Flüchtlingsschicksale

Der Moment, in dem einem Filmwissen nicht weiterhilft

Drei Flüchtlingskinder sitzend schlafend hintereinander in einem Bus an einer Asylbewerber-Registrierungsstelle der Bundespolizei in Passau.
Als ein Bus mit Flüchtlingen in seinem Dorf ankommt, fühlt sich Kinokritiker Hartwig Tegeler hilflos © afp / Christof Stache
Von Hartwig Tegeler |
Unser Filmkritiker Hartwig Tegeler kennt unzählige Filme, in denen Flüchtlinge eine Rolle spielen, von "Die Schüler der Madame Anne" bis zu "Der Pate". Aber als er dann auf ganz reale Flüchtlinge trifft, nützen ihm die Erkenntnisse unzähliger Kinobesuche nichts mehr.
Dunkelheit ist angebrochen. Nebel den ganzen Tag überm Dorf. Und über der neuen Unterkunft. Nach ewigem Warten kommt der erste Bus mit den ersten Flüchtlingen aus fernen Ländern.
Er hält an. Es ist, als ob eine Reisegruppe aussteigt: Menschen, angezogen wie du und ich, Jeans, Daunenjacken und diese Trolleys. Es braucht ein Paar Momente, um zu realisieren, es sind keine normalen Reisende, und die Trolleys, sie enthalten das, das einzige, was diese Menschen noch besitzen.
Auf Realität ist der Kinogänger nicht vorbereitet
Im Kino, in etlichen Filmen hatte ich Ähnliches schon zigmal "gesehen". Aber es nützte nichts. Flüchtlinge nicht mit Reisenden, Realität nicht mit Bildern über sie zu verwechseln, darauf hatte mich eine jahrzehntelange Karriere als Kinogänger nicht vorbereitet.
Dabei hat das, was jetzt kommen wird für uns in den nächsten Jahren in dieser Gesellschaft, darüber hat das Kino in allen Varianten längst erzählt. In der gesamten Spannbreite vom bösen Flüchtling bis zum guten, vom integrierten bis zum immer fremd Bleibenden. Vom Flüchtling, der zum Mafiapaten wird. "Der Pate".
Vom Migranten, der in den Banlieues ums Überleben kämpft, mit Faust, Messer, Knarre. "Hass" von Matthieu Kassovitz oder "Dämonen und Wunder" von Jacques Audiard. Von der leidvollen Reise zwei afghanischer Vettern nach London. "In This World" von Michael Winterbottom. Und ... und ... und.
Allesamt wichtige Erzählungen, die uns das Fremde näher bringen sollen. Kunst, die uns auffordert dem, was uns Angst macht, ins Auge zu schauen. Aber, aber: dann die Realität. Die ist stärker, gleichzeitig verwirrender, brutaler und schöner als jedes Bild von ihr.
Ein anderes, verstörendes, ja, noch ein Bild, nicht aus dem Kino, sondern aus einem Flüchtlingsheim: Ein pensionierter Lehrer gibt Deutschunterricht für Migranten. Tag für Tag. Müht sich ab. Kämpft. Zwanzig, dreißig Flüchtlinge vor ihm. Die vorne, am nächsten zum Pauker, fragen, antworten; die hinten allerdings liegen wie zusammengefaltet über den Tischen oder glotzen auf ihr Smartphone.
Flüchtlings-Lehrer hat nichts mit Kino-Kollegin zu tun
Diese Szene hat nichts zu tun mit der süßlichen Kinovariante in "Die Schüler der Madame Anne", in der eine aufrechte Lehrerin französische Migranten-Kinder unter Klavierklängen zu Selbstbewusstsein, Authentizität und Integration führt.
Nein, der reale Lehrer im realen Leben gibt auch alles, aber keinen Kitsch, sondern Pragmatismus in der nicht gerade schönen Gegenwart bei pennenden Flüchtlings-Schülern. Aber einige werden mit ein wenig mehr Deutschkenntnissen ihre Chance verbessern können.
Das zu sehen, hat nichts, aber auch rein gar nichts zu tun mit der wohlig-schaurigen Empörung über die Ungerechtigkeit der Welt, zu denen uns Filme über Migration natürlich verleiten. Emotional wüten wir im Kinosessel darüber, was der jungen Polin im New York zu Beginn des letzten Jahrhunderts im Film "The Immigrant" widerfährt, dieser Schwester von Vito Corleone aus dem "Paten".
Es ist Zeit für Realität, nicht fürs Kino
Und auch wenn uns der Film "Die Pirogge" eindrucksvoll mitten hineinsetzt in das fragile Boot zu den Senegalesen, die sich auf die gefahrvolle Reise über den Atlantik machen, hin zu den Kanarischen Inseln, und auch wenn wir am Frühstückstisch die Tränen nicht mehr zurückhalten können bei dem Bild des ertrunkenen Flüchtlingsjungen am türkischen Strand, so kann uns all das nicht wirklich vorbereiten auf die erste persönliche Begegnung.
Ergo: Alles zu seiner Zeit. Manchmal ist es Zeit ins Kino zu gehen. Doch gegen das - nein, besser für das, was geschieht hierzulande mit uns jetzt, helfen Kino und Film nicht. Jetzt ist Realitäts-Zeit. Gegen die Angst vor dem Fremden hilft nur Kontakt. Kontakt gleich Kommunikation.

Hartwig Tegeler
, geboren 1956 in Nordenham-Hoffe an der Unterweser, begann nach einem Studium der Germanistik und Politologie in Hamburg seine journalistische Arbeit bei einem Privatsender und arbeitet seit 1990 als Freier Hörfunk-Autor und -Regisseur in der ARD, schreibt Filmkritiken, Features und Reportagen.
Der Hörfunk-Journalist Hartwig Tegeler
Der Hörfunk-Journalist Hartwig Tegeler© privat
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