Im Taumel der Gastlichkeit
Der Mensch ist ein Herdentier, das zeigt sich auch an der Willkommenseuphorie gegenüber Flüchtlingen dieser Tage, meint Andrea Roedig. Diese fast zu eindeutig positive Haltung sei wichtig auf dem Weg zur gesellschaftlichen Veränderung. Hier könnten auch Philosophen helfen.
"Es muss ein Ruck durch Deutschland gehen." Lange ist es her, dass der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog diese später viel zitierte Formel prägte. Derzeit kann man das Gefühl haben, der Satz sei Wirklichkeit geworden. Es scheint tatsächlich so, als habe sich in Deutschland plötzlich etwas ver-rückt. Als habe sich das zähe und passiv-hilflose Hinschauen aufs Flüchtlingselend und -sterben endlich befreit zu einer ganz konträren Geste: Wir nehmen sie auf, wir heißen sie willkommen! Dieser Impuls enthält die moralische Erleichterung, endlich etwas tun zu können, und Angela Merkels Einladung an die Flüchtlinge war wie das sprichwörtliche Durchhauen des Gordischen Knotens: Es ist - wenn auch nur für kurze Zeit - die herkömmliche Logik auf den Kopf gestellt. Aus den strengen, kleinkarierten Sparmeistern aus Deutschland werden großzügige Gastgeber.
Menschen orientieren sich am Handeln anderer
Kann man dem Braten aber trauen? Das ist eine Frage, die sich angesichts der schönen Gesten fast verbietet. Dennoch ist es immer verwunderlich, wenn plötzlich eine Stimmung so umschlägt, dass scheinbar alle mitmachen und derselben Meinung sind.
In ihrem kürzlich erschienenen Buch "Autonomie" erklären der Sozialpsychologe Harald Welzer und der Philosoph Michael Pauen recht gut, wie Prozesse kollektiver Mentalitätsbildung funktionieren. Menschen neigten naturgemäß dazu, sich am Handeln anderer zu orientieren, sagen die Autoren.
In ihrem kürzlich erschienenen Buch "Autonomie" erklären der Sozialpsychologe Harald Welzer und der Philosoph Michael Pauen recht gut, wie Prozesse kollektiver Mentalitätsbildung funktionieren. Menschen neigten naturgemäß dazu, sich am Handeln anderer zu orientieren, sagen die Autoren.
Wir sind Konformitätswesen, ob wir wollen oder nicht. Wenn viele derselben Auffassung sind, wirkt das wie ein Magnet, dessen Adhäsionskräften sich das Individuum kaum entziehen kann. Dabei sei es völlig egal - so zeigen Pauen und Welzer - was der Inhalt dieser gesellschaftlich geteilten Auffassung ist. Der Rückkoppelungseffekt funktioniert im Guten wie im Bösen, und so können wir massenhaft zu Wohltätern oder - wie die Geschichte zeigt - auch massenhaft zu Verbrechern werden.
Doch trügt nicht die Eindeutigkeit der Pro-Flüchtlingsstimmung? Wo bleiben die allfälligen Bedenken, die Zögerlichkeiten, die Ängste? In manchen Augenblicken, so scheint es, spaltet sich die Gesellschaft, weil es für Positionen dazwischen, für das, was sich in den grauen Zonen des Zweifels befindet, keine angemessene Ausdrucksweise gibt. Die kollektive Meinungsbildung lässt - gerade in ihren Anfängen - Ambivalenzen nicht zu. Wo sie politisch oder moralisch spricht, kennt sie nur Freund und Feind, gut und schlecht, deutsche Hilfsleistungen oder den ungarischen Grenzzaun. Zu welcher Seite gehörst du? Wer jetzt zu starke Bedenken äußert, läuft Gefahr, der Fremdenfeindlichkeit das Wort zu reden.
Philosophen müssen ressentimentfreie Sprache finden
Solche im Grunde zu eindeutige Haltungen sind wichtige Pflöcke auf dem Weg gesellschaftlicher Veränderung. Sie machen aber auch verständlich, warum die Gegner der so genannten politischen Korrektheit im beleidigten Ton vorbringen "man werde bestimmte Dinge doch noch sagen dürfen". Nein, darf man nicht oder besser: man darf es, aber in einer neuen Weise. Es ist unter anderem die Aufgabe der Philosophie, eine ressentimentfreie Sprache für Ambivalentes, Zweideutiges, Zweifelhaftes zu finden.
Doch alles zu seiner Zeit. Die euphorische Willkommenskultur mag wie eine vielleicht zu naive Befreiung aus der lähmenden Tatenlosigkeit wirken. Doch in gewisser Weise erinnert sie an ein Fest, das für eine bestimmte Zeit den Idealismus siegen lässt und die Vorstellung einer guten Welt, in Platz genug und Ressource für alle ist. Im idealen Willkommen herrscht Großzügigkeit ohne Maß, oder um es seriöser mit einem Zitat von Jacques Derrida zu umschreiben: Das "Aufnehmen ... nimmt nur auf in dem Maße ... wie es jenseits der Aufnahmefähigkeit des Ich aufnimmt. Dieses asymmetrische Missverhältnis kennzeichnet das Gesetz der Gastlichkeit." So Derrida. Bleiben wir wenigstens einen Moment dort stehen. Aufräumen wird der politische Alltag dann sowieso.