Flüchtlingsprojekt

Wenn Jugendliche das Theaterfieber packt

Oper und Schauspiel in Frankfurt am Main (Hessen), aufgenommen am 09.12.2013.
Die Jugendlichen sind gemeinsam am renommierten Schauspielhaus der Main-Metropole aufgetreten. © picture alliance / dpa / Daniel Reinhardt
Von Ludger Fittkau |
Das "Boat People Projekt" aus Göttingen bringt deutsche Jugendliche und Flüchtlinge gemeinsam auf die Bühne. Mit ihren Songs begeisterten sie beim Festival "Fluchtpunkt Frankfurt" das Publikum, berichtet unser Kritiker.
Saleh marschiert. Der 16 Jahre alte Flüchtling aus Eritrea hat eine Militärjacke übergestreift und wirkt wie ein Kindersoldat. Am Schluss der Szene richtet er fiktiv die Waffe aufs Publikum und drückt ab. Später erzählt Saleh, dass dieser Einstieg in den Songabend an die Terroranschläge von Paris erinnern soll. Das Boat People Songprojekt bedeutet dem jungen Eritreer, der seine Eltern verloren hat, unendlich viel:
"In dieser Gruppe habe ich meine Familie gefunden."
Bühnentext: "Ich komme aus Somalia. Wenn ich an Somalia denke, denke ich an meine Mutter und denke ich auch an schöne Menschen aus meiner Straße."
Schöne Menschen in einer somalischen Straße – aber eben auch auf der Bühne des Frankfurter Schauspielhauses. Die 22 Jugendlichen des Göttinger Boat People Songprojekt aus den Kriegsgebieten des Nahen und Mittleren Ostens, aus Afrika, vom Balkan sowie aus Deutschland reißen mit ihrer Spielintensität und ihren musikalisch hervorragend arrangierten Liedern aus den Herkunftsländern den prall gefüllten Theatersaal schnell mit. Am Schluss tanzten Schauspieler und Publikum gemeinsam auf der Bühne. In der Diskussion nach dem Stück fasst ein junger Syrer zusammen, was viele Zuschauer empfanden:
"Es ist wirklich unglaublich, wie meine Emotionen heute sind. Wir sind hier in einem demokratischen Land, wir sind hier in einem offenen Land. Deutschland könnte ein richtiger Grundsitz – also "seat" - sein für eine neue Gesellschaft sein, das wir zusammenleben können und einander richtig gut verstehen."
Eine Szene bietet direkt ein Gegenbild zu Köln: Heranwachsende Mädchen und Jungen – Flüchtlinge und Deutsche - bewegen sich mit geschlossenen Augen in der Gruppe eng beieinander, die Berührungen sind respektvoll und zärtlich.
"Die Schüler haben viel Spaß gehabt"
Im Publikum sitzt eine Offenbacher Lehrerin mit ihrer Berufsschulklasse, viele Migranten. Die Pädagogin ist verwundert darüber, wie sehr ihre Schüler, von denen vorher viele noch nie in einem Theater waren, das mehrtägige Flüchtlingsbühnenfestival im Frankfurter Schauspielhaus genießen:
"Ich beobachte die Schüler, die haben so viel Spaß gehabt, jetzt auch in den drei Tagen hier. Erst war ich ein bisschen skeptisch, weil ich gedacht habe: Nach der Schule, nach dem Unterricht, der Tag ist sowieso schon lang. Aber am Abend haben sie mir eine WhatsApp geschrieben, ganz begeistert."
"Also, das Theaterfieber hat sie gepackt?"
"Ja, und sie sind so gelassen und sie haben sich so geöffnet, also die Wandlung ist faszinierend."
Zu den Zuschauern gehört auch Thomas Gebauer, der Geschäftsführer der Hilfsorganisation "Medico International". Er wird die Laudatio halten, wenn das Boat People Projekt im März den Göttinger Friedenspreis bekommen wird:
"Weil Theater eben ein wunderbares Mittel präsentiert, sich auszudrücken und eben auch mit Gewalterfahrungen zurechtzukommen. Das ist etwas, wo Menschen ihre Identität auch auf andere Weise spüren können als in dem, was sonst an Elend existiert."
Ein Lied des Göttinger Song-Projektes ist der Mitschauspielerin Anita Osmani gewidmet, einer 15-jährigen Roma. Obwohl sie in Göttingen geboren ist, soll sie mit ihrer Familie bald ins Kosovo abschoben werden.
"Meine Gruppe, die unterstützt mich auch sehr. Ich bin denen auch sehr dankbar dafür. Wir waren auch mit der ganzen Gruppe schon beim Innenminister in Hannover und wir haben auch eine Demonstration gemacht in Göttingen. Das bedeutet echt sehr viel für mich."
Der "Einbruch der Wirklichkeit" ist also nicht nur der Titel eines neuen Buches, das Navid Kermani ebenfalls beim Festival "Fluchtpunkt Frankfurt" vorstellte. Sondern der harte Alltag der Migration ist in jedem Augenblick Teil des gelungenen Festivals, das heute endet.
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