Es fehlt "Common Sense"!
Die Skeptiker profitieren davon, dass Migration und Integration kontrovers diskutiert werden: Das meint der Unternehmensethiker Erik von Grawert-May, denn die Gesellschaft habe jenen "Common Sense" verloren, der bei früheren Bevölkerungswanderungen hilfreich gewesen sei.
Weshalb werden uns Migrationsbewegungen eigentlich immer wieder zum Problem? Weshalb sind wir immer wieder erstaunt, ja, teilweise erschreckt, wenn unser Land zu einem Ort von Zuwanderungen größeren Stils wird?
Könnten wir uns nicht gelassen zurücklehnen, weil wir wissen, dass Migrationen unsere Nachkriegsgeschichte prägen, um nur von dieser zu reden: Angefangen von den Millionen Vertriebenen bis zu den Gastarbeitern, die sich nicht als Gäste wieder hinauskomplimentieren lassen wollten, ist doch alles recht glimpflich verlaufen.
Selbst wenn man weiter zurückgeht und sich den Zug von Osteuropäern nach Westen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ansieht, sprechen unsere Adressbücher eine deutliche Sprache: Polnische Namen gehören wie selbstverständlich dazu.
Integration hat im Westen keinen guten Klang
Trotz dieser im Grunde nicht schlechten Erfahrungen hat das Wort Integration bei uns keinen guten Klang. Mit dem Begriff Einwanderung, die als politisch notwendig erkannt wird, tun wir uns schwer. Von einem Einwanderungsland, als das wir die Vereinigten Staaten verstehen, sind wir weit entfernt. Oder trügt mittlerweile der Schein?
Skeptiker sehen die USA tendenziell dreigeteilt: Die Nordstaaten angelsächsisch-protestantisch, die Südwest-Staaten hispanisch und die Südoststaaten schwarz. Statt sich durch das zu identifizieren, was sie verbindet, eint sie das, was sie trennt. Mit dem früher stolz beschworenen Schmelztiegel wäre danach nicht länger zu rechnen.
Sollte der Republikaner, Donald Trump, die nächsten Präsidentschaftswahlen gewinnen, könnte diese Dreiteilung sich sogar noch zuspitzen, vorübergehend entspannt durch seinen Appell an den amerikanischen Patriotismus. Von weiterer Einwanderung allerdings hält er nicht viel.
Flüchtlingspolitik offenbart Riss durch die Gesellschaft
Dass diesseits wie jenseits des Atlantiks Migration und Integration als hoch problematisch angesehen werden, ließe sich auch als eine Verzagtheit interpretieren, die den ganzen Westen ergriffen hat. So, als ob die schiere Masse der Migranten uns an eine Grenze der Aufnahmebereitschaft gebracht hätte, ja allein der Gedanke daran, wie viele Menschen Grund hätten, sich auf den Weg nach Norden zu machen.
Spätestens an dieser Stelle gilt es allerdings, die Rede vom "wir" und vom "uns" zu differenzieren. Es geht ein Riss durch die Gesellschaft. Die einen, oft die Jungen, können nicht genug aufnehmen, die anderen wollen die Aufnahme beschränken. Fast ist es eine Frage der Generation.
Man könnte daher die Ansicht vertreten, dass diejenigen, die noch gar keine Erfahrung mit Integration gemacht haben, ihr uneingeschränkt positiv gegenüberstehen und umgekehrt.
Auch sind die Jungen mobil genug, sich selbst Träume anderswo zu erfüllen. Weshalb so manch alt gewordene Westler, die Jugend wie die Flüchtlinge beneiden mögen, ob ihres Mutes zum Wagnis in der Fremde.
Zwischen Maximalpositionen vermitteln
Gleichwohl profitiert davon unter allen Parteien die "Alternative für Deutschland" – und das deshalb, weil sie Skepsis und Unbehagen am schneidendsten artikuliert. Sie reagiert erfolgreich auf eine Lücke, die sich in den politischen Debatten der Bundesrepublik seit langem aufgetan hat. Es ist der "Common Sense" verloren gegangen.
Gemeint ist der Sinn für eine allgemein verständliche politische Position, auf die sich ein Großteil der Bevölkerung einigen kann. Dieser Sinn, auf gut Deutsch: das gesunde Mittelmaß, ist uns über die Jahre abhandengekommen. Wir diskutieren von Maximalpositionen aus. Der eine verdächtigt den anderen der Nähe zum Nationalsozialismus, der andere sieht in seinem Gegenüber nur den Volksverächter.
Nur wer zwischen diesen festgefahrenen Fronten vermitteln möchte, wird die uns bevorstehende Aufgabe der Integration von Migranten leisten können. Es dürfte dann erstaunlich gut funktionieren.
Erik von Grawert-May, aus der Lausitz gebürtiger Unternehmensethiker, lebt in Berlin. Letzte Veröffentlichungen "Die Hi-Society" (2010), "Roma Amor - Preussens Arkadien" (2011), "Theatrum Belli" (2013). www.grawert-may.de