"Flüchtlinge werden in Deutschland mies behandelt"

Moderation: Dieter Kassel |
Besorgniserregend findet Heribert Prantl die Situation der Asylbewerber in Deutschland. Die Behandlung der Flüchtlinge sei oft diskriminierend und menschenunwürdig, meint das Mitglied der Chefredaktion der "Süddeutschen Zeitung".
Dieter Kassel: Asylbewerber leben in Deutschland meist in Unterkünften, die sehr abgelegen sind und von denen sie sich auch nur innerhalb eines bestimmten Umkreises entfernen dürfen. Von der breiten Bevölkerung werden sie deshalb als Individuen, als Menschen kaum wahrgenommen, nur als Personengruppe, die gelegentlich in den Nachrichten auftaucht. Von Würzburg aus brachen einige deshalb schon im vergangenen Herbst auf nach Berlin, und auch wenn inzwischen nur noch spärlich darüber berichtet wird, da sind sie immer noch, beziehungsweise nicht mehr, nicht mehr alle, denn einige sind nun wiederum von Berlin aus aufgebrochen zur sogenannten Refugee-Revolution-Tour. Beitrag in Radiofeuilleton, Deutschlandradio Kultur (MP3-Audio) Dorothea Jung mit ein paar Hintergründen.

Dorothea Jung war das über die Proteste von Asylsuchenden in Deutschland und die Hintergründe. Am Telefon ist jetzt Heribert Prantl, er ist der Ressortleiter Innenpolitik bei der "Süddeutschen Zeitung" und seit vielen Jahren ein genauer Beobachter und scharfer Kritiker der deutschen Asylgesetzgebung. Schönen guten Morgen, Herr Prantl.

Heribert Prantl: Guten Morgen, Herr Kassel.

Kassel: An der Lage der Flüchtlinge hat sich ja eigentlich seit einer ganzen Weile nichts Wesentliches geändert. Haben Sie eine Erklärung dafür, dass es jetzt plötzlich seit einigen Monaten diese Proteste gibt?

Prantl: Nun ja, es ist tatsächlich so, dass die Situation der in einem Dampfkessel ähnelt, und irgendwann muss der Druck heraus. Die Situation im deutschen Asylrecht ist eigentlich besorgniserregend. Sie ist diskriminierend, sie ist menschenunwürdig ‒ das nicht erst seit einem Jahr oder seit zwei Jahren, sondern seit 20 Jahren, seit dem neuen Asylrecht, seit der Abschaffung des alten Asylgrundrechts, des Artikel 16 Absatz 2 Grundgesetz. Dieses Abschaffung des alten Asylgrundrechts ging ja eine große Kampagne gegen die Flüchtlinge voraus, und seitdem werden Flüchtlinge, um es ganz volkstümlich und umgangssprachlich zu sagen, in Deutschland mies behandelt.

Kassel: Das heißt, wenn, wie gerade gehört, ein Asylbewerber sagt, dass Asylbewerberleistungsgesetz sei purer Rassismus, dann würden Sie das unterschreiben?

Prantl: Es stecken rassistische Elemente drin, und das Asylbewerberleistungsgesetz ist kein Asylbewerberleistungsgesetz , sondern das ist eigentlich ein Asylbewerberleistungsausschlussgesetz. Und die Proteste – nicht nur die Proteste der Flüchtlinge, sondern auch die Proteste der Flüchtlingshilfsorganisationen, von Pro Asyl und vielen anderen – haben, glaube ich, da auch dazu geführt, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil von Juli 2012 dieses Asylbewerberleistungsgesetz für verfassungswidrig erklärt hat. Es war ja so, dass die Leistungen der Flüchtlinge extrem unter den Leistungen lagen, die in Deutschland als Existenzminimum gelten. Und das Gericht sagte, es geht nicht, dass Asylbewerber sozusagen noch weit unter dem Existenzminimum liegen.

"Dann werden die Menschen in den Kommunen rebellisch"
Kassel: Wie nehmen Sie denn nun, Herr Prantl, die öffentlichen Reaktionen in der Politik, aber auch sonstwo, auf diese Proteste wahr? Ich habe es ja erwähnt: Zwischen dem eigentlichen Marsch von Würzburg nach Berlin und den neuen Aktionen jetzt liegen Monate, und ich hatte doch sehr das Gefühl, das ist relativ aus der öffentlichen Wahrnehmung doch wieder verschwunden.

Prantl: Man versucht, das zu verdrängen, man versucht, es als Problematik einer Randgruppe darzustellen. Aber es ist nicht so – wenn es um die Frage der Humanität geht, dann geht es um die Humanität des Rechts in Deutschland. Das ist nicht etwas, das eine Randgruppe angeht, und ich glaube auch nicht, dass man die Augen auf Dauer verschließen kann. In der öffentlichen Wahrnehmung ist das sicherlich immer so, dass, solange Asylbewerber und das Asylrecht als Abstraktum diskutiert wird, die Beschäftigung nicht sehr intensiv ist.

Immer dann, wenn es um ganz konkrete Schicksale geht, wenn es darum geht, dass Flüchtlinge abgeschoben werden, obwohl sie meinetwegen schon ganz gut integriert sind, wenn das Schicksal an die Menschen heranrückt, wenn in den Lokalzeitungen Schicksale geschildert werden, dann wird die Öffentlichkeit wach, dann wird das, wie es auch Fälle in Niedersachsen gab – Niedersachsen war, bis zum Regierungswechsel jedenfalls, ein Land mit einer besonders brutalen Abschiebepolitik –, dann werden auch die Menschen in den Orten, in den Kommunen rebellisch und stellen sich hinter die Flüchtlinge und fordern die Politik auf, in der Flüchtlingspolitik ein bisschen humaner zu werden.

Kassel: Dann reden wir doch mal über die Menschen – Sie sind ja selber schon 20 Jahre zurückgegangen. Also vor über 20 Jahren, am 6. Dezember 1992, wurde der sogenannte Asylkompromiss beschlossen von der Politik, ein gutes halbes Jahr später ging das veränderte Asylgesetz in Kraft, trat es in Kraft. Aber seitdem werfen Sie der Politik ja vor, dass sie das gemacht hat. Aber wenn wir 20 Jahre zurückdenken, Sprüche wie "Das Boot ist voll" waren damals in der sogenannten Mitte der Gesellschaft. Hätte denn damals – heute ist es vielleicht ja anders – die Politik sich überhaupt anders entscheiden können?

Prantl: Natürlich hätte sie sich anders entscheiden können. Es war der Versuch, schlichtweg Mauern um Deutschland zu bauen und das Problem nicht mehr wahrzunehmen, zu sagen "Wir haben zu viel, wir können nicht mehr, wir schaffen deswegen ein Grundrecht ab". Und Grundrecht ist dafür da, dass es Menschen in extremen Situationen hilft. Man hat damals tatsächlich Grundrechte verketzert und das Ergebnis waren Ausschreitungen, das Ergebnis waren Attacken auf Flüchtlingsheime. Wir haben im vergangenen Jahr an die Überfälle, an die Brandstiftungen in Solingen, in Hünxe et cetera, bei denen Flüchtlinge ermordet wurden von Brandstiftern. Diese Brandstiftungen, diese Ausschreitungen waren die Folge der Agitation im Umfeld der Änderung des Asylgrundrechts. Die Änderung des Asylgrundrechts hat zu diesen Ausschreitungen beigetragen. Da wurde, glaube ich, wirklich Schuld, da hat die deutsche Politik Schuld auf sich geladen.

Kassel: Aber manche sehen es umgekehrt. Es gab ja auch schon vor den Asylrechtsänderungen Ausschreitungen unmittelbar davor, und manche argumentieren, hätte die Politik damals nicht das getan, was sie getan hat, dann hätte sie Platz am rechten Rand gelassen, und dann wäre möglicherweise eine rechte Partei stärker geworden.

Heribert Prantl, Ressortchef Innenpolitik und Mitglied der Chefredaktion der "Süddeutschen Zeitung"
Heribert Prantl© picture alliance / dpa / Jörg Carstensen
"Grundrechte in kritischer Situation verteidigen"
Prantl: Das glaube ich nicht, dass man dadurch gute Politik macht, indem man die politischen Haltungen des rechten Rands übernimmt, und genau das ist damals gemacht worden. Grundrechte sind dafür da, dass man sie in kritischer Situation verteidigt. Das ist die dauerhafte Schuld der deutschen Politik, dass sie ein Grundrecht in zugegeben schwieriger Lage, indem Flüchtlinge ja nicht aus Jux und Tollerei nach Deutschland geflohen sind, sondern weil die Zonen in der Welt, in der es Flüchtlingen, in der es Menschen dreckig ging, zugenommen haben, in der der Druck stieg, in der die Verfolgung stieg, dass man just in dem Augenblick in Deutschland den Schutz eingeschränkt hat und damit – das ist ja das Furchtbare am deutschen Asylrecht – dem europäischen Asylrecht ein schlechtes Vorbild gab. Das europäische Asylrecht heute basiert ja letztendlich auf den Änderungen, die Deutschland vor 20 Jahren gemacht hat, und übernimmt diese.

Kassel: Glauben Sie denn, dass sich durch diese Proteste jetzt und durch eine – Sie haben es beschrieben – vielleicht sich auch ändernde Stimmung in der Bevölkerung, glauben Sie, dass sich auch politisch was ändern wird? Glauben Sie, man kann da was zurücknehmen?

Prantl: Ich glaube schon, dass man ein bisschen mehr Humanität in die Politik bringen kann. Schauen Sie, vor 25 Jahren, jetzt vor 28 Jahren wurde Pro Asyl gegründet. Das war damals ein kleiner, eher belachter, mickriger Verein, dessen Thesen in der Politik eigentlich überhaupt auf keine Resonanz stießen. Das hat sich sehr verändert, weil der Widerstand gegen Gleichgültigkeit, gegen Kaltschnäuzigkeit, gegen Kaltherzigkeit, wenn er nur lang genug dauert, sich doch rentiert.

Max Weber hat 1919 gesagt in seiner schönen Schrift "Politik als Beruf", dass Politik das Bohren harter Bretter sei. Und ich glaube, nirgendwo sind die Bretter so dick und so hart und so widerstandsfähig wie in der Asylpolitik. Es dauert lange, bis hier was erreicht wird, das Beispiel Pro Asyl stimmt mich positiv, und ich glaube, die jetzigen Proteste werden nicht innerhalb von drei oder vier Monaten zu Änderungen führen, aber sie werden doch Eindruck machen und erst einmal vielleicht die Stimmung in einem bewussteren Teil der Öffentlichkeit verändern, dann auch sich auf die Rechtsprechung auswirken.

Es ist ja nicht so, dass die Rechtsprechung stur das Asylrecht exekutiert, dass man sagt, Drittstaatenklausel, jemand, der auf dem Weg nach Deutschland über einen anderen Staat gekommen ist, wird, koste es, was es wolle, zurückgeschoben. Auch hier haben die Verwaltungsgerichte ja gesagt, wir schieben zum Beispiel nicht mehr nach Griechenland ab, weil dort keinerlei Schutz gewährleistet ist. Ich denke, solche Reaktionen zunächst der Justiz, später auch der Politik, sind ein Ergebnis eines bewussten, eines Bewusstseinsprozesses in der Öffentlichkeit, der erst einmal von kleinen Gruppen ausgeht und dann vielleicht ein bisschen mehr umfasst.

Kassel: Heribert Prantl, Leiter des Innenpolitikressorts bei der "Süddeutschen Zeitung" über die aktuellen Proteste von Asylsuchenden in Deutschland und ihre Hintergründe. Herr Prantl, vielen Dank.

Prantl: Ich danke Ihnen.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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