Gegen die Dominanz der "besorgten Bürger"
Sie sind Deutsche mit Migrationshintergrund und wollen als gleichberechtigte Bürger wahrgenommen werden: In Berlin trafen sich 200 Vertreter von Initiativen des Verbandes Neue Deutsche Organisationen. Zur Flüchtlingsdebatte haben sie eine klare Meinung.
"Das ist das Grundgesetz. Wer von euch hat denn schon mal alle ersten 20 Artikel gelesen? Alle durchgelesen? Ja, wunderbar. Und welcher Artikel ist derjenige, der bei euch am meisten noch im Kopf verhaftet geblieben ist? – Artikel 1. – Der heißt? – Die Würde des Menschen ist unantastbar."
Zehn junge Frauen und Männer sitzen in einem Raum im Kreis. Farhad Dilmaghani diskutiert mit ihnen über das Grundgesetz und besonders über den Artikel 20. Darin wird im ersten Absatz das Staatsziel definiert: "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat." Workshop-Leiter Dilmaghani ist Vorsitzender des Vereins "DeutschPlus". Dieser setzt sich dafür ein, dass das Staatsziel um einen Artikel erweitert wird.
Farhad Dilmaghani, Vorsitzender DeutschPlus:
"Einen Artikel 20b: 'Deutschland ist ein vielfältiges Einwanderungsland. Es fördert daher die gleichberechtigte Teilhabe und Integration.' Und wir haben diesen Vorschlag auch informell mit einem ehemaligen Bundesverfassungsrichter abgestimmt. Und er sagte, die Formulierung sei tadellos."
Drei Stunden lang diskutieren die Teilnehmer des Workshops über diesen Vorschlag und tauschen sich aus über ihr Selbstverständnis als Teil der Gesellschaft. Am Ende halten sie fest, das Grundgesetz sei kein starres Gebilde und könne überarbeitet werden. So sei etwa auch der Umweltschutz später aufgenommen worden.
In insgesamt acht Workshops diskutieren mehr als 200 zumeist junge Leute aus dem gesamten Bundesgebiet über Themen wie Teilhabe, Integration, Rassismus und Bildung. Die Teilnehmer sind in über 100 Initiativen und Vereinen organisiert, die sich nicht über die Herkunft ihrer Eltern definieren. Sie sind Deutsche und wollen als gleichberechtigte Bürger wahrgenommen werden, sagen sie.
"Mein Name ist Lorenz Narku Laing. Ich bin von der 'Schwarzen Jugend in Deutschland'. / Mein Name ist Kerim Arpad. Ich bin der Geschäftsführer des "Deutsch-Türkischen Forums" in Stuttgart. / Ich heiße Farnaz Nasiriamini. Ich studiere am Bodensee in Friedrichshafen, und ich bin hier von der Organisation 'Jugendpresse Hessen'. / Mein Name ist Melisa Bel Adasme. Ich komme aus Frankfurt, und ich bin im Verein 'Integrator'. Wir sind alle junge Menschen mit Migrationshintergrund, die zu Schulen und Bildungseinrichtungen gehen. Und wir erzählen im Grunde unsere erfolgreiche Integrationsgeschichte."
Teil der Aufnahmegesellschaft und Teil der Lösung
Vorbilder, die ihre Erfahrungen weitergeben. Aber sie wollen nicht nur als Musterbeispiele der Integration angesehen werden. Sie wollen keine Objekte der politischen Diskussion um Integration sein, sondern mitreden und mitgestalten. Seit Beginn der Flüchtlingsmigration dominierten die so genannten besorgten Bürger den politischen Diskurs, kritisiert die Koordinatorin der "Neuen Deutschen Organisationen", Breschkai Ferhad. Besonders nach der Kölner Silvesternacht habe ein Perspektivwechsel stattgefunden; die Gesellschaft sei gespalten.
Breschkai Ferhad: "Es gibt nicht nur 'nach Köln'. Es gibt 'nach Rostock-Lichtenhagen', es gibt 'nach Mölln', es gibt 'nach Solingen', es gibt 'nach NSU', es gibt 'nach Clausnitz'. Aber das in den Fokus zu rücken, zu sagen: Was ist eigentlich damit? Und auch wir sind besorgte Bürger. Wir sind Teil der Aufnahmegesellschaft, und wir sind die Lösung und nicht das Problem."
Die Gesellschaft spalte sich immer mehr. Umso wichtiger sei es, die Vielfalt zu stärken. Die Neuen Deutschen Organisationen wollen auf die Arbeit und Erfahrung der Migrantenselbstorganisationen aufbauen und einen Schritt weitergehen. Sie wollen im Einwanderungsland Deutschland den Zusammenhalt und die Teilhabe mit gestalten. Beim Gründungskongress vor einem Jahr hatten die Teilnehmer mehr Präsenz in Politik, Medien und Institutionen gefordert. Heute Nachmittag werden sie beim Abschluss ihres 2. Bundeskongresses praktische Handlungsschritte vorstellen und sie mit Politikern und Wissenschaftlern diskutieren.