Aus der Klasse in die Abschiebung
Als abgelehnter Asylbewerber muss man quasi täglich mit der Abschiebung rechnen. Das gilt auch für Kinder und Jugendliche. Doch dass diese Kinder in Berlin ausgerechnet in sogenannten Willkommensklassen aus dem Unterricht herausgeholt werden, stößt auf Kritik.
"Wie heißen die Wochentage?"
"Montag, Dienstag … "
"Was ist heute?"
"Heute Dienstag."
"Was ist morgen?"
"Mittwoch."
"Montag, Dienstag … "
"Was ist heute?"
"Heute Dienstag."
"Was ist morgen?"
"Mittwoch."
An einem Mittwoch im September klopfte es plötzlich um kurz nach neun an der Schulklassentür. Der Unterricht in der Willkommensklasse an der Traven-Gemeinschaftsschule in Berlin-Spandau musste kurzfristig unterbrochen werden. Ein 14-jähriger Schüler aus Bosnien sollte abgeschoben werden – direkt aus dem Unterricht. Der Klassenlehrer wusste von nichts. Auch Schulleiter Arno de Vries war über die bevorstehende Abschiebung nicht in Kenntnis gesetzt worden.
"Pädagogischer Supergau"
Stattdessen standen an diesem Mittwochmorgen plötzlich zwei Beamte in Zivil im Sekretariat und trugen ihr Anliegen vor. Der Asylantrag der Familie sei abgelehnt worden. Seit Wochen liege den Eltern die Ausreiseverpflichtung vor. Da sie nicht freiwillig in ihre Heimat zurückkehrten, müsse dies nun per Staatsgewalt durchgesetzt werden. "Schockierend" nennt Arno de Vries diese Vorgehensweise:
"Also für die pädagogische Arbeit ist das ein Supergau. Die pädagogische Arbeit, die wir hier leisten, die basiert darauf, dass wir Vertrauen schaffen, dass wir eine Lernatmosphäre schaffen. Und eine Lernatmosphäre, die von Angst geprägt ist, die ist nicht gut, um in so einer Atmosphäre Deutsch zu lernen. Ich vermute, dass viele Schüler Angst haben, wenn es jetzt demnächst mal an der Tür klopfen wird, ob sie nicht vielleicht der nächste sind, die jetzt abgeschoben werden."
Die Vermutung liegt nah, denn ein Drittel der Schüler, die den Unterricht in den drei Willkommensklassen der Traven-Gesamtschule besuchen, stammen vom Westbalkan. Aus Sicht der Bundesregierung so genannte sichere Herkunftsländer. So sieht das auch die Berliner SPD, die mit der CDU regiert.
Aber deshalb Schüler direkt aus den Klassenzimmern zu holen, um sie dann abzuschieben, geht den Sozialdemokraten dann doch zu weit. Ihre Kritik zielt auf Innensenator Frank Henkel, CDU. Als oberster Dienstherr der Berliner Polizei könnte er derart unsensible Zugriffe unterbinden.
"Schule ist nicht Tabuzone"
Das werde in der Regel auch gemacht, kontert sein Staatssekretär Bernd Krömer, ebenfalls CDU. Nur in absoluten Ausnahmefällen würden Schüler direkt aus den Klassen geholt, aber:
"Es ist eine seit vielen Jahren in Berlin vorhandene Praxis und auch der Vorgänger von Herrn Henkel, der sozialdemokratische Innensenator Erhard Körting hat gegenüber dem Parlament 2004 es abgelehnt, generell keine Abschiebungen aus Schulgebäuden – ich formuliere das jetzt bewusst so - durchzuführen. Schule ist nicht Tabuzone gewesen, Schule ist nicht Tabuzone und wird es auch nicht werden."
Vermutlich, weil man damit rechnet, dass die Kinder dort auch anzutreffen sind. Der CDU-Politiker betont, dass die Polizisten nur in Zivil in das Schulgebäude kämen und die Kinder auch nie von den Beamten selber, sondern immer von den zuständigen Lehrern aus der Klasse geholt würden. Seiner Meinung nach konterkariert diese Vorgehensweise auch nicht die Idee der Willkommensklassen.
Der CDU-Innenpolitiker findet es dagegen unredlich, Kinder vom Westbalkan überhaupt in eine Willkommensklasse zu stecken.
Bernd Krömer: "Man muss Menschen auch die Wahrheit sagen und zur Wahrheit gehört, dass Personen, die aus sicheren Herkunftsländern kommen, wieder zurückkehren müssen, weil sie eben keinen Anspruch auf politisches Asyl in Deutschland haben."
Keine Zeit zum Abschiednehmen
"Und jetzt müsst ihr genau nachdenken, übermorgen ist Mittwoch, was war gestern … gestern? … Sonntag … genau, super."
Zurück an die Traven-Gemeinschaftsschule in Berlin-Spandau. Jana Brunwinkel unterrichtet dort seit drei Jahren die Willkommensklassen. Ihren zehn Schülern bringt sie gerade die Wochentage bei. Darunter sind auch ein Mädchen aus Albanien, eins aus Bosnien und zwei Jungen aus Mazedonien. Jana Brunwinkel war es auch, die vor vier Wochen den 14-jährigen Schüler aus seiner Klasse holen musste. Ein schrecklicher Moment, erinnert sich die 32-Jährige.
"Mir sind die Tränen gekommen, ich musste wirklich vor die Tür gehen, bevor ich erst einmal mit dem Schüler sprechen konnte, weil das natürlich ein persönliches Schicksal ist, was einen sehr betrifft. Wenn wir nicht um die Abschiebung herumkommen, dann sollte wenigstens Schule ein sorgenfreier Raum sein. Es ist für viele Kinder der einzige Ort, an dem sie ein Stück Normalität haben, an dem sie ihre Freunde haben, an dem sie lernen können, und um lernen zu können, braucht man einfach einen freien Kopf dafür."
Nicht alle Schüler aus der Willkommensklasse hätten verstanden, worum es bei dem Vorfall gegangen sei, sagt Jana Brunwinkel. Aber die Kinder, denen womöglich dasselbe Schicksal droht, hätten sehr wohl die Situation durchschaut und für sie sei es ein Schock gewesen, bedauert die Lehrerin.
Sollte solch eine Abschiebepraxis noch einmal an seiner Schule stattfinden, dann wünscht sie Schulleiter Arno de Vries vor allem eins: Dass er vorab von den Behörden darüber informiert wird. Eine Stunde würde ihm schon reichen.
"Dass es irgendwelche Möglichkeiten auch des Abschieds gibt, dass sowohl sich die Lehrer von dem Schüler verabschieden können als auch die Schüler untereinander sich verabschieden können. Ich glaube, das ist ganz wichtig und vor allem, dass es noch einmal thematisiert wird."