Flüchtlinge und Vertriebene

Sachsen als Zufluchtsort

"Hoyerswerda hilft mir Herz" steht auf einem Transparent bei einer Aktion gegen Fremdenfeindlichkeit.
"Hoyerswerda hilft mir Herz" - viele Menschen demonstrierten 2015 gegen Fremdenfeindlichkeit. © imago/Future Image
Von Ofer Waldman |
Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen sie aus Schlesien oder Ostpreußen, heute kommen sie aus Syrien oder Afghanistan: In Sachsen fanden viele geflüchtete Menschen eine neue Bleibe. Wo liegen die Parallelen zwischen 1945 und 2015 − und wo die Unterschiede?
"Ich komme eben aus Gleiwitz, Oberschlesien. Und 45, am 24. Januar war die Rote Armee in Gleiwitz drin. Und die Kampfgruppe der Roten Armee, die blieb eben noch bis März in der Stadt. Meine Mutti und ich, wir sind eben in unserem Haus geblieben. Nachts durften ja die Deutschen gar nicht auf die Straße, sondern nur eben die Polen. Und na ja, Vergewaltigung und all diese Dinge sind eben passiert. Da lagen die Toten auf den Straßen. Das war eigentlich furchtbar, anzusehen."
Marianne Engelmann, 82 Jahre alt, sitzt in Hoyerswerda im Ortsbüro des Bundes der Vertriebenen, BdV. Vor ihr an einer Wand hängt eine alte Karte Schlesiens. Mit leiser Stimme erzählt sie, wie sie am Kriegsende als Kind nach Hoyerswerda gelangte.
"Wir sind weiterhin, nachdem eben die Rote Armee dann abgezogen ist, in Gleiwitz geblieben und sind erst im September 45 raus. Die Lebensgrundlage war genommen und damit sind wir dann raus und es kam auch so Nachrichten, dass die und die Bekannte, Verwandte im Westen gelandet sind und so und da haben wir uns paar Familien zusammengeschlossen und sind eben raus."

Aus Ostpreußen nach Hoyerswerda

Aus dem Fenster des BdV-Büros in Hoyerswerda-Neustadt blickt man auf DDR-typische Wohnblocks. Nur 100 Meter entfernt steht eine Turnhalle, die als Notunterkunft für Asylbewerber diente. Bis vor kurzem wohnte hier ein Teil der insgesamt 700 Asylbewerber, die in Hoyerswerda Zuflucht gefunden haben.
Im benachbarten evangelischen Gemeindezentrum Martin Luther King sitzt eine junge kurdische Frau aus Syrien mit ihrem Sohn. Ihren Namen möchte sie nicht nennen, sie hat noch Familie in Syrien. Die Angst in ihrem Blick ist deutlich zu sehen.
"Ich komme aus Syrien, aus Afrin, ich bin Kurdisch. Ich komme mit meiner Familie seit zwei Jahr. Ist sehr schwer dort. Es gibt starken Krieg dort jetzt. Ja. Wie alle Leute kommen mit Boot. Wir leben in der Türkei ein Jahr und sechs Monate und dann hier kommen. Erst in Chemnitz vier Monate ich denke so, und dann hier gekommen."
"Am 20. Januar 1945, musste ich ja mit meinen Eltern auf die Flucht gehen, wir sind vor der Front geflohen."

Gisela Lossack, Koordinatorin des BdV in Hoyerswerda, war noch ein kleines Kind, als sie mit ihrer Familie Ostpreußen verlassen musste. 1947 kamen sie in Hoyerswerda an.
"Von Preußisch-Holland fuhr kein Zug mehr, wir mussten praktisch nach Stegen laufen. Dann sind wir mit einem offenen Wagen, also kein Dach überm Kopf bei Minusgraden gefahren und sind bis Stolpen etwa gekommen. Dort haben wir bis 1947 gelebt. Und da sind wir bis Anschlussgleis Neuwiese, also 1,5 oder 2 Tag hier ins Lager Elsterhorst gekommen."
An dieses Lager, in dem einst 15.000 Heimatvertriebene und ausgebombte deutsche Zivilisten Zuflucht fanden, erinnert heute nur noch eine kleine Gedenktafel am Straßenrand zwischen Hoyerswerda und Nardt. Nach Kriegsende gab es in Sachsen zahlreiche solcher Aufnahmeeinrichtungen für Vertriebene und Geflüchtete. Alte Militärbarracken, Schulen, verlassene Fabriken. Die meisten sind längst abgerissen, vergessen.
Gisela Lossack und Marianne Engelmann im BdV-Büro Hoyerswerda
Gisela Lossack und Marianne Engelmann im BdV-Büro Hoyerswerda - beide flohen nach 1945 nach Sachsen.© Ofer Waldman

"Ihr Habenichtse"

Dabei fand eine halbe Million Vertriebene damals Zuflucht in Sachsen. Fast jeder Einwohner hier hat Vorfahren, die geflohen sind oder vertrieben wurden. Fluchterfahrung ist quasi Teil vieler Familienbiografien. Nicht immer herzlich fiel schon damals die Aufnahme durch die einheimische Bevölkerung aus.
"‘Ihr Habenichtse‘, was ja das typische Wort damals war, ‚ihr Habenichtse, und ihr sagt bloß, ihr hattet früher Häuser und was nicht alles, in Wirklichkeit seid ihr in Lumpen rumgelaufen.‘"
"Meine Schwiegermutter ist aus Schlesien vertrieben worden. Die Geschichte haben wir ein bisschen aufgeschrieben. Meine Kinder wissen, was in unserer Familie passiert ist."
Vielleicht ist auch das ein Grund, warum Angelika Meischner jetzt neben der jungen kurdischen Frau im evangelischen Gemeindezentrum sitzt. Sie sind Nachbarinnen, helfen sich gegenseitig. Zwischen beiden Frauen gibt es eine spürbare Vertrautheit.
"Wenn wir die Geschichte ihrer Familie hören, dann werden wir natürlich an unsere Familiengeschichte erinnert. Weil, das ist genauso war als die Frauen mit kleinen Kindern im Winter 45 durch die Gegend ziehen mussten und nichts hatten. Ich denke schon, es war schlimm, was damals in Deutschland passierte, dass Deutsche Deutschen nicht geholfen haben oder nur mit Widerwillen."
Beide Frauen erinnern sich an ihr erstes Treffen.
"Sie kommt bei uns und klingelt an meiner Tür. Sie hat mir gesagt, wenn sie möchte helfen oder etwas, sie klingt mein Haus. So. Ja."
"Und so machen wir das."
"Sie sind nette Nachbarn."
"Ja, wir machen das einfach so, freundschaftlich. Komplikationslos. Wir haben alles, bei uns geht es keinem wirklich so schlecht wie all den Flüchtlingen, na, und wenn in Afrin einfach wieder hunderte Menschen abgeschlachtet wurden heute früh sind die Bomben gefallen und ihr Onkel ruft an und erzählt, was grad alles passiert ist … puh. Da fühle ich mich genauso betroffen und denke immer an meine Kinder. Ja? Völlig crazy."

Kann man 1945 und 2015 vergleichen?

Im Freistaat Sachsen leben rund 24.000 Asylbewerber. Ihre Erstaufnahmeeinrichtungen liegen oft in der Nähe jener vergessenen Orte, an denen 1945 deutsche Vertriebene aus dem Osten erste Zuflucht fanden. Menschen, die vor dem Krieg fliehen mussten, die eine sichere Bleibe für ihre Kinder suchten, ein Dach über dem Kopf und schnellstmöglich einen Arbeitsplatz. Sind diese Erfahrungen in solch einem Ort heute noch spürbar, haben sie ihn geprägt? Kann man von einer Art Ortsgedächtnis der Flucht und Vertreibung sprechen? Ist das überhaupt zulässig, 1945 und 2015 gleichzusetzen?
Am Rande der Altstadt in Freiberg, zwischen Dresden und Chemnitz, liegt ein ungewöhnlicher Friedhof. Gleich am Eingang steht eine Gedenktafel aus Bronze. "Auf diesem Friedhof fanden 1375 Männer, Frauen und Kinder aus Ost-Preußen, Pommern, Schlesien und Sudetenland ihre letzte Ruhestätte. Ihr Schicksal bleibt unvergessen."

"Freiberg war eine Stadt, wo 82.000 Vertriebene durchgelaufen sind. Sie wurden in Schulen und anderen Einrichtungen untergebracht, und die, die vor Entkräftung, aus Krankheit oder vielleicht aus Kummer um die verlorene Heimat gestorben sind, fanden hier auf diesem Friedhof ihre letzte Ruhestätte."
Freiberg, eine florierende Stadt. Einst durch Silberbergbau bekannt, beheimatet die Stadt heutzutage erfolgreiche High-Tech-Unternehmen. Die Altstadt ist gepflegt, ihre Mauer und Wachttürme stehen in restaurierter Pracht. Etwa 2500 Asylbewerber leben hier. Den Vergleich zwischen den beiden Fluchtwellen lehnt Vizebürgermeister Holger Reuter jedoch entschieden ab.
"Also ich denke, der Umgang mit den jetzigen Geflüchteten oder wie auch immer wir sie nennen wollen, beeinflusst das in keiner Weise und man kann das auch nicht vergleichen. Die Menschen damals kamen aus dem gleichen Kulturkreis, sie kamen aus Deutschland, sie waren Deutsche, obwohl, das ist ja auch bekannt, sie nicht immer und überall in den Zufluchtsorten, wo sie dann untergekommen sind, gut aufgenommen wurden."
Vertriebenenfriedhof bei Freiberg / Sachsen
Vertriebenenfriedhof bei Freiberg / Sachsen© Ofer Waldman

Freiberg erwirkt einen Zuzugsstopp

Anfang dieses Jahres erwirkte der Freiberger Stadtrat einen Zuzugsstopp für Asylbewerber. Der Schritt erregte Aufsehen, vor allem wegen der finanziell positiven Lage der Stadt. Vizebürgermeister Reuter verteidigt die Entscheidung.
"Der Zuzugsstopp ist vor dem Hintergrund notwendig geworden, weil das Landratsamt Mittlelsachsen eine überproportionale Verteilung auf Freiberg vorgenommen hat. 2500 hat Freiberg abbekommen. Und man muss einfach auch darauf abstellen, dass man von den Flüchtlingen oder wer auch immer sie sind eine Integrationsleistung erwarten muss. Das ist für uns keine Bringepflicht als Deutsche sie zu integrieren, sondern sie haben die Bringepflicht, sich hier integrieren zu wollen. Und als Universitätsstadt können wir damit umgehen. Aber es gibt Grenzen der Belastbarkeit, es gibt Grenzen der Integrationsfähigkeit."
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es die Nahrungs- und Wohnungsnot, heute sind es Sprach- und Kulturbarrieren, die als Aufnahmehindernisse geflüchteter Menschen genannt werden.
Fluchterfahrungen von 1945 und 2015. Gibt es da Zusammenhänge? Auf dem Freiberger Markt winken die Passanten ab, sobald man sie auf das Thema Flüchtlinge und Vertriebene anspricht. Nur ein Verkäufer traut sich, anonym seine Meinung preiszugeben.
"Weil zum Teil Verwandtschaft selber auf der Flucht waren. Die 45 fliehen mussten waren von demselben Kulturkreis. Und die Mentalität war dieselbe, es waren ja Deutsche, ne? Menschen in Not muss geholfen werden. Aber wenn ich hier die vielen jungen Kerle hier sehe, na na. Wir können nicht alle retten. Es klingt blöd aber … Wenn man einen Schlussstrich zieht, hier ist Schluss, hier ist eine Grenze, Boot ist voll."
Zurück nach Hoyerswerda. Auch hier, auf dem Markt vor dem Lausitz-Center, sind nur wenige Passanten gesprächsbereit.

Das schlechte Image von Hoyerswerda

"Mein Vater, der kommt z.B. war damals Pommern. Das waren richtige Flüchtlinge meines Erachtens. Das war keine Flüchtlinge, es waren Vertriebene. Und bei den neuen hier, habe ich ehrlich gesagt keine richtige Meinung dazu."
"Bei uns gibt es selber viele Familien, die selber Geld benötigen, die andere Seite sie kommen, kriegen alles, und wir sind ein bisschen gedemütigt in der Sache."
1991 gelangte Hoyerswerda in die Schlagzeilen. Neonazis, Anwohner und angereiste Schaulustige griffen mit Steinen und Molotow-Cocktails zwei Heime an, in denen ausländische Vertragsarbeiter und Geflüchtete lebten. 32 Menschen wurden bei den Ausschreitungen verletzt. Augenzeugen berichteten später von Pogrom-ähnlichen Szenen. Seitdem ist Hoyerswerda fast zum Synonym für Gewalt gegen Ausländer geworden.

"Das liegt an der Geschichte dieser Stadt, die nun ja bis Australien Amerika bekannt ist, wegen diesen Übergriffen 1991, damals auf die Gastarbeiter und auf die Flüchtlinge. Wenn man woanders sagt, ich komme aus Hoyerswerda, ‚Oh‘, und wo ich sage, das kann ja nicht die Regel bleiben, wir müssen das auch annehmen als Geschichte und damit konstruktiv umgehen."
Pfarrer Jörg Michel ist Mitgründer des Bürgerbündnisses "Hoyerswerda hilft mit Herz".
"Am Anfang gab es Übergriffe, Schlägereien, Pöbeleien, Anspucken, wir waren immer froh, dass die Polizei da sehr auf Habachtstellung war. Und als bekannt wurde, dass damals auch in Hoyerswerda ein neues Flüchtlingsheim eröffnet wird, haben sich ganz verschiedene Leute dann gefunden, die sagten, das was 91 passiert ist, darf sich nicht wiederholen und wir als gesamte Bürgerschaft sind hier mitgefragt. Das ist vielleicht der Vorteil aus dem schlechten Ruf, hier in Hoyerswerda war aus der Geschichte heraus die Erkenntnis gewachsen, dass wir selbst auch dort tätig werden müssen."
Hoyerswerda: Nachdenklich und betroffen schaut der mocambiquanische Arbeiter durch eine eingeworfene Scheibe des Wohnheinmes. Das Haus war in den letzten Tagen ebenso wie das Asylantenheim Ziel von Anschlägen Rechtsradikaler.
Hoyerswerda 1991: Anschläge von Rechtsradikaler machten international Schlagzeilen. © picture alliance / dpa / Rainer weißflog

Gemeinsam gegen Fremdenfeindlichkeit

Das Bürgerbündnis bemüht sich vor allem um Begegnungen zwischen Asylsuchenden und Einheimischen.
"Wir hatten in Hoyerswerda mal die Gruppe Hoygida, wir haben jetzt nicht mit Gegenveranstaltungen oder Gegendemonstrationen darauf reagiert, sondern offene Abende angeboten z.B. Thema Islam. Die Königsdisziplin ist immer die direkte Begegnung zwischen Flüchtlingen und Einheimischen. Das denke ich, schafft dann wirklich Nähe, und dass man sagen kann, es sind nicht die Anderen, sondern ich kenn´ da jemanden und jeder hat da zwei Ohren, ne Nase und ein Gesicht und das passt zueinander."
Pfarrer Michel glaubt schon, dass es einen Zusammenhang zwischen 1945 und 2015 gibt, eine Art sächsisches Ortsgedächtnis von Flucht und Vertreibung. Er wägt seine Worte kurz ab.
"Vielleicht nicht der Flucht, sondern vielleicht eher ein Ortsgedächtnis des dynamischen Zusammenkommens. Ob damals die Flüchtlinge oder damals die Zugezogenen wegen der Arbeit. Animositäten gab es schon immer gegenüber anderen Gruppierungen und genauso denke ich auch viele Bemühungen deswegen, auch kulturell oder durch andere Möglichkeiten, Brücken zueinander zu schlagen."
Der Bund der Vertriebenen in Hoyerswerda hat aus diesem Grund einen Kinderkulturtag eingeführt. Einheimische und geflüchtete Kinder können dort miteinander spielen, sich besser kennen lernen.
"Ich möchte sagen, dass es eigentlich eine menschliche Grundeinstellung zum anderen Menschen, egal, welcher Hautfarbe, welcher Religion und wie man im Elternhaus erzogen worden ist, ja?"
Die Hilfsbereitschaft für Menschen in Not ist in Sachsen allgegenwärtig, aber eben auch die Abneigung gegenüber den Fremden. Ob 1945 oder 2015. Marianne Engelmann vom Bund der Vertriebenen fasst es so zusammen.
"Na ja, ein Land kann ja auch nur eine bestimmte Anzahl aufnehmen, dann ist eben Schluss. Auf der einen Seite ist es ja Pflicht, einem anderen zu helfen, der in Not ist. Das beißt sich dann."
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