Zerreißprobe für die Wertegemeinschaft EU?
Das Schlagwort von den "europäischen Werten" ist derzeit in aller Munde – insbesondere wenn es um die Verteilung von Flüchtlingen geht. Doch sind die Werte der EU wirklich in Gefahr? Die Politologin Tanja Börzel und der ehemalige Brüssel-Korrespondent Alois Berger sind da sehr unterschiedlicher Auffassung.
"Unsere Werte" sind gerade nach den Terroranschlägen von Paris wieder zu einem viel zitierten europäischen Schlagwort geworden. Von einem Angriff auf die westlichen Werte war da die Rede, von Werten, die wir gegen den Terror verteidigen müssten. Im Zusammenhang mit der Frage aber, welches Land wie viel Flüchtlinge aufnehmen kann und wie die Einwanderung innerhalb der einzelnen Staaten reguliert werden soll, bekommt die Diskussion um diese Werte auf einmal einen fatalen Unterton. Vom Ende der europäischen Wertegemeinschaft ist da die Rede, vom Ende der Solidarität, gar von einem drohenden Zusammenbruch Europas. Das "akut kranke" Schengen-System, wie es DRadio-Korrespondentin Annette Riedel in ihrem Wochenkommentar bezeichnet, scheint diese Erwartungen zu belegen.
EU: Nicht denkbar ohne Krisen?
Alois Berger, selbst jahrelanger Korrespondent in Brüssel, bezweifelt in seinem Politischen Feuilleton, dass die Europäische Union an der Flüchtlingsfrage zerbrechen könnte. Durch Krisen sei sie erst stark geworden. Die Europäische Union stecke nicht in der Krise, "sie ist die Krise", sagt Berger. Ohne Krisen gäbe es die Europäische Union gar nicht, da keine Regierung der Welt freiwillig Macht abgebe.
Da aber die Bereitschaft zur Zusammenarbeit rasch wieder abflaue, nämlich wenn der Leidensdruck nachlasse, sei dies die Zeit zu handeln und sich vertraglich festzulegen. Weil sich jedes Land von Europa etwas anderes verspreche, argumentiert Berger, werden die europäischen Staaten auch nicht durch gemeinsame Werte zusammengehalten, "sondern durch die wirtschaftliche Verflechtung und durch einen Klebstoff, der von Land zu Land verschieden sind."
Solide Werte oder schmerzhafter Anfang
Die Politikwissenschaftlerin und Leiterin der Arbeitsstelle Europäische Integration an der Freien Universität Tanja Börzel hingegen argumentiert im Interview mit Deutschlandradio Kultur, die wirtschaftliche Kooperation und Integration der europäischen Staaten seien eher Mittel zum Zweck gewesen sei. Die europäische Einigung habe eigentlich als politisches Projekt begonnen. Eine Nachkriegsordnung sollte geschaffen werden, die Frieden und Wohlstand in Europa sichere. Und diese Nachkriegsordnung, so Börzel, "basierte und basiert immer noch auf bestimmten gemeinsamen Werten, zu den ich Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit zählen würde."
Krisenzeiten hält auch die Politikwissenschaftlerin für eine Zeit, in der darüber nachgedacht werden muss, welche die gemeinsamen Werte sind und wie sie interpretiert werden müssten. Im Gegensatz zu Berger bezweifelt sie aber, dass es bei dem Streit um die Verteilung der Flüchtlinge tatsächlich um die Frage geht, welche gemeinsamen Werte Europa hat. "Sie können sich zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und auch Menschenrechten bekennen und trotzdem die Position vertreten, dass die Europäische Union, nicht nur Deutschland, sondern die Europäische Union unmöglich alle Flüchtlinge dieser Welt aufnehmen können", betont sie. Worüber wir uns streiten, seien vielmehr die wirtschaftlichen Kosten unserer wertebasierten Politik, aber nicht die da zugrunde liegenden Werte.
Der einzige Wert, von dem Börzel einräumt, dass er tatsächlich im Zuge der Flüchtlingsfrage verhandelt werde, sei die Solidarität. Wenn man Teil dieser Wertegemeinschaft sein wolle, müsse man sich auch an diesem Punkt solidarisch zeigen und Flüchtlinge aufnehmen.
Während die Europäische Union für die Politikwissenschaftlerin Tanja Börzel noch immer ein in ihren Werten solides System darstellt, sieht Alois Berger erst in der Krise eine Chance, zu einer Wertegemeinschaft zu werden. Es handele sich nicht um das Ende, aber mit Blick auf die nötigen Entscheidungen in der Flüchtlingskrise, um einen "schmerzhafen Anfang".