Flüchtlingsbeauftragte Dietlind Jochims

"Kirchenasyle offenbaren Mängel in der Asylpolitik"

In der Lutherkirche in Erfurt spricht Pfarrerin Dorothee Müller (M) am 03.07.2006 mit dem Kurden Veysel Sönmez und seiner Frau Semsye. Die Gemeinde hat sich entschieden, den beiden Kirchenasyl zu gewähren.
In der Lutherkirche in Erfurt spricht Pfarrerin Dorothee Müller mit einem kurdischem Paar, dem Kirchenasyl gewährt wurde; Aufnahme von 2006 © dpa / picture alliance / Martin Schutt
Moderation: Kirsten Dietrich |
In 226 Fällen gewähren Gemeinden zur Zeit Kirchenasyl. Dietlind Jochims, Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirchenasyl, glaubt nicht, dass wegen dieser kleinen Zahl so ein Aufhebens ums Kirchenasyl gemacht wird.
Kirsten Dietrich: Auch aus dem im Gespräch erwähnten BAMF, also dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, war das Kirchenasyl scharf kritisiert worden. Aber man redet auch miteinander. Am Dienstag trafen sich Vertreter des Bundesamtes mit denen der Kirchen. Die Ergebnisse dieses Treffens wurden erst kurz vor unserer Sendung öffentlich gemacht. Ich habe darüber mit Dietlind Jochims gesprochen, der Vorsitzenden der Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche und Flüchtlingsbeauftragten der evangelischen Nordkirche. In 226 Fällen gewähren Gemeinden zurzeit Kirchenasyl, etwas über 400 Personen betrifft das. Warum wird diese geringe Zahl eigentlich als so bedrohlich empfunden? Das wollte ich von Dietlind Jochims wissen.
Dietlind Jochims: Ich stelle diese 400 Menschen ganz gerne mal in Relation, weil es mir tatsächlich so geht wie Ihnen auch: 400 Menschen bei etwas über 200.000 gestellten Asylanträgen 2014, bei ungefähr 36.000 anstehenden Rücküberstellungen in andere EU-Länder und bei gut 4000, die davon durchgeführt werden konnten, ist keine wirklich relevante Zahl. Es kann also um die Zahl alleine nicht gehen.
Dietrich: Aber worum geht es dann?
Jochims: Ich kann nur spekulieren, ich kann nur vermuten. Ich vermute, mit der zunehmenden Zahl von Kirchenasylen besonders in Dublin-Fällen ...
Dietrich: Also das heißt in Fällen – Entschuldigung, dass ich den Begriff kurz erkläre –, in Dublin-Fällen, das heißt, in Fällen, wo das Verfahren in einem anderen EU-Land gestellt werden muss, weil dort der Flüchtling oder der Asylsuchende zuerst die EU betreten hat.
Wunder Punkt der europäischen Asylpolitik
Jochims: Ich vermute, dass mit der steigenden Zahl von Kirchenasylen ein wunder Punkt in der europäischen Asylpolitik deutlich wird, dass nämlich nicht, wie angenommen, innerhalb Europas alle Menschen, die geflohen sind, die gleichen Schutzstandards bekommen, sondern dass im Gegenteil auch innerhalb Europas Menschenrechte verletzt werden, wenn Menschen zum Beispiel nach Italien, Bulgarien oder Polen wieder abgeschoben werden sollen. Und dass Kirchengemeinden bei diesen drohenden Menschenrechtsverletzungen einschreiten und sagen, so geht es nicht, offenbart in der Summe der Fälle natürlich auch Mängel in der Asylpolitik.
Dietrich: 226 Gemeinden gewähren zurzeit Kirchenasyl. Vor Jahresfrist waren das 34. Woher kommt dieser enorme Anstieg?
Jochims: Der enorme Anstieg hängt ganz direkt mit dem enormen Anstieg bei den Flüchtlingszahlen zusammen. In Relation, also prozentual behaupte ich, dass es gar nicht mehr Kirchenasyle im Verhältnis zu den Flüchtlingen gibt. Absolut sind es natürlich mehr. Und das ist auch ein Zeichen dafür, dass die Zivilgesellschaft und dass Kirchengemeinden inzwischen wacher sind und mehr hinschauen, mehr Kontakt zu Flüchtlingen haben, mehr engagiert sind in der Flüchtlingssolidarität und dann auch sehen, wo es an Punkte kommt, wo Handeln gefragt ist, dass manchmal eben auch Ausnahmemaßnahmen wie ein Kirchenasyl erforderlich macht.
Dietrich: Diese Ausnahmemaßnahme Kirchenasyl führt seit Wochen zu Streit zwischen der Regierung, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und Kirchenvertretern – wir haben es bereits vorher gehört. Diese Woche stand jetzt im Zeichen der verbalen Abrüstung, so hat es Kardinal Reinhard Marx gesagt, der Vorsitzende der Bischofskonferenz. Es gab am Dienstag ein Treffen vom Bundesamt für Migration mit den Kirchenvertretern beim Bund, und am Freitag erst eine relativ dünne Stellungnahme der Kirchen. Der evangelische Prälat Martin Lutzmann spricht von Kurskorrektur, der Präsident des Bundesamts für Migration stelle, Zitat, "das Kirchenasyl nicht in Frage", Zitat Ende. Macht das für Sie auch schon eine Kurskorrektur aus?
Jochims: Erst einmal erleichtert es mich, dass Vorwürfe wie, das Kirchenasyl würde sich außerhalb des Rechtsstaates stellen, oder die fundamentale und prinzipielle Ablehnung, die Innenminister de Maizière geäußert hat, dass diese Dinge vom Tisch sind. Das ist im Prinzip ein Zurückkehren zu der jahrzehntelangen Toleranz und Akzeptanz, die die Behörden für Kirchenasyl gehegt haben.
Dietrich: Trotzdem ist das ja eine Zustimmung oder eine Akzeptanz mit Verfallsdatum. Eines der Ergebnisse ist auch, dass das Kirchenasyl bis zum Herbst in der bisherigen Form aufrechterhalten werden kann. Warum denn diese Frist?
Jochims: So, wie ich es verstanden habe, geht es um ein Ausprobieren von neuen Formen der Härtefallprüfung in Zusammenarbeit von Bundesamt und Kirchen. Und für dieses sogenannte Pilotprojekt ist eine Frist gesetzt worden, und dann wird es an eine Evaluation gehen, und man wird schauen, wie es weitergeht.
Dietrich: Ist das ein Pilotprojekt, das auch auf die Zustimmung von Unterstützerinnen und Unterstützern des Kirchenasyls, wie eben Ihrer Arbeitsgemeinschaft trifft, also Einzelfälle direkter absprechen zu können?
Macht das Kirchenasyle überflüssig?
Jochims: Grundsätzlich denke ich, es trifft auf ganz breite Zustimmung. Alles, was dem Schutz, dem Menschenrechtsschutz von Flüchtlingen dient. Und wenn das in Einzelfällen in einer erweiterten Kooperation auch mit dem Bundesamt geschehen kann, dann ist das gut. Die Frage ist, können damit wirklich alle Härten vermieden werden? Ist das etwas, was Kirchenasyle überflüssig macht? Diese Fragen, wie auch die Fragen, wie denn so etwas überhaupt aussehen soll, sind noch völlig offen und müssen noch besprochen werden.
Dietrich: Was hätten Sie sich denn als Ergebnis noch gewünscht zusätzlich?
Jochims: Ich bin erstaunt über dieses Moratorium des Aufschubs der 18 Monate. Und ich habe aber viele Fragen noch an dieses Gespräch.
Dietrich: Sie haben diese 18-Monatsfrist erwähnt. Das ist ja diese drohende Verlängerung der Abschiebefrist in eben diesen Dublin-Verfahren, wo Flüchtlinge innerhalb von Europa weitergereicht werden, um das passende Land für ihr Verfahren zu finden. Diese Frist beträgt jetzt sechs Monate. Die soll verlängert werden auf 18 Monate. Warum ist das so ein wichtiger Punkt im Kirchenasyl?
Jochims: Grundsätzlich sind Fristen für die Gewährung von Kirchenasyl vollkommen irrelevant, denn bei dem Schutz von Menschenrechten geht es ja nicht darum, wie lange dauert es denn, um diese Rechte durchzusetzen. Allerdings ist bei der angesprochenen Verlängerung der Fristen vor allem bedenklich, dass damit die Flüchtlinge, die sich im Kirchenasyl befinden, kriminalisiert würden, weil die Verlängerung stattfindet mit dem Argument, dass Menschen im Kirchenasyl in Anführungszeichen "flüchtig" wären und damit gleichgestellt sind Menschen, die untergetaucht sind. Das finde ich das Schwierigste daran.
Und natürlich ist die Frage, wem denn mit einer Verlängerung dieser Fristen gedient wäre: den Flüchtlingen, die sich noch viel längere Zeit in einer völligen Ungewissheit befinden? Den Kirchengemeinden, denen humanitäre Hilfe deutlich erschwert wird? Dem Bundesamt, das immer länger Menschen in Aktenstapeln vor sich liegen hat? Sprich, ich erkenne die Sinnhaftigkeit dieser Verlängerung auf 18 Monate überhaupt nicht und würde sie für eine reine Erschwerung der humanitären Arbeit von Kirchen und Kirchengemeinden halten.
Dietrich: Das Kirchenasyl, das haben die beiden Repräsentanten der Kirchen beim Bund in dem Gespräch mit dem Bundesamt für Migration betont, ist kein rechtliches Instrument, es sei auch kein politisches Instrument, mit dem man den Umgang der EU mit Flüchtlingen kritisiert, sondern eine christlich-humanitäre Nothilfe. Was ist für Sie als Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche das Kirchenasyl?
Jochims: In Einzelfällen und in jedem Einzelfall ist es tatsächlich eine humanitäre Hilfe von Menschen in Notlagen und Härten. Ich kann natürlich aber die Augen nicht davor verschließen, dass aus einer Vielzahl von Einzelfällen sich Erkenntnisse ergeben, die zeigen, dass mit der europäischen Asylpolitik etwas ganz grundlegend nicht stimmt.
Dietrich: Dietlind Jochims war das, Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche und Flüchtlingsbeauftragte der evangelischen Nordkirche.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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