Flüchtlingspakt mit der Türkei

Warnung vor zu hohen Erwartungen

Dicht an dicht stehen am 12.03.2016 in Nea Kavala, rund 20 Kilometer von Idomeni entfernt, die Zelte für Flüchtlinge auf einem Militärgelände nahe der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien.
Dicht an dicht stehen in Nea Kavala, rund 20 Kilometer von Idomeni entfernt, die Zelte für Flüchtlinge auf einem Militärgelände nahe der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien. © Kay Nietfeld, dpa picture-alliance
Thomas Arzt im Gespräch mit Ute Welty |
Der Deal steht: In Griechenland ankommenden Flüchtlinge werden in die Türkei zurückgeschickt, während von der Türkei aus syrische Flüchtlinge legal in EU-Staaten umgesiedelt werden. Der Pakt wird den Flüchtlingszustrom aber nicht generell unter Kontrolle bringen, dämpft der Physiker Thomas Arzt die Erwartungen.
Der Physiker Thomas Arzt von der Freiburger Denkfabrik SAT hat vor allzu hohen Erwartungen an das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei gewarnt. "Es ist zu erwarten, dass neue Seitenströme entstehen, die noch gar nicht vorausgedacht werden", sagte der Geschäftsführer des Management-Beratungsunternehmens SAT Strategic Advisors for Transformation GmbH im Deutschlandradio Kultur. SAT berechnet Zukunftsprognosen zur Entwicklung von Flüchtlingsströmen auf der Basis mathematischer Simulationen.
Die Europäische Union und die türkische Regierung haben sich am Freitag auf ein Maßnahmenpaket zur Bewältigung der Flüchtlingskrise geeinigt. Das Abkommen soll am 20. März in Kraft treten. Es beinhaltet die Rückführung von Flüchtlingen in die Türkei, die EU nimmt im Gegenzug syrische Flüchtlinge auf legalem Weg direkt aus der Türkei auf und verteilt diese auf freiwilliger Basis auf ihre Mitgliedstaaten. Die Türkei erhält Zugeständnisse bei Visa-Liberalisierungen, den EU-Beitrittsgesprächen und Finanzhilfen.

Fehlende strategische Vorausschau in der Politik

Thomas Arzt sagt, zwar könne es aufgrund der neuen Vereinbarung lokal zu Reduktionen von Flüchtlingsströmen kommen, allerdings schwele auch die Kurdenfrage weiter. Die am Freitag beschlossene Vereinbarung der EU-Staats- und Regierungschefs und der Türkei zur Reduzierung der Flüchtlingsströme nach Europa sei zwar in die Zukunftsprognosen seines Instituts noch nicht eingespeist. Das sogenannte Worst-Case-Szenario, bei dem Europa bis Ende 2016 mit maximal rund sechs Millionen Flüchtlingen rechnen müsse, gehe aber auch von zusätzlichen Flüchtlingsströmen aus sogenannten Failed-States in Afrika aus.
Arzt bemängelte eine fehlende ganzheitliche dynamische Sicht zur strategischen Vorausschau in der Politik. In Ländern wie den USA sei eine solche strategische Prognose, die "alle potenziellen Zukünfte" im Blick habe, bereits wesentlich besser ausgebildet als in Deutschland: "Selbst das kleine Holland leistet sich Institute für strategische Vorausschau mit modernsten Simulations- und Optimierungstechniken. Nur in Deutschland ist da noch Aufbauarbeit zu leisten".
Um die Komplexität hochvernetzter Probleme, darunter auch die Energiewende, Eurokrise oder des drohenden Brexits verstehen zu können, bedürfe es aber eines Paradigmenwechsels in Richtung eines holistischen, also ganzheitlichen Komplexitätsmanagments: "Dass man die schwarzen Schwäne, also die unwahrscheinlichsten Ereignisse im Auge behält", sagte der im US-amerikanischen Princeton ausgebildete Physiker. Stets auch den Maximalwert im Blick zu behalten sei notwendig, da nur so rechtzeitig auch Notfallpläne vorliegen könnten. Dies werde in der Industrie teilweise bereits praktiziert. An die Politik richtet Arzt den Apell, den Blick weg vom kurzfristigen Tagesgeschäft hin zu den Herausforderungen einer global vernetzten Welt zu richten.

Das vollständige Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Es ist eine Frage, die Politikern oft gestellt wird in diesen Tagen, nämlich die nach der Zahl der Flüchtlinge 2016. Die meisten Politiker kennen darauf nur eine Antwort, und die besteht hauptsächlich aus einem Schulterzucken, als ob man das vorhersagen könne. Man kann es vielleicht nicht vorhersagen, aber man kann berechnen, wie viele Flüchtlinge was bedeuten, und genau das tut Thomas Arzt, der Physiker, der unter anderem in Princeton studiert hat, ist Geschäftsführer von SAT in Freiburg, ein Unternehmen, das strategisch-technische Beratungen durchführt unter anderem für Versicherungen oder Flughäfen. Guten Morgen, Herr Arzt!
Thomas Arzt: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Ihr Worst-Case-Szenario geht von sechs Millionen Flüchtlingen in Deutschland aus. Welche Rolle können vor dem Hintergrund dieses Szenarios noch die Beschlüsse spielen, die jetzt in Brüssel gefasst worden sind, welche Rolle spielt beispielsweise dann noch der sogenannte EU-Türkei-Deal, nach dem illegale Migranten in die Türkei zurückgeschickt werden, während Syrer legal aus der Türkei in die EU einreisen können?

Das Worst-Case-Szenario

Arzt: Nun, der Deal ist ja von gestern, also noch ganz frisch, und wir konnten ihn natürlich noch keiner Analyse unterziehen. Es ist zu erwarten, dass es lokal schon zu Reduktionen von Flüchtlingsströmen kommt. Es ist aber auch zu erwarten, dass neue Seitenströme entstehen, die noch gar nicht vorausgedacht werden, zumal da ja auch noch die Kurdenfrage schwelt. Das Worst-Case-Szenario betrachtet noch zusätzliche Ströme, die unter Umständen von sogenannten Failed States aus Afrika dazukommen könnten. Das sollte man gut im Auge haben.
Welty: Bedeutet das im Umkehrschluss, dass die Verhandlungen mit der Türkei zeigen, dass die Regierungen und die Regierenden die Dynamik der ganzen Sache noch nicht wirklich verstanden haben?

"Holistisches Komplexitätsmanagment"

Arzt: Es scheint uns, dass es keine wirklich ganzheitlich-dynamische Sicht auf diese Dinge gibt, um die Komplexität eines hochvernetzten Problems verstehen zu können. Das gilt übrigens auch für die Eurokrise für das Thema Brexit oder die Energiewende. Es bedarf eigentlich eines Paradigmenwechsels in Richtung eines holistischen Komplexitätsmanagements.
Welty: Was heißt holistisches Komplexitätsmanagement?
Arzt: Das bedeutet, dass man sich einer Weltsicht bedient, die Effekte integriert, die aus dem Vernetzten, Systemischen kommen. Das sind Effekte beispielsweise wie Nichtlinearität, Feedbackloops, also Rückkopplungsschleifen, Emergenzphänomene, das Auftauchen plötzlich neuer Phänomene oder auch, um einen gängigen Begriff inzwischen zu zitieren, dass man die schwarzen Schwäne, also die unwahrscheinlichsten Ereignisse im Auge behält.
Welty: Warum ist es wichtig, die schwarzen Schwäne, also das Schlimmste mitzudenken, auch wenn es dann womöglich unwahrscheinlich ist?

"Alle potenziellen Zukünfte im Blick haben"

Arzt: Es ist generell immer richtig und wichtig, in einer strategischen Vorausschau alle Möglichkeiten, alle potenziellen Zukünfte im Blick zu haben. Sie mögen nicht eintreten, aber wenn sie eintreten, auch im Falle des schwarzen Schwanes, ist man gut beraten, dafür einen Notfallplan vorausgedacht zu haben. In der Industrie wird das hier und dort schon praktiziert. Ich erinnere nur an das Thema Fukushima, welches so gewaltig war, dass die Supply-Chain-Ketten bis nach Deutschland in der Industrie gestört wurden.
Welty: Das, was Sie beschreiben, das klingt nach einer gewaltigen Herausforderung. Sind Politiker damit überfordert?
Arzt: Wir plädieren dafür, sich der gesamten Dynamik zuzuwenden und die entsprechenden Methoden zu praktizieren, die heute vorhanden, aber offenbar noch nicht bekannt sind.
Welty: Das heißt?
Arzt: Das heißt, ein Wechsel in der Weltsicht – nicht kurzfristiges Tagesgeschäft, sondern strategische Vorausschau und ein ständiges Abtasten des Horizontes in einer global vernetzten Welt.
Welty: Was wissen Sie mehr als andere, dass Sie eben solche Szenarien berechnen können, dass Sie sich sozusagen dem ganzheitlichen Moment annähern können, was offensichtlich Politikern, Regierenden ausgesprochen schwerfällt?
Arzt: Nun, vom Ansatz her benutzen wir eine Methodik, die wir Deep Uncertainty nennen, also eine Tiefenunsicherheit. Da die Zukunft prinzipiell unbekannt ist, gibt es eine sehr große Anzahl potenzieller Zukünfte, die wir in unseren Modellen mitführen. Alle Größen und alle Ereignisse werden mit Wahrscheinlichkeiten versehen und somit dann zehntausende von Zukünften simuliert, damit man zum Schluss alle Ergebnisse mit Eintrittswahrscheinlichkeiten bewerten kann, sodass man auch den sogenannten schwarzen Schwan detektieren kann und auch Notfallpläne erstellen kann.
Welty: Was muss also passieren, dass wir Denken, Fühlen und Wissen entsprechend der Situation ausrichten, und was haben andere Länder Deutschland womöglich voraus in dieser Hinsicht?

Strategische Vorausschau besser ausbilden

Arzt: In anderen Ländern ist die Tradition der strategischen Vorausschau viel besser ausgebildet als in Deutschland. In den USA sowieso, da gibt es etliche Think Tanks, die sich unserer Methoden bedienen. Selbst das kleine Holland leistet sich Institute für strategische Vorausschau mit modernsten Simulations- und Optimierungstechniken. Nur in Deutschland ist da noch Aufbauarbeit zu leisten.
Welty: Woran liegt das, dass diese Arbeit bislang vernachlässigt wurde?
Arzt: Bitte? Noch mal die Frage.
Welty: Woran liegt das, dass diese Arbeit bislang vernachlässigt wurde?
Arzt: Es ist immer schwierig – das zeigt die Wissenschaftsgeschichte –, ein Weltbild durch ein anderes zu ersetzen. Das braucht seine Zeit. Meistens wird es durch Ereignisse, auch Notfälle vorangetrieben. Wenn bestimmte Weltbilder in Erklärungsnöte geraten, und so ist das auch in diesem Fall, dann setzt sich ein anderes neues Weltbild durch. Sie dürfen nicht vergessen, dass wir in den letzten 20 Jahren in eine Epoche der hochvernetzten Globalisierung eingetreten sind. Alles steht mit allem im Zusammenhang, es gibt eine völlig neue Klasse von Phänomenen, emergente Phänomene, die jetzt erst langsam bewusst werden. Der sogenannten schwarze Schwan ist seit etwa 2008 ins Bewusstsein getreten, vorher hat man ihn vernachlässigt mit eben fatalen Folgen. Das dauert seine Zeit.
Welty: Sehen Sie ein Chance, die Angelegenheit sozusagen von Physiker zu Physikerin zu regeln, das Thema mehr an die Kanzlerin heran zu reden?
Arzt: Das wäre natürlich eine ideale Konstellation!
Welty: Dann drücken wir Ihnen dafür mal die Daumen! Das Schlechte ist, Thomas Arzt berechnet Worst-Case-Szenarien, und das Gute ist, er kann damit umgehen. Ich danke dafür, dass Sie uns das eine wie das andere erklärt haben. Ein gutes Wochenende Ihnen!
Arzt: Ich bedanke mich auch, Frau Welty!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema