Wir reden über Grenzkontrollen, aber nicht über Integration
Erst gingen unsere Produkte in die Welt, nun kommen die Menschen aus der Welt zu uns. Die Globalisierung kehre sich um, meint der Berliner Journalist Marc Brost. Darum müsse Deutschland darüber reden, wie es die Integration schaffen kann. Ganz konkret.
Alles dreht sich jetzt um ein einziges Wort. "Wir schaffen das", hat Angela Merkel im Sommer gesagt – und nun soll sie vor die Presse treten und diesen Satz um ein Wort ergänzen: Wir schaffen das NICHT. Wir bekommen das nicht hin, es sind einfach zu viele, deswegen brauchen wir einen temporären Aufnahmestopp oder besser noch: wir machen die Grenzen ganz dicht. Das wollen Merkels Gegner.
Aber: Wäre es für Merkel denn überhaupt möglich, morgen zu sagen: Wir schaffen das NICHT? Was für ein Signal wäre das denn, welche Verzagtheit würde daraus sprechen? Wäre es wirklich kluge Regierungsarbeit, uns Bürgern zu sagen: die Aufgabe ist zu groß, wir stecken den Kopf in den Sand, wir ducken uns weg und hoffen, das Ganze ginge irgendwie an uns vorbei?
Migranten folgen der Route zum Wohlstand
Es wird aber nicht vorbeigehen und es wird auch nicht auch aufhören – denn "es", das sind Menschen, die sich auf den Weg zu uns gemacht haben. Menschen, die vor Hunger und Not fliehen. Vor Krieg und Tod.
Und wir sollten uns bewusst machen, dass das, was wir im Augenblick erleben, nichts weniger ist als das Ende einer Epoche.
Über Jahrhunderte hinweg liefen die Dinge in eine für uns sehr angenehme Richtung. Wir verkauften Autos nach China, holten Rohstoffe aus Afrika, verschrotteten unsere Schiffe an den Küsten Indiens und verklappten unseren Müll auf den Weltmeeren. Ein Teil der Welt, unser Teil, wurde reicher. Das nannten wir dann Globalisierung. Und auch wenn Länder wie China und Indien aufgeholt haben, hat sich an dieser Wohlstandsverteilung im Wesentlichen nichts geändert.
Nun aber dreht sich die Globalisierung gewissermaßen um: Auf einmal kommt der andere, ärmere Teil der Welt, zu uns. Weil es bei uns friedlich ist. Weil die Luft und das Wasser sauber sind und die Böden fruchtbar. Weil es hier Bildung gibt und die Frauenrechte eingehalten werden.
Nicht über Grenzen, über Integration sollte geredet werden
Diese Menschen sehen im Fernsehen oder im Internet, wie es bei uns aussieht. Sie lesen oder hören von ihren Freunden bei Twitter oder Skype, wie diese bei uns leben. Und mit jedem Flüchtlingstreck, jedem Flüchtlingsboot, werden die Ungerechtigkeiten zwischen arm und reich, zwischen "denen" und "uns" sichtbarer.
Wenn das aber so ist, dann stellt sich auf einmal eine ganz andere Frage als die, ob Merkel ihr "Wir schaffen das" demnächst durch das Wörtchen NICHT ergänzt. Dann geht es vielmehr darum, WIE wir es schaffen können. Und dann müssen wir endlich darüber reden, was wir mit den Flüchtlingen und für die Flüchtlinge machen wollen, die schon bei uns im Land sind.
Denn in Wahrheit ist es doch so: Wir haben in den vergangenen Wochen sehr viel über Grenzkontrollen geredet, aber fast gar nicht über Integration.
Aufgeheizt durch den bayerischen CSU-Ministerpräsidenten Horst Seehofer, der sich benimmt, als würde demnächst in Bayern gewählt und nicht in drei anderen Bundesländern, auch wegen Seehofer also haben wir in der ganzen Flüchtlingsfrage einen großen blinden Fleck.
Deutschland sucht händeringend Fachkräfte
Denn auch bayerische Unternehmen suchen händeringend nach Arbeitskräften, nach gut ausgebildeten Fachkräften! Und wie kann es sein, dass wir über die Begrenzung der Zuwanderung sprechen, während wir gleichzeitig Zuwanderer brauchen?
Ja, es stimmt schon: Merkel muss ihr "Wir schaffen das" korrigieren. Aber nicht, in dem sie daraus ein "Wir schaffen es nicht" macht. Sondern: Indem sie endlich klar macht, was es zu schaffen gilt: Mehr Wohnungen, mehr Lehrer, mehr Polizisten, Sprachkurse für Flüchtlingen, Ausbildungsplätze für Flüchtlinge, Studienplätze für Flüchtlingen – damit wir nicht eine Million neue Hilfsarbeiter bekommen, sondern gut ausgebildete Menschen, die hier eingebunden sind, unsere Werte kennen und unsere Sprache können.
Darum haben wir uns noch gar nicht gekümmert, aber das müssen wir schaffen. Und es wäre doch gelacht, wenn wir es nicht hinbekommen.
Marc Brost, geboren 1971 in Mannheim, studierte Wirtschaftswissenschaften an der Universität Hohenheim. Nach einem Volontariat an der Georg-von-Holtzbrinck-Schule in Düsseldorf wurde er 1999 Redakteur der Wochenzeitung "Die Zeit" in Hamburg, später Wirtschaftspolitischer Korrespondent in deren Berliner Hauptstadtbüro, das er seit 2010 leitet. Ausgezeichnet wurde er u.a. mit dem Ludwig-Erhard-Förderpreis für Wirtschaftspublizistik (2003), dem Theodor-Wolff-Preis (2006), dem Helmut-Schmidt-Journalistenpreis (2009) und dem Otto Brenner Preis für kritischen Journalismus (2013.)