Bund muss mehr Tempo machen
Der Oberbürgermeister von Goslar, Oliver Junk (CDU), kritisiert die Bundesregierung mit überraschender Deutlichkeit und verlangt mehr Tempo in der Flüchtlingspolitik. Aus der "Lastendiskussion" müsse eine "Chancendiskussion" werden, fordert er.
Der Oberbürgermeister von Goslar, Oliver Junk (CDU), hat die Bundesregierung aufgefordert, in der Flüchtlingspolitik deutlich an Tempo zuzulegen. Im Deutschlandradio Kultur sagte Junk, gelegentlich werde so getan, als ob gerade eine "Flüchtlingsflut" über Deutschland hereinbreche.
Dabei ist das Thema mitnichten neu und Junk hatte seine Dringlichkeit schon vor Monaten betont. Aus Goslar kommen dabei ungewöhnliche Töne: Während andere Kommunen unter dem Zustrom ächzen, begrüßt Junk die Neubürger. "Sie sind eine Bereicherung", sagt er.
Das Thema sei nicht neu und beschäftige die Kommunen schon seit über einem Jahr, sagte Junk im Interview, "offensichtlich nur den Bund nicht in der Konsequenz". Was derzeit fehle, seien Geschwindigkeit und Entscheidungsfreudigkeit, kritisierte der CDU-Politiker.
Er forderte erneut, aus der "Lastendiskussion" eine "Chancendiskussion" zu machen. Die Kriegsflüchtlinge müssten qualifiziert werden, ihre Kinder in die Schulen gehen. Dann werde die Gesellschaft einen Gewinn aus ihnen ziehen. Dies habe auch mit den drei Millionen Spätaussiedlern, die um 1990 herum gekommen seien, funktioniert, betonte Junk.
Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Wir müssen die Flüchtlinge gerechter in Deutschland verteilen, fordern viele Städte und Gemeinden, die sich selbst am Rande ihrer Möglichkeiten sehen oder auch schon jenseits davon. Können wir gerne machen, hat der Oberbürgermeister der niedersächsischen Stadt Goslar schon vor Monaten gesagt. Oliver Junk meinte damals, für einen Ort wie den seinen könnten Neubürger nur eine Bereicherung sein und es seien längst noch nicht genug da. Hat diese Aussage inzwischen was bewirkt und steht er heute noch dazu, das wollen wir Oliver Junk jetzt fragen. Schönen guten Morgen!
Oliver Junk: Ja, freundlichen guten Morgen aus Goslar!
Kassel: Eigentlich müssten doch inzwischen täglich mehrere Bürgermeister aus anderen deutschen Städten bei Ihnen anrufen und Ihnen anbieten, Flüchtlinge aufzunehmen für die, die selber keine Aufnahmemöglichkeiten mehr sehen. Ist das auch so?
Junk: Naja, das ist deshalb nicht so, weil ich ja nicht davon gesprochen habe, dass wir den Verteilungsschlüssel ändern sollten. Große leistungsfähige Kommunen sollten natürlich weiter auch finanziell für Flüchtlinge verantwortlich bleiben oder deutlicher, stärker verantwortlich bleiben als kleine und mittlere Städte.
Dezentrale Unterbringung statt Zeltstädte und Container
Ich habe nur bereits im vergangenen November den Vorschlag gemacht, dass möglicherweise die größeren Städte auch außerhalb ihrer eigenen Stadtmauern, das heißt in kleineren Nachbarkommunen, die Flüchtlinge dezentral unterbringen könnten und sollten, und das Beispiel Göttingen und Hannoversch Münden, auch hier im südlichen Niedersachsen, beweist, dass das geht, und die hatten das schon bewiesen, bevor ich auch diesen Vorschlag noch mal öffentlicher gemacht habe.
Das heißt, es funktioniert, man müsste vielleicht diese Modelle auch stärker unter Moderation der Länder nehmen und tatsächlich mal klug überlegen, ob es immer nur sinnvoll ist, Zeltstädte zu bauen und Containerdörfer zu bauen oder doch auch außerhalb von Stadtmauern dezentral unterzubringen.
Kassel: Aber was würden Sie sich denn für Ihre eigene Stadt Goslar einerseits wünschen und andererseits für möglich halten, so dass beide Seiten davon profitieren, Ihre Stadt und die Menschen, die ein neues Zuhause brauchen?
Junk: Das Thema war im vergangenen November. Man wundert sich ja heute so ein bisschen darüber, dass gelegentlich so getan wird, als ob eine Flüchtlingsflut so über uns hereinbricht wie eine Hochwasserflut. Es ist ja nicht so, dass das Thema neu ist, es beschäftigt die Kommunen ganz intensiv schon seit über einem Jahr, offensichtlich nur den Bund nicht in der Schärfe und in der Konsequenz.
Mehr Todesfälle als Geburten: Goslar braucht Zuwanderung
Ich habe im vergangenen November im Rahmen einer Veranstaltung zum Thema Migration und Flüchtlinge in Europa die Aussage getroffen, dass natürlich Städte wie Goslar, aber auch so wie Deutschland insgesamt, auf Zuwanderung angewiesen sind. So wie in Deutschland jedes Jahr rund 200.000 Menschen mehr sterben als geboren werden, so ist das in Goslar, dass hier also 200 Menschen mehr sterben als geboren werden, und im Wohlstand, wenn Infrastruktur erhalten werden soll, dann brauchen wir Zuwanderung.
Und dann habe ich angefügt und gesagt, und möglicherweise liegt in dem einen oder anderen Flüchtling, den wir gut, den wir klug integrieren, der sich wohlfühlt, auch eine Chance dahingehend, dass – das war der Gedanke und bei dem bleibe ich auch – die Flüchtlinge, die zu uns kommen - damit meine ich die Kriegsflüchtlinge, keine Balkanflüchtlinge - die müssen bei uns auch in die Schulen und Kitas, also so ein Weg wie aus Erfurt vorgeschlagen, führt uns überhaupt nicht weiter, müssen qualifiziert werden, und dann werden wir doch auch aus dem einen oder anderen Flüchtling einen ganz, ganz großen Gewinn ziehen, so wie wir einen Gewinn ziehen aus den drei Millionen Spätaussiedlern, die um 1990 zu uns gekommen sind oder auch aus den vielen Flüchtlingen, die Mitte der 90er-Jahre zu uns gekommen sind.
Kassel: Das klingt mir aber, Herr Junk, jetzt ein bisschen so, als ob Sie eigentlich für die Lösung der Probleme in Goslar, also die Tatsache, dass Ihre Stadt schrumpft seit einigen Jahren, eigentlich ja eher ein Einwanderungsgesetz bräuchten.
Aus der "Lastendiskussion" eine "Chancendiskussion" machen
Junk: Das brauchen wir auch, aber das ist ein Thema, was ja unabhängig davon läuft. Man sollte auch nicht das eine mit dem anderen vermischen.
Ich habe eine sehr deutliche Position auch zu dem Thema Balkanflüchtlinge. Das ist also ein Wahnsinn aus meiner Sicht, dass die Kommunen auch damit befasst werden. Im Landkreis Goslar ist der weit überwiegende Teil der Menschen, die zu uns kommen aus den Balkanstaaten, also all die Menschen, die wir hier unterbringen und integrieren sollen in der Stadt und dem Landkreis Goslar, die aber mit 99,9 Prozent ja im Grunde überhaupt keine Chance im Asylverfahren haben, und das sind die Fehler, die wir machen.
Wir müssen uns eben, meine ich, auch in Deutschland insgesamt stärker weg von der Lastendiskussion hin zu der Chancendiskussion bewegen, und so sind in den Flüchtlingen natürlich auch eine Chance, auch ganz unmittelbar eine Chance für Klein- und Mittelstädte wie Goslar mit 50.000 Einwohnern.
Kassel: Aber sehen Sie denn in Ihrer eigenen Partei, der CDU nämlich, Chancen, gerade jetzt bei der aktuellen Diskussion für ein Einwanderungsgesetz?
Junk: Also ich habe überhaupt nicht den Eindruck, dass das irgendwo eine Diskussion ist, die die CDU falsch aufsetzt und andere Parteien richtig aufsetzen. Ich habe das Gefühl, dass es bei diesem großen, komplexen Thema in jeder Partei auch unterschiedliche Annäherungsversuche gibt. Ich fühl mich da in der CDU auch überhaupt nicht als Außenseiter, das beweisen auch die Zuschriften, dich ich bekomme von Mitgliedern der CDU.
Dem Bund fehlt es an Tempo und Entscheidungsfreudigkeit
Was insgesamt fehlt, ist Tempo und Geschwindigkeit und Entscheidungsfreudigkeit bei den Themen. Ich werde das Thema Personalaufstockung vom BAMF, vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, beantragen, zum Unwort des Jahres zu erklären, weil Aufstockung von Personal beim BAMF, das ist vor 12 Monaten schon diskutiert worden und passiert ist bis heute einfach zu wenig, und das ist das, was ich so deutlich kritisiere.
Wir müssen jetzt einfach mal auch ein bisschen Tempoverschärfung machen bei den Themen, denn die Kommunen und das viele, viele zahlreiche Ehrenamt in den Kommunen hat das in den vergangenen zwölf Monaten viel zu gut organisiert, Flüchtlingsunterbringung und Flüchtlingsintegration, insbesondere auch Verwaltungsmitarbeiterinnen und Verwaltungsmitarbeiter, die insbesondere auch im Landkreis Goslar, und wenn das nicht so gut gelaufen wäre, wäre der Druck beim Bund wahrscheinlich schon viel früher viel größer gewesen.
Kassel: Sagt Oliver Junk, der Oberbürgermeister der Stadt Goslar. Herr Junk, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Junk: Herzlichen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.