Flüchtlingsmisere auf dem Balkan

Das kroatische Kumrovec in den frühen 1990er-Jahren: Zahlreiche Flüchtlinge der Jugoslawien-Kriege kommen hier unter, Ivana Bodrozic gehört dazu. Aus Sicht einer Heranwachsenden schildert sie die Spannungen zwischen Dorfbewohnern und Flüchtlingen, die Sehnsucht nach neuen Freunden und dem vermissten Vater.
Eigentlich wäre Kumrovec ein ziemlich beliebiges Dorf im Norden Kroatiens unweit der slowenischen Grenze. Doch kam in Kumrovec Josip Broz zur Welt, der unter dem Namen Tito zum Staatschef Jugoslawiens aufstieg. So verfügt die kleine 500-Seelen-Gemeinde von Kumrovec noch aus sozialistischen Zeiten über einen Riesenparkplatz für die Busse mit den Tito-Pilgern und über eine ehemalige Politikkaderschule.

Während der Jugoslawien-Kriege in den frühen neunziger Jahren verwandelte man das Gebäude in eine Flüchtlingsunterkunft. Einer der Flüchtlinge war die 1983 in der ostslawonischen Stadt Vukovar geborene Kroatin Ivana Bodrožić. Über ihre Kindheit in Kumrovec hat sie unlängst ihren ersten Roman veröffentlicht, der unter dem Titel "Hotel Nirgendwo" nun auf Deutsch vorliegt.

Das Leben der Ich-Erzählerin gleicht - von einigen literarischen Freiheiten abgesehen - dem Leben der Autorin. Der Vater, der die Stadt Vukovar 1991 vor den Angriffen der serbischen Armee verteidigte, gilt seither als verschollen, einem Großvater wurde die Kehle durchgeschnitten. Als Ivana Bodrožić nach etlichen Zwischenaufenthalten mit ihrer Mutter, dem älteren Bruder und den überlebenden Großeltern in Kumrovec landet, wird das Leben der Familie von zwei Wünschen beherrscht.

Der eine, die Rückkehr des Vaters, geht nicht in Erfüllung, der andere, eine eigene Wohnung für die Familie in der kroatischen Hauptstadt Zagreb, wird am Ende schließlich wahr. Zwischen Plänen und Sehnsüchten breitet sich der Alltag aus. Der abweisende ältere Bruder, die aufopferungsvolle Mutter im kleinen Wohnheimzimmer machen das Leben schwer, die sich häufenden Niederlagen bei der Suche nach Freundschaft und Liebe unter den Gleichaltrigen noch schwerer.

Und dann sind da die Konflikte zwischen den Flüchtlingen aus der traditionsreichen multiethnischen Barockstadt Vukovar und den einheimischen Dorftrotteln von Kumrovec, die im Jargon der Vukovarer "Schweinchen" heißen. Den "Schweinchen" bleiben die Tragödien der Menschen im "Hotel Nirgendwo" verborgen, sie beneiden die Eindringlinge, denen der Staat Geld zahlt und die sich im "Hotel" bedienen lassen.

Ivana Bodrožić gelingt es, ihre Figuren farbig und in sich widerspruchsvoll zu gestalten. Bei allen Zwangslagen kommt das Komische nicht zu kurz. Dabei zeichnet die Autorin ihr Flüchtlingsschicksal der neunziger Jahre ganz in ihrem damaligen Denken und Fühlen einer Heranwachsenden nach. Immer wieder scheint eine gewisse naive Hörigkeit gegenüber dem damaligen, demokratisch gewählten, aber autoritär herrschenden Regime von Franjo Tudjman durch, über das Ivana Bodrožić, die in Zagreb lebt und sich häufig publizistisch zu Wort meldet, kritisch urteilt. In "Hotel Nirgendwo" liefert sie spannende Innenansichten aus der Gesellschaft der von Tudjman geprägten Kriegs- und Nachkriegsära. Zu Recht gilt diese Erzählerin als bedeutende Stimme der neuen kroatischen Literatur.

Besprochen von Martin Sander

Ivana Bodrožić: "Hotel Nirgendwo"
Aus dem Kroatischen von Marica Bodrožić
Paul Zsolnay Verlag 2012
221 Seiten, 18,90 Euro
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