder. Ihnen ein Zuhause zu geben, ihnen was beizubringen und ihnen auch Mut zu machen, dass sie etwas leisten können später."
Die Brüder Musto und Aziz aus dem Irak, die beiden Schwestern Alaa und Ayat aus Syrien oder Omar aus Gambia, machen es ihr leicht, sagt Saskia Demke.
Wie jetzt, wenn sie still über ihren Matheübungen sitzen, selbst das Ticken der Uhr an der Wand lauter ist als die Stifte, die über das Papier kreisen. 14-, 15-, 16-Jährige. Ein Alter, das sonst kaum zu bändigen ist. Hier fragen die Schüler sogar nach extra Hausaufgaben. Saskia Demke und Dagmar Hafemeister kümmern sich gemeinsam um die Schüler aus den umliegenden Wohnheimen, die - erst seit wenigen Wochen in Berlin -, zu ihnen in die Kleinklasse für ältere Lernanfänger des Bezirks geschickt werden. Streng, aber herzlich.
"Achtung! Ich rede und kein anderer...Punkt."
Die eine macht den Unterricht. Die andere hilft. Und beide wissen: Die Schüler in zehn Monaten fit zu machen für den Unterricht an einer normalen Schule - in einer Klasse entsprechend ihrem Alter - ist eine kaum lösbare Aufgabe.
"Man kann denen nur wünschen, dass sie dann mit ihren Sprachkenntnissen, die sie haben, trotzdem noch ihren Weg finden. Muss aber bedenken, dass: Wir machen hier simple Mathematik, simple Naturwissenschaften, weil es ja immer nur eigentlich um Sprache geht. In der Zwischenzeit schreitet die Zeit fort, die Kinder werden immer älter und haben letztendlich vom Fachwissen her wenig gelernt. Das heißt also, wenn sie jetzt wirklich in eine normale Klasse integriert werden, können sie vielleicht Deutsch sprechen, aber alles andere nicht."
"Raus mit euch an die Luft!"
In kleinen Gruppen stehen die Schüler auf dem kahlen Hof: Eine Bank, sonst nichts. Auch der Spielplatz der Nachbarschule ist tabu. Aber zum Sprechen animieren, das kann Saskia Demke auch jetzt.
"Musto, hast du eine Freundin gefunden?"
Etwas abseits steht Omar. Schicke Sneakers trägt er, dazu enge, modische Jeans, ein knallblaues Sweatshirt.
"Bin allein her gekommen, weil Afrika war nicht gut, ich kann nicht lernen, ich möchte gerne lernen und in Afrika ich hab nicht die Chance von wie hier."
Im Jungenwohnheim in der Nähe teilt er sich ein Zimmer mit einem Araber, erzählt er. Der aber will nicht lernen, geht nicht in die Schule, kommt erst spät nachts nach Hause, stört ihn bei den Hausaufgaben. Omars Muttersprache ist Französisch, er kommt aus Gambia, sagt er.
"J'ai venu avec la bateau et... und so."
Wie genau seine Reise nach Berlin verlaufen ist, das kann er nicht sagen – oder will es nicht. Nur soviel: Mit einem Schiff ist er gekommen.
Ein Riechtest im Unterricht bringt die Jugendlichen zum Reden
Der letzte Block heute: Nawi - Naturwissenschaften. Saskia Demke läuft durch die Reihen, hält Musto, Omar und Ayat eine Fotodose unter die Nase, einer nach dem anderen verzieht das Gesicht.
"Musto, was war das eben? Wie heißt das bei dir auf Kurdisch?" – "Auf Deutsch heißt das Essig."
"Nur riechen und weitergeben... hmm... Das mag ich, das mag ich sehr!"
Ein Riechtest, der die Jugendlichen zum Reden bringt. Ayat und Alaa blättern in ihrem Wörterbuch. Zuhause in Syrien waren sie schon ein paar Jahre in der Schule. Genau wie Omar. Ihr großer Vorteil. Musto schaut nur zu. Einfach nachschlagen, das kann er nicht. Aber auch ohne Deutschkenntnisse werden sich alle einig.
"Vanille! Jajajajaja..."
"Auf Wiedersehen!" – "Bis morgen!" – "Einen schönen Tag noch."
Eine gute halbe Stunde später. Ein Aufzug bringt Musto und Aziz in ihr deutsches Übergangszuhause. Ein Wohnheim, acht Etagen, blau-beige gestrichen. "Hotel" steht in blauen Buchstaben draußen am Sims.
Innen zieht sich vor allem Grau über den glänzenden Linoleumboden im Flur. Hinter der Wohnungstür warten zwei Zimmer und ihre Eltern.
Kahl sind die Wände, vier Betten ersetzen eine Couch. Auch Mustos Eltern können weder lesen noch schreiben. Im sonst leeren Regal greift Musto nach einem Bilderbuch, zeigt auf Ziegen und Schafe.
"Ziegen, ja: Ziegen!"
Mit Händen und Bildern erzählt Musto, wie sie alle gemeinsam arbeiten, damals in den Bergen im Irak. Wie sie in einem großen LKW nach Deutschland kommen. Sein Vater, seine Mutter, sein Bruder und er.
Woher aber die riesige Narbe seines Bruders Aziz kommt, die quer über den Kopf an seinem Gesicht vorbei läuft, das verraten Musto und Aziz nicht.
"So, schneller jetzt! Jacken aus! Ihr seid zu spät!"
Zurück im Klassenzimmer mit den hellgrünen Wänden. Anderthalb Jahre später. Aus den Lernanfängern vom Herbst 2012 sind heute Schüler geworden, die sich verständigen können, die vormittags in ganz normale Klassen gehen.
"Guten Tag... oh noch mal: Guten Tag! - Guten Tag!"
Langsam rutschen Ayat und Liana, Ali und Florian auf ihre Stühle, energisch zeigt ihre Lehrerin mit der rechten Hand hinter sich.
"Hier! Pasa und Paham! Pünktlich sein!"
Gabi Giesen – die dritte ihrer Lehrerinnen - klopft auf die Tafel: Vorprüfung zum Deutschen Sprachdiplom steht in weißer Kreide auf dunklem Grün. Wie zur Ermahnung noch Rot unterstrichen.
Vor ihr fummeln Ayat und Liana ihre Kugelschreiber aus den Etuis. Das eine Pink, das andere Lila. Alaa fehlt, sitzt mit einem gebrochenem Bein Zuhause.
Ayat kämpft sich von Aufgabe zu Aufgabe
"Wir schreiben heute einen Test – das ist die Vorprüfung zur Vorprüfung (lacht). Wir schreiben nämlich nächste Woche die Prüfung und wollen dann entscheiden, wen wir zum deutschen Sprachdiplom zulassen – und wen nicht."
"Und es geht los, ab jetzt: 45 Minuten!"
Konzentriert beugt sich Ayat über ihre Blätter.
Sie unterstreicht Schlüsselwörter im Übungstext, kämpft sich von Aufgabe zu Aufgabe. Neben der Tür sitzen Dagmar Hafemeister und Gabi Giesen, kontrollieren die letzten Hausaufgaben. Thema: Brief an einen Freund.
Da ist sie wieder, diese beeindruckende Stille. Plakate hängen jetzt an den Wänden, die vor anderthalb Jahren noch nackt waren. Fotos, kurvenreich ausgeschnitten und auf Karton geklebt, blumenumrankt: Sport mit Kopftuch und langer weißer Strickjacke über enger Jeans. Die Schwestern Alaa und Ayat beim Volleyball, die Jungs beim Fußball. "ich glücklich viel!" steht daneben und "ich durstig!". Von den irakischen Brüdern aber, von Musto und Aziz fehlen Bilder. Auch Omar taucht nirgends auf.
"Es wird nur mit Kuli gearbeitet, nicht mit Bleistift!"
Omar kommt nur ein paar Wochen in den Unterricht, damals im Herbst 2012, erzählt Dagmar Hafemeister. Auf dem Weg nach Südeuropa wird er aufgegriffen. Auch sein Alter stimmt nicht, das er in Deutschland angibt. Nicht 16 ist er, sondern schon 21. Damit verliert er alles: seinen Platz im Jungenwohnheim, seinen Platz in der Willkommensklasse, wohl auch seine Chance auf eine Zukunft in Deutschland.
"Ja natürlich enttäuscht es einen insofern, dass man sagt, der hat uns dreist ins Gesicht gelogen als wir gesagt haben, wie alt er ist. Andererseits denke ich mir, er wollte für sich ja auch nur das Beste. Wie jeder andere vielleicht auch. Ich würde ihn ja gar nicht so verurteilen wollen, weil auch der Mensch hat ja ein Recht darauf, glücklich zu sein, ne."
Ayat schaut kurz von ihrem Blatt auf, spielt mit ihrem Stift, denkt nach. Liana neben ihr schaut gedankenverloren aus dem Fenster. Ihr Blick findet wenig Inspiration: riesige Strommasten über kahlen Bäumen. Sie ist schon 17, im Bezirk Tempelhof-Schöneberg, in dem sie jetzt wohnt, darf sie nicht mehr zur Schule. Aber hier in Lichtenberg hat sie Glück, geht in die 9. Klasse.
"Ihr habt jetzt schon 10 Minuten gehabt! Denkt dran ihr habt jetzt nur noch 35 Minuten!" – "Das sind viel!" – "Ja deswegen, nicht freuen: weiter, weiter, jaja!"
Viele Berliner Schulämter nehmen keine Flüchtlingskinder auf, die älter als 16 sind. Das nimmt vielen die Chance, die 10. Klasse zu schaffen, den mittleren Schulabschluss. Gerade die, die Zuhause nie oder nur sporadisch eine Schule besucht haben, sagt Dagmar Hafemeister. Es sei denn, sie geben ein jüngeres Alter an, wie Omar. Tauchen dann aber neue Dokumente auf oder zeigen medizinische Untersuchungen ihr wahres Alter, dann hilft auch das nicht weiter.
"Deswegen ist es immer schön, wenn man noch so jung ist wie die beiden Kleinen oder wie Florian. Die können hier noch lange zur Schule gehen und noch ganz viel lernen."
Sie zeigt auf die Zwillingsbrüder aus dem Iran mit den weichen, kindlichen Gesichtszügen, auf Pasa und Paham. Und die Brüder aus dem Irak? Wo sind Musto und Aziz? Ende 2012 teilt ihnen das Sozialamt eine Wohnung am anderen Ende der Stadt zu, in Spandau, sagt Dagmar Hafemeister. Seine Muttersprache Kurdisch lesen und schreiben lernt Musto noch in einem Alphabetisierungskurs. Dann verliert sich die Spur der beiden.
"Aber von sich aus sind sie nicht wieder hier her gekommen. Wir hatten damals große Bauchschmerzen, als es hieß, sie werden integriert."
Integriert werden, das klingt gut. Hier aber heißt es: Musto und Aziz werden ihrem Alter entsprechend eingeschult – unabhängig von ihrem Sprachniveau.
"Also, es würde uns schon sehr interessieren, was aus den beiden geworden ist."
Hoch sind die Wohntürme, anonym die Straßen: Ein "Problemkiez"
Feierabendverkehr staut sich raus aus der Stadt. Da wo der Berliner Bezirk Spandau aufhört und Brandenburg beginnt. Falkenhagener Feld heißt die Gegend, oder auch: Problemkiez. Hoch sind die Wohntürme, anonym die Straßen und Hausflure. Aber die Aussicht geht ins Grüne. Statt im Wohnheim in Lichtenberg sollen Musto und Aziz mit ihren Eltern jetzt hier wohnen. Auf Briefe kommen keine Antworten, auch der Kontakt über ihre neue Schule führt nicht weiter.
Doch ihr Name steht tatsächlich auf dem Klingelschild. Fünf Stockwerke braucht der Fahrstuhl, dann öffnet sich die Tür genau gegenüber.
"Guten Tag!" – "Hallo!"
Musto und Aziz stehen da, daneben ihre Mutter. Das, was die neue Lehrerin in Spandau ihnen in der Schule mitteilt, hat er nicht verstanden, sagt Musto. Nichts hat er mehr von dem Jungen vor anderthalb Jahren, auch Aziz sieht erwachsener aus. Sie gehen voraus ins penibel aufgeräumte Wohnzimmer, setzen sich auf die Couch. Das Bilderbuch liegt noch immer griffbereit. Stolz zeigt Musto auf den Laptop auf dem Tisch, die Schutzfolie noch auf dem Bildschirm.
"Das hat ein Geschenk bekommen. Wir haben Nachbarn, so kurdische Leute, sieht wir brauchen und er hat Geschenk gekauft für mich und meinen Bruder. Ja, Internet auch haben wir."
Etwas hilflos tippt er auf die Tasten. Den Computer kann er kaum bedienen, gibt er zu. Aber der Nachbar ist ihm wichtig, Kontakt zu anderen Menschen. Viele Freunde haben sie nicht hier in Spandau. Wenn sie nicht in der Schule sind, bleiben sie Zuhause, sagt Musto. Schule, das heißt 8. Klasse, 25 Schüler. Zwischen lauter Jüngeren. Da gehen sie unter mit ihrem Deutsch, das sich erst wie Puzzleteile zu Sätzen zusammenfügt. Aziz sitzt neben ihm, lächelt. Er lächelt viel und sagt wenig.
"Ich und mein Bruder bisschen groß, z.B. 12 Jahre alt, 13 Jahre."
Die beiden sind mittlerweile 15 und 16 – da wirken die Mitschüler wohl wie Kinder. Beide fragen nach Frau Demke, Frau Hafemeister, nach Florian, Ayat und Liana.
"Sprachschule sehr gut war, jeden Tag können wir lernen so. Aber 8. Klasse schwer fur mich. Aber ich möchte Sprachschule, ein Jahr Sprachschule machen und dann was werden, z.B. Küche, äh, kochen."
Hier in Spandau haben sie Pech. Einen Deutschförderunterricht, der sie auffängt, so wie in Lichtenberg, haben die Brüder bisher nicht gefunden. Musto war zwar bei einer Sprachschule, sagt er, die hat ihn aber weggeschickt: Er sei ja noch schulpflichtig. Und aus dem Kurdisch-Alphabetisierungskurs ist auch nichts geworden. Doch ohne Deutsch, das wissen sie selbst, haben sie keine Chance.
Woher kommt die Narbe?
Aus der Küche dringt der Geruch von frischem Kuchen. Die Mutter zieht ein Blech tellergroßer Hefefladen aus dem Ofen, mit Rosinen bestückt, wickelt ein Stück in Alufolie. Ein besonderer Kuchen, sagt Musto.
"Und drinne machen wir eine, äh, z.B. ein Euro oder egal und bei wem diese kommt raus, dieses Jahr für ihn ist so gutes Jahr!"
Aziz trägt eine Kapuze. Seit zwei Wochen ist er zurück aus der Charité: eine Operation an seinem Kopf, wegen der großen Narbe, die an seinem Gesicht entlang läuft. Jetzt lassen die Schmerzen allmählich nach. Woher die Narbe kommt? Wieder lächelt Aziz nur, sein Bruder aber antwortet.
"Er hat Unfall, Auto hat Unfall so..."
Im Irak, sagt Musto. Aziz ist mit den Ziegen unterwegs, Zuhause in den Bergen, dann kommt ein Auto.
Am anderen Ende der Stadt fährt Ayat nach der Deutschstunde nach Hause. Alleine, ihre Schwester Alaa darf mit ihrem gebrochenen Bein noch immer nicht raus.
Vor ihr lässt sich ein Mann in den Sitz fallen, die Hose auf Halbmast. Der Geruch von Alkohol zieht zu Ayat herüber. Der Mann schwankt selbst im Sitzen, hält sich an seinem Jutebeutel fest. Ayat drückt sich an die Fensterscheibe – und fängt an zu erzählen. Von der Angst zu Hause in Damaskus, vom Vater, der seit ein paar Jahren schon in Deutschland arbeitet, von den Nächten als der Krieg längst bei ihr angekommen ist, sie nicht schlafen kann.
"Und die Flugzeug war die letzte, ja, die in Deutschland kommt von Syrien. Das war so schwer und so Angst. Im Flugzeug ich habe nur zwei Minuten geschlafen, nur zwei Minuten."
Ende Juni 2012 holt ihr Vater die Familie zu sich nach Berlin. Ayat, ihre Schwester Alaa und ihre Mutter. Und wieder lacht sie dieses schüchterne Lächeln, dass sie trotz allem nicht verloren hat.
Nebel liegt über dem breiten Grünstreifen, den sie alleine bis zu ihrem Wohnblock überqueren muss.
Die Mutter spricht so gut wie kein Deutsch
"Dieses Hochhaus ist so schlimm, ist nicht gut, weil alles, was passiert, ist nicht gut, z. B. ein Mädchen kommt von oben, 21. Etage kommt nach unten."
Hier hat sich erst vor ein paar Wochen ein Mädchen umgebracht, erzählt sie und zeigt nach oben.
Angekommen. Ayats Mutter erwartet sie mit Kuchen und Teigtaschen, selbstgemacht, mit Spinat gefüllt. Cola steht auf dem Couchtisch, der Fernseher läuft.
Stolz ist die Mutter, etwa Mitte 30, auf ihre beiden Töchter. Sie selbst spricht so gut wie kein Deutsch. Manchmal aber verliert sich ein deutsches Wort in ihre arabischen Sätze.
Und auch Rimas sitzt mit am Tisch. Gerade ein Jahr alt, im pinken Strampler, schon jetzt mit dichtem schwarzen Haar – wie ihre großen Schwestern. Die Kleine kommt bald in den Kindergarten, dann will die Mutter auch endlich wieder an ihrem Deutsch arbeiten. Ayats Vater möchte nach Neukölln oder in den Wedding umziehen. Dahin, wo viele Syrer leben, viele Menschen, die Arabisch sprechen wie sie.
Aber ihre Mutter will hier bleiben. Denn hier, sagt sie, leben fast nur Deutsche. Hier sind sie gezwungen, die Sprache ihres neuen Zuhauses zu sprechen. Und nur mit gutem Deutsch – da wiederholt sie das Mantra der Lehrerinnen - haben ihre drei Töchter eine echte Chance in Deutschland.