Von Überlastung kann nicht die Rede sein
Die Kommunen in NRW seien von dem Flüchtlingsansturm überfordert, schrieben deren Vertreter vor einem Monat in einem offen Brief an die Bundeskanzlerin und Ministerpräsidentin Kraft. Mittlerweile läuft es zumindest in der Stadt Brühl besser - dank vieler ehrenamtlicher Helfer.
Ein Keller in der Martin-Luther-Schule in Brühl.
"Was braucht ihr denn jetzt?"
"Ich brauche auf jeden Fall Männer-Sachen, ein paar Kinder-Sachen, Hosen. Ich weiß, wenn ich da so dran vorbeigehe, weiß ich alles im Kopf, also ich habe alle 40 gespeichert."
"Dann fangen wir hinten an, ja?"
Gerhard Münch arbeitet in der Kleiderbörse für Flüchtlinge. Ehrenamtlich. Gerade ist Tanja Raddatz vorbeigekommen. Seit vier Tagen ist die 30-Jährige beim Arbeiter-Samariter-Bund in der kleinen, knapp 45.000-Bewohner-Stadt im Rhein-Erft-Kreis in Nordrhein-Westfalen beschäftigt, kümmert sich um 40 Flüchtlinge im Stadtteil Heide. Winterbekleidung wird gerade gebraucht. Gerhard Münch geht vorweg:
"Also, hier, linke Seite ist Herren, sollte eigentlich sein, aber jetzt ist umsortiert im Moment."
Die Regale im Keller ziehen sich bis zu Decke. Darin: Kartons mit Geschlechterzeichen, "Damen, Schals, Winter, sortiert" oder "Hosen, Jeans + feste Materialien, Kleine Größen" steht darauf zum Beispiel.
"Das Spektrum ist eben nicht nur Kleidung. Wie sie gesehen haben, haben wir auch Fahrräder mit dabei, Kinderwagen, Bettwäsche, Decken, alles, was so, eigentlich zu täglichen Leben dazugehört."
Helferin Raddatz läuft durch die Kleiderständer mit den Jacken, geht sie einzeln durch.
"Klein ist L bei Euch?"
Der Keller ist bis auf den letzten Meter gefüllt, zwischenzeitlich wussten Münch und seine Kollegen gar nicht mehr, wohin mit all den Kleidern.
"Wir mussten das kurzerhand umdrehen und einen Spendenstopp verkünden, weil wir einfach nicht mehr die Kapazitäten hatten. Weder vom Personal, dass die Spenden hätte entgegennehmen können, als auch von den Lagerkapazitäten."
Es gibt auch schon ein Neugeborenes
Dieter Freytag, Brille und grauer Vollbart, sitzt in einem schwarzen, schweren Ledersessel in der Besucherecke seines geräumigen Büros. Brühls Bürgermeister trägt einen Anzug, weißes Hemd, rote Krawatte. Er ist seit Anfang letzten Jahres im Amt – und damit oberster Organisator der Flüchtlingslogistik in seiner Kommune: Während die Zahl der zugewiesenen Flüchtlinge in den letzten Jahren regelmäßig unter 100 lag, kümmert sich die Stadt derzeit um über 400 Flüchtlinge.
Hinzu kommt, dass Brühl mittlerweile auch für das Land NRW eine Erstaufnahmeeinrichtungsstelle aufgebaut hat. Unter anderem in einem ehemaligen Gartencenter wurden seit August insgesamt 225 Plätze geschaffen, die momentan ebenfalls fast belegt sind. Mittlerweile gibt es auch schon ein Neugeborenes:
"Da stellt sich mir schon die Frage: Wie ist das jetzt einzusortieren? Ist das ein Flüchtlingskind? Nach französischem Recht wäre es ein französischer Bürger. Aber das lass ich jetzt mal außen vor."
Freytag ist pragmatisch. Für grundsätzliche Debatten hat er aktuell auch keine Zeit, es geht vielmehr darum, all die organisatorischen Fragen zu beantworten: Aufnahme, medizinische Untersuchung, Unterbringung, Ausstattung mit Kleidern, Verpflegung, Freizeitgestaltung, Sprachkurse, Schulpflicht – die Liste der Aufgaben, die sich einer Kommune in diesen Tagen stellt, ist lang.
"Der erste Schritt war natürlich der aufwendigste, weil erstmal gedanklich alles durchdacht werden musste. Aber wenn das mal eingespielt ist, dann läuft das ja."
Doch so einfach, wie das klingt, war es nicht: Woher bekommt man 180 Betten? Woher die Impfstoffe? Wer fährt die Flüchtlinge? Freytag und Brühl half vor allem ein Faktor: das bürgerschaftliche Engagement:
"Also, dies Maß an Bereitschaft, sowohl Sachmittel, als auch Geld, als auch Zeit, im Sinne von ehrenamtlichem Engagement zu spenden, ist schon überwältigend."
Muss aber organisiert werden.
"Da haben wir eine spezielle Informationsveranstaltung gemacht, da kamen über 200 Leute, davon haben über 160 ihren Zettel mit Kontaktdaten da gelassen. Das stellt uns dann natürlich auch wieder vor eine neue Herausforderung, ich habe hier ja kein Personal, das eine Ehrenamtsbörse betreibt, aber genau das ist aufzubauen. Das haben wir dann gemacht: Wir haben Schulungen angeboten."
"Mer kenne uns, mer helfe uns"
Denn nicht nur die Ehrenamtler mussten einbezogen werden, auch das Personal in der Verwaltung sah sich mit neuen Aufgaben konfrontiert – und nahm diese an: Wohnung suchen, Möbel besorgen, Fahrdienste disponieren. Die medizinische Versorgung in Brühl erfolgt durch das Engagement niedergelassener Ärzte, die einen Tag in der Woche bereitstehen, die Volkshochschule bietet extra Sprachkurse an.
Dabei hilft das Netzwerk, das im Rheinland unter dem Prämisse läuft: "Mer kenne uns, mer helfe uns". Und wenn etwas fehlt, gibt es einen zielgerichteten Spendenaufruf:
"Wir brauchen kleine T-Shirt-Größen oder jetzt eben Pullover, weil es jetzt kälter wird, wir brauchen Turnschuhe in einer bestimmten Größe, 38 bis 42. Also, das sind jetzt Beispiele ja, um Himmels Willen jetzt nicht verkünden, die Sachen vorbeizubringen."
Letztens fehlte eine Mikrowelle, genau ein Gerät kam. Das Zusammenspiel zwischen Ehren- und Hauptamt, so Bürgermeister Freytag, funktioniert, beispielsweise auch in der Freizeit, wenn Kaffee-Kuchen-Runden angeboten werden oder Spieleabende. Und finanziell? Rund 10.000 Euro pro Jahr und Flüchtling bekommen die Kommunen in NRW 2016 nun. Der Bund zahlt 670 Euro pro Monat, das Land stockt auf 833 Euro auf.
"Das ist eine Hausnummer, da können wir zumindest mit leben als Städte."
Der laute Hilferuf per offenen Brief aus 215 NRW-Kommunen an Bundeskanzlerin Angela Merkel und NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft habe sich gelohnt, meint Freytag. Dennoch: Viele Aufgaben kommen noch, viele Fragen sind noch offen. Denn: Was geschieht, wenn die Flüchtlinge dauerhaft bleiben? Menschen aus Syrien bekamen zeitweilig direkt einen Aufenthaltsstatus und damit Reisefreiheit. Auch in Brühl gibt es sechs Syrier mit einem solchen Status, die allerdings nirgends in Deutschland Verwandte haben:
"Die sechs Personen haben überhaupt keine Bezüge, die wollen natürlich erst einmal in Brühl bleiben. Das heißt, wir müssen jetzt für die Wohnung suchen, damit die rauskommen, die Plätze wieder freimachen, dann geht es um Sprache, es geht um Arbeit. Das ist dann noch einmal ein neues Handlungsfeld."
Doch aktuell sieht Freytag seine Kommune gut aufgestellt. Von einer Überlastungsanzeige, wie sie andere Kommunen in NRW angebracht haben, kann in Brühl aktuell keine Rede sein:
"Wir sind belastet, wenn man so will mit der Arbeit, mit dieser Herausforderung, aber nicht überlastet. Da kann nicht die Rede von sein."