Flüchtlingsdebatte

Thea Dorn kritisiert deutsche "Idealismusseligkeit"

Drei junge Frauen stehen mit einem Begrüßungsplakat mit der Aufschrift "Refugees Welcome" für Flüchtlinge an den Gleisen.
Willkommenskultur am Hauptbahnhof Frankfurt am Main © dpa / Frank Rumpenhorst
Thea Dorn im Gespräch mit Korbinian Frenzel |
Die Deutschen hätten sich immer damit schwer getan, einen Weg der Besonnenheit zu gehen, kritisiert die Schriftstellerin Thea Dorn. Den Menschen, die jeden einzelnen Flüchtling mit einem Teddybär begrüßen möchten, stünden die rechten Schreihälse gegenüber.
Die Schriftstellerin Thea Dorn hat die gegenwärtige Flüchtlingsdebatte in Deutschland scharf kritisiert. Auf der einen Seite gebe es "diese idealismusseligen Deutschen, die im Grunde sagen, jeder Flüchtling muss persönlich begrüßt werden, am besten mit Teddybär und Luftballons", so Dorn im Deutschlandradio Kultur. Diesen gegenüber stünden extremistische Schreier mit ihren Parolen. "Das sind alles Motive, die man aus der deutschen Geschichte kennt", so die Schriftstellerin und Philosophin. "Und die Deutschen haben sich, das muss man einfach sagen, auch immer schwer damit getan, einen Weg der Besonnenheit zu gehen, diese Extreme im Zaum zu halten."
"Weiß die Frau noch, was sie tut?"
Sie neige nicht zu Hysterie oder Panik, sagte Dorn, aber sie finde es besorgniserregend, wenn eine Bundeskanzlerin "so einen idealistischen Satz wie 'Wir schaffen das' einfach in den Raum stellt, wo eine erhebliche Zahl der Deutschen den Eindruck hat: Weiß die Frau noch, was sie tut?" Merkels Satz sei "menschlich zutiefst sympathisch", aber man sorge sich, "was das politisch heißen soll".
Die Schriftstellerin warnte ferner davor, die Flüchtlingsdebatte mit einer Debatte um Werte oder deutsche Identität zu vermischen. Zunächst müsse man über "westliche zivilisatorische Mindeststandards im Umgang miteinander" reden, betonte sie. "Es muss klipp und klar gestellt werden, dass diese Standards von Menschen, die hierher geflohen sind vor der Barbarei, die in ihren Heimatländern herrscht, nicht Aspekte dieser Barbarei mitschleppen, indem sie zum Beispiel ein Frauenbild, ein Geschlechterbild haben, was wir einfach hier nicht akzeptieren können und dürfen."
Integration in die deutsche Kultur könne "in einem gewissen Rahmen" funktionieren, so Dorn. "Die Frage ist natürlich, wo sind einfach Mengen erreicht, wo es nicht mehr funktionieren kann?"

Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Wer sich fragt, wie Deutschland sich verändern wird durch die vielen Menschen, die zu uns kommen, der muss eigentlich eine Frage erst mal vorwegstellen: Was macht dieses Deutschland überhaupt aus? Eine Debatte darum, eine Wertedebatte hat Alois Glück, der Vorsitzende des Zentralrats der Katholiken, bei uns im Programm gefordert Anfang der Woche, und genau das wollen wir weiter tun, debattieren mit einer Frau, die nicht nur spannende Krimis schreibt, sondern auch die deutsche Seele beschrieben hat gemeinsam mit Richard Wagner, in einem Buch 2011 unter diesem Titel erschienen. Die Schriftstellerin und Moderatorin Thea Dorn, ich grüße Sie, guten Morgen!
Thea Dorn: Ja, wunderschönen guten Morgen!
Der Geist der alten Bundesrepublik: "Hört mir auf mit diesem Thema Deutschland!"
Frenzel: Wir machen es uns zu einfach, wenn wir die Frage "Was ist deutsch" reflexhaft abwehren und sie einzig im Verborgenen rumoren lassen. Das haben Sie damals geschrieben, Frau Dorn, im Vorwort. Wissen wir zu wenig, wer wir sind, was diese Gesellschaft ausmacht?
Dorn: Die Frage danach, was deutsch sein könnte, wurde zumindest während meiner Lebenszeit, die 1970 begann, ja immer eher reflexhaft abgewehrt. Es war klar, wir Deutsche haben uns historisch die Hände schmutziger als schmutzig gemacht, wir haben eines der grauenvollsten Menschheitsverbrechen begangen. Und deshalb bin ich in dem Geist groß geworden, der für die Bundesrepublik, glaube ich, sehr typisch war, zu sagen: Hört mir einfach auf mit diesem Thema Deutschland! Und das ging ja auch einige Jahrzehnte relativ gut.
Und ich würde sagen, letztlich spätestens seit der Wiedervereinigung tauchen Risse in dieser Haltung auf. Zu sagen, na ja, wir machen uns gar keine Gedanken darüber, wir akzeptieren einfach, dass es uns gibt, und ansonsten wird über all das ... So was wie, ich hasse das Wort Identität, deshalb haben wir das Buch auch "Die deutsche Seele" genannt und nicht "Die deutsche Identität", also eben, was so was wie eine deutsche Seele ausmachen könnte.
Permanentes Torkeln zwischen Extremen
Frenzel: Es verweigern sich ja nicht alle dieser Debatte, dieser Frage: Was ist deutsch. Ich muss da jetzt leider unweigerlich an Pegida und AfD denken, die das tun, die sich damit beschäftigen und das Land ja nicht unbedingt voranbringen.
Dorn: Das nenne ich nicht Debatte, das ist Pöbelei, das ist zum Großteil inzwischen Hetzerei, das ist Geschrei. Das ist ein völliger Missbrauch des Wortes Diskussion darüber, was deutsch ist. Das ist einfach nur grell, hässlich und laut. Was wir gemacht haben, dass man tatsächlich einfach sich dieses merkwürdige Land mit dieser zerklüfteten Geschichte, dass man sich dieses Land einfach wieder mal genauer anguckt, dass man sich fragt, was war los in den Zeiten meinetwegen im späten 18. Jahrhundert, wo die Deutschen von einem unglaublichen Idealismus beseelt waren, dann kippt das Ganze im frühen 19. Jahrhundert, es kommt ein sehr rasselnder Nationalismus.
Also, diese deutsche Geschichte torkelt ja auch permanent zwischen Extremen hin und her. Und wenn man nie über den bundesrepublikanischen Tellerrand hinausgeguckt hat, dann hat man natürlich auch überhaupt kein Gespür dafür, was in diesem Land passiert. Es gibt eben in maßgeblichen Milieus diesen Reflex zu sagen: Es ist bäh!
Mit dem "Weg der Besonnenheit" haben sich die Deutschen immer schwer getan
Frenzel: Was ist denn Ihre Antwort heute, wenn ich frage, was ist deutsch?
Dorn: Auf der einen Seite haben wir diese idealismusseligen Deutschen, die im Grunde sagen, jeder Flüchtling muss persönlich begrüßt werden, am besten mit Teddybär und Luftballon, auf der anderen Seite die extremistischen Schreier, die anfangen, rassistische Parolen zu verbreiten. Das sind alles Motive, die man aus der deutschen Geschichte kennt, und die Deutschen haben sich – muss man einfach sagen – auch immer schwer damit getan, einen Weg der Besonnenheit zu gehen, diese Extreme im Zaum zu halten.
Ich neige nicht zu Hysterie oder Panik, aber ich finde das tatsächlich besorgniserregend, was im Augenblick passiert, wenn zum Beispiel eine Bundesregierung oder eine Bundeskanzlerin, muss man erst mal sagen, so einen idealistischen Satz wie "Wir schaffen das!" einfach in den Raum stellt, wo eine erhebliche Zahl der Deutschen den Eindruck hat, weiß die Frau noch, was sie tut, außer dass sie diesen großen idealistischen Satz gesagt hat, der menschlich zutiefst sympathisch ist, aber wo man tatsächlich Sorgen kriegen kann, was das politisch heißen soll.
Nur noch rührende Reste des deutschen Bildungsbürgers vorhanden
Frenzel: Sorgen gibt es ja nicht nur von Pegida und Co. und AfD, es gibt ja auch Stimmen wie die von Botho Strauß, von Rüdiger Safranski. Ich verkürzte die mal: Also, eine gewisse Angst vor dem Verlust des deutschen Charakters dieses Landes, teilen Sie diese Angst?
Dorn: Ich würde die Herren noch in einer gewissen Weise überholen und sagen: Sehr viel von diesem Charakter haben wir verloren. Für mich war eine der prägenden Figuren der deutschen Geschichte der letzten, sagen wir, grob 200 Jahre der deutsche Bildungsbürger, der seinen Stolz, sein Selbstbewusstsein daraus bezog, dass er mit der deutschen Kultur - jenseits von Bratwurst und Gartenzwerg -, dass er tatsächlich mit der deutschen Kultur, mit den Gedichten, mit der klassischen Musik vertraut war. Dieser Bildungsbürger hat leider den welthistorischen Bankrott erlebt, dass er in der Zeit der Diktatur, im Dritten Reich komplett versagt hat.
Und da ist was tot, was, glaube ich, so aus dem Stand auch nicht mehr wiederzubeleben ist. Also, es gibt sozusagen noch rührende Reste, es gibt noch die Abonnenten, die in die Oper gehen, es gibt noch die, die die Konzertsäle besuchen, aber das wird alles weniger.
Und das war für mich mal derjenige, der eine deutsche Identität, eine deutsche Seele zentral getragen hat. Und da ist meiner Meinung nach schon lange ein Vakuum entstanden, lange bevor wir die Fragen, die uns jetzt zu umtreiben, also, wie wird uns dieses Land verändern, wenn möglicherweise drei Millionen, fünf Millionen und mehr Einwanderer in zehn Jahren hier sind.
Eine "heillos idealistische Sicht auf die Dinge"
Frenzel: Aber Frau Dorn, glauben Sie denn, dass die, die zu uns kommen – sagen wir mal: ein Syrer, ein Iraker, ein Kosovare –, dass der genauso ein guter deutscher Bildungsbürger in dem Sinne werden kann, wie Sie es gerade beschrieben haben? Also, dass wir den vielleicht in drei, vier, fünf Jahren ganz normal neben uns in der Oper sitzen haben?
Dorn: Ich habe überhaupt kein Problem, zwischen einem Syrer und einem Kosovaren in der Oper zu sitzen und ich freue mich von Herzen, wenn demnächst einer aus dem Libanon oder aus Syrien Vorsitzender der Heinrich-Heine-Gesellschaft wird. Also, ich habe überhaupt nichts mit einem irgendwie gearteten Biodeutschentum oder deutschen Wesen oder ich weiß nicht was zu tun. Nur, wenn ich mir die Realitäten, so weit man sie als einzelner Mensch überhaupt verfolgen, beobachten, mitkriegen kann, anschaue, habe ich den Eindruck, das ist eine wiederum so heillos idealistische Sicht auf die Dinge ... Also, ich glaube nicht daran, dass es irgendwelche prinzipiellen Hinderungsgründe gäbe, dass es massenhaft syrische und so weiter Bildungsbürgerdeutsche eines Tages geben kann ...
Frenzel: Jetzt kommt das Aber!
Dorn: Ich sehe nur im Augenblick überhaupt nicht, wie das entstehen soll. Also, wo sollen die denn erzeugt werden? Da war mal eine klassische Institution, die Schulen, die Hochschulen. Wenn man sich anschaut, was für ein Stand von Wissen da heutzutage noch vermittelt wird, dann entstehen ja nicht mal mehr deutsche Bildungsbürger, die seit sieben Generationen oder noch länger deutsch sind.
Deshalb finde ich es eben ganz schwierig, das, was im Augenblick ja auch gerne wieder passiert, diese Frage nach einer deutschen Seele oder eben einer deutschen Identität zu vermengen mit der Flüchtlingsdebatte.
Auf einer anderen Ebene als dieser verworrenen, komplexeren deutschen Identität gibt es erst mal so was wie westliche, zivilisatorische Mindeststandards im Umgang miteinander. Und das ist, glaube ich, erst mal das, worüber man reden muss, dass man sagt, es muss klipp und klar gestellt werden, dass diese Standards von Menschen, die hierhergeflohen sind vor der Barbarei, die in ihren Heimatländern herrscht, nicht Aspekte dieser Barbarei mitschleppen, indem sie zum Beispiel ein Frauenbild, ein Geschlechterbild haben, was wir einfach hier nicht akzeptieren können und dürfen.
"Weltmeister der offenen Herzen" - eine "gefährliche Haltung"
Frenzel: Was machen wir denn dann, Frau Dorn, mit diesen Menschen? Wir können sie ja alle zum Beispiel mit in die Oper nehmen, mit ins Theater, wir könnten gemeinsam mit ihnen lesen, wir könnten all das vermitteln, was uns wichtig ist. Glauben Sie, dass das gelingen kann?
Dorn: In gewissem Rahmen kann das funktionieren. Die Frage ist natürlich, wo – und da bin ich nun wirklich nicht die Expertin, die da seriös Zahlen nennen kann –, wo sind einfach Mengen erreicht, wo es nicht mehr funktionieren kann? Aber diese Idee, die sozusagen ja ab Ende August, im September, also in diesen letzten Monaten ja auch viel grassiert, zu sagen, wir sind die Weltmeister der offenen Herzen, kommt alle her, das ist irgendwie eine gefährliche Haltung.
Frenzel: Klare Worte der Schriftstellerin Thea Dorn. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Dorn: Ja, gern geschehen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema