"Flüchtlingsschutz muss in den Koalitionsvertrag"

Moderation: Martin Steinhage |
"Dieses System ist darauf ausgerichtet, die Außengrenzen abzuschotten": Die Amnesty-Asylexpertin Franiska Vilmar kritisiert die europäische Flüchtlingspolitik - und fordert von der nächsten Bundesregierung mehr Engagement beim Schutz von Asylsuchenden.
Deutschlandradio Kultur: Mein heutiger Gast ist Franziska Vilmar. Sie ist Asylexpertin bei der deutschen Sektion von Amnesty International. Guten Tag, Frau Vilmar.

Franziska Vilmar: Schönen guten Tag.

Deutschlandradio Kultur: Schön, dass Sie da sind. - Flüchtlinge und Flüchtlingspolitik ist heute unser Thema. Frau Vilmar, vielleicht zur Einführung: Wie viele Menschen sind gegenwärtig weltweit auf der Flucht?

Franziska Vilmar: Die Zahl ist steigend. Im Moment sind 45 - oder über 45 -Millionen Menschen auf der Flucht nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks. Darunter befinden sich etwa 15 bis 16 Millionen, die tatsächlich die Grenzen ihres Landes verlassen haben und asylsuchend sind, während sich die anderen immer noch in ihrem Land aufhalten und Binnenvertriebene sind, etwa 30 Millionen.

Deutschlandradio Kultur: Welches sind nach Ihrer Erfahrung die Hauptgründe dafür, dass Menschen aus ihrer Heimat flüchten?

Franziska Vilmar: Im Moment scheint es so zu sein, dass vor allem Kriege Auslöser sind für Flucht, aber die Fluchtursachen sind natürlich vielfältig. Es gibt Menschen, die sind politisch verfolgt. Es gibt Menschen, die werden verfolgt, weil sie homosexuell sind, andere aufgrund ihrer Religion. Was wahrscheinlich auch zunehmend ist, ist der Klimawandel. Das ist natürlich auch ein Phänomen, weshalb Menschen nicht mehr Einkommen haben, weil es Dürreperioden und Katastrophen gibt. Insofern sind die Fluchtursachen vielfältig. Es gibt natürlich auch Menschen, die schlicht, weil es in ihrem Land keine Arbeit gibt und sie bettelarm sind und nicht wissen, wie sie satt werden sollen, ihr Land verlassen.

Deutschlandradio Kultur: Und unter diesen Menschen ist eine erschreckend gewaltige Zahl von Kindern.

Franziska Vilmar: Das ist so, ja.

Deutschlandradio Kultur: Viele der Flüchtlinge wollen nach Europa. Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen werfen der Europäischen Union eine systematische und brutale Abschottungspolitik gegenüber Flüchtlingen vor. Die Rede ist immer wieder von Horrorszenarien an den europäischen Außengrenzen. Und da, das ist mir bei der Vorbereitung aufgefallen, ist immer wieder von Griechenland die Rede. Was ist da los?

"Willkürliche Verhaftungen, kein Zugang zu Medizin"
Franziska Vilmar: Amnesty International hat gerade einen aktuellen Bericht zu Griechenland herausgegeben. Es gibt drei Aspekte, die wir untersucht haben. Der erste betrifft die Situation an den Grenzen. Flüchtlinge sind zunehmend gezwungen, den gefährlichen Seeweg zu beschreiten, steigen also in ein Boot ein und werden von der griechischen Küstenwache aufgegriffen und dann in die Türkei zurückgedrängt. Vorher werden die Boote zerstört. Ihnen wird alles Mögliche abgenommen. Das ist die eine große Problematik. Das sind sogenannte Pushbacks. Die verstoßen gegen Menschenrechte und sind international nicht erlaubt.

Die zweite Situation ist die: Die Menschen, die es nach Griechenland schaffen, werden automatisch und willkürlich inhaftiert, und das unter oft sehr schlimmen Umständen, also ohne frische Luft, ohne Zugang zu Medizin usw. Und als Drittes haben wir dokumentiert, dass es inzwischen Polizeirazzien gibt, beispielsweise in Athen. Da werden Menschen, die seit Jahren schutzsuchend in Griechenland leben mit ihren Familien, aufgegriffen, von ihren Familien getrennt und an die türkische Grenze deportiert.

Deutschlandradio Kultur: Was die griechischen Behörden da machen, ist fraglos völlig inakzeptabel. Was das nicht entschuldigt, aber vielleicht ein stückweit erklärt: Aus griechischer Sicht ist sicherlich auch nicht hinnehmbar, dass in diesem wirtschaftlich ja ohnehin am Boden liegenden Land bereit rund eine Million illegale Einwanderer leben. Das sind zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. Sehen Sie hier eine Mitschuld an der verfahrenen Situation bei den EU-Partnerstaaten und damit auch bei Deutschland, eben weil man die Griechen - und in der Konsequenz dann eben auch die Flüchtlinge -sträflich allein lässt?

Franziska Vilmar: Ja. Die Europäische Union hat sich entschieden für ein bestimmtes System. Dieses System ist nicht darauf ausgerichtet, Schutzsuchende aufzunehmen. Dieses System ist leider darauf ausgerichtet, die Außengrenzen abzuschotten. Das bedingt sich sowohl durch den Binnenmarkt, also die Schengengrenzen, die nach innen alles offen machen und damit die Außengrenzen dichthalten wollen, als auch auf das Zuständigkeitsverteilungssystem, das so genannte Dublin-System. Deshalb werden EU-Mitgliedsstaaten an den Außengrenzen häufig allein und im Stich gelassen.

Deutschlandradio Kultur: Also, Nachbarstaaten werden zu sicheren Drittstaaten erklärt. Und Transitstaaten, die die Flüchtlinge durchqueren müssen, erhalten Geld, um niemanden durchzulassen. Das ist, glaube ich, Praxis. - Reden wir über das ganz große Flüchtlingsthema dieser Tage. Reden wir über Syrien. Besonders dramatisch ist ja seit geraumer Zeit diese Flüchtlingssituation dort in Syrien, wo ein grausamer Bürgerkrieg tobt, dessen Ende nicht abzusehen ist. Wie viele Syrer sind bereits außer Landes geflüchtet?

Franziska Vilmar: Inzwischen sind es über 2,1 Millionen Syrer. Aber die Zahl schnellt wirklich in die Höhe. Das kann man sich gar nicht vorstellen. Es ist wahrscheinlich eine Flüchtlingskrise, wie wir sie selten erlebt haben.

Deutschlandradio Kultur: Und trifft es zu, dass bis zu 5000 Syrer täglich in die Nachbarländer streben?

Franziska Vilmar: Es hat sogar Tage gegeben, an denen über 10.000 Flüchtlinge die Grenzen überschritten haben.

Deutschlandradio Kultur: Andere Aufnahmeländer - wenn man jetzt die Geografie nicht ganz vor Augen hat - sind Libanon, Jordanien, Irak und Ägypten. Die meisten dieser Menschen sind in Auffanglagern, also in syrischen Nachbarländern. Wie sind da die Lebensumstände dieser Flüchtlinge?

""Die Aufnahmeländer sind überfordert""
Franziska Vilmar: Das ist inzwischen natürlich katastrophal, weil die Aufnahmeländer absolut überfordert sind. Das kann man sich ja deutlich machen, wenn man sich die Bevölkerungszahlen der Länder anguckt. 4,3 Millionen Menschen wohnen im Libanon. Inzwischen hat der Libanon über 760.000 syrische Flüchtlinge aufgenommen. 700.000 sind allein im letzten Jahr dazu gekommen. Jordanien hat etwa 6,5 Millionen Einwohner und über eine halbe Million syrische Flüchtlinge. Dort ist inzwischen die viertgrößte Stadt entstanden. Jordanien hat ein großes Problem mit Trinkwasser. Jetzt sind die Lebensmittelpreise und der Lebensunterhalt dreifach so teuer, wie es mal vor der syrischen Flüchtlingskrise war. Das führt natürlich vor Ort zu Spannungen.

Deutschlandradio Kultur: Die Bundesrepublik hat sich bereit erklärt, noch in diesem Jahr zusätzlich zu den bereits hier lebenden syrischen Asylbewerbern ein Kontingent von 5000 Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien aufzunehmen. Antonio Guterres, der UN-Flüchtlingskommissar, hat ausdrücklich das deutsche Engagement in diesem Zusammenhang gelobt. Was meinen Sie: Gibt Deutschland an dieser Stelle also ein gutes Beispiel für andere europäische Staaten?

Franziska Vilmar: Wir haben zumindest dieses Programm als eine wichtige erste Initiative gelobt und begrüßt, aber es kann angesichts des Umfangs natürlich nur ein erster Schritt sein. Wir würden uns wünschen, dass andere EU-Mitgliedsstaaten sich in einem wesentlich größeren Umfang auch daran beteiligen. Das ist mit Sicherheit im Moment noch nicht der Fall. Es gibt hier und da Signale aus Österreich und der Schweiz und auch Norwegen, mal 500, mal 1000 Flüchtlinge, teilweise aber auch im Rahmen ihrer bestehenden Aufnahmeprogramme, aufzunehmen. Aber angesichts der ja von uns schon erörterten Zahlen ist das natürlich nicht viel.

Deutschlandradio Kultur: Das heißt, Sie würden sich wie auch andere, wie beispielsweise die katholischen Bischöfe, wünschen, dass Deutschland an der Stelle deutlich mehr macht. Ich erinnere daran, im bosnischen Bürgerkriegs sind, glaube ich, bis zu 300.000 Flüchtlinge aufgenommen worden hierzulande.

Franziska Vilmar: Ja, also, die Bundesländer haben ja jetzt nachgebessert. Die haben eine Initiative gestartet, wo sie gesagt haben, wir würden gerne, dass mehr Menschen aus Syrien kommen können, indem sie den Familiennachzug für Syrier ermöglicht haben, die bereits in Deutschland leben, und haben Erlasse gemacht, in denen drin steht, dass das möglich sein soll erstens auch für Menschen, die nur einen subsidiären Schutzstatus haben - also eigentlich gar keinen gesetzlichen Anspruch auf Familiennachzug -, und darüber hinaus auch für die erweiterte Familie, eben auch für Geschwister oder auch für Großeltern. Das Problem an dieser Initiative ist allerdings, dass sie mit wahnsinnig bürokratischen Hürden verbunden ist.

Deutschlandradio Kultur: Und sie ist teuer.

"Der komplizierte Weg von Syrien nach Deutschland"
Franziska Vilmar: Und sie ist auch teuer für die Betroffenen. Allerdings hat es inzwischen auch schon Bewegung bei dieser Initiative gegeben. Die Bundesländer haben sich zusammengesetzt und, glaube ich, auch die Kritik von vielen verschiedenen Organisationen ernst genommen und verzichten jetzt auf die Krankenversicherung. Also, die Verwandten, die hier vor Ort ihre Verwandten zu sich holen wollen, die syrischen Flüchtlinge, müssen ja für den Lebensunterhalt, Wohnung usw. aufkommen – für die Krankenversicherung jetzt nicht mehr. Das ist jetzt rausgenommen worden. Das ist eine sehr aktuelle Entwicklung.

Deutschlandradio Kultur: Aktuell ist bei der Entwicklung auch, dass ja von den von mir genannten 5000 Kontingentflüchtlingen gerade mal, habe ich heute noch mal nachgelesen, 500 überhaupt erst ins Land gekommen sind. 4500 warten noch darauf, herkommen zu können. Aber aus Sicht der Betroffenen drängt doch die Zeit. Über welchen Zeitraum soll das denn stattfinden?

Franziska Vilmar, Expertin für Asylpolitik bei Amnesty International (dpa)

Franziska Vilmar: Also, natürlich ist es bedauernswert, dass das alles nicht sehr viel schneller stattfinden kann. Von dem, was ich weiß über den UNHCR über das Bundesinnenministerium, ist es natürlich auch schwierig zu gucken, wen holt man da raus? Welches Land ist eigentlich einverstanden mit diesem Aufnahmeprogramm? All das war gar nicht so deutlich vorher. Eigentlich war an Jordanien gedacht. Jordanien wollte das gar nicht so richtig. Der Libanon hat immer gesagt, ja, wir machen das mit. Und jetzt ist in der Aufnahme erforderlich, dass es eine Delegationsreise in das Land gibt, dass man diese Menschen nach den Kriterien, wie sie in der Aufnahmeanordnung drin stehen, aussucht, also humanitäre Kriterien oder Deutschlandbezug.

Und dann muss der Libanon noch mal draufschauen. Dann wird eine Sicherheitsprüfung gemacht. Dann muss ein Charterflugzeug bestellt werden usw. Und das zieht sich in die Länge. Der UNHCR hat Fälle vorgelegt, die müssen von der Regierung jetzt abgesegnet werden, damit die Nächsten kommen können. Und die nächste Maschine, die mit wahrscheinlich weiteren hundert Flüchtlingen landet, wird am 10. Oktober erwartet.

Deutschlandradio Kultur: Frau Vilmar, die syrischen Kontingentflüchtlinge haben automatisch einen so genannten Flüchtlingsstatus. Wie ist üblicherweise die rechtliche Situation von Flüchtlingen, zum Beispiel von Menschen aus dem Irak oder Afghanistan?

Franziska Vilmar: Ich muss Sie leider enttäuschen. Das ist nämlich nicht der Fall, dass die automatisch einen Flüchtlingsstatus haben.

Deutschlandradio Kultur: Auch nicht die Kontingentflüchtlinge?

""Dann droht ihnen Gefahr für Leib und Leben""
Franziska Vilmar: Auch nicht die Kontingentflüchtlinge. Diese haben einen Status, der ergibt sich aus § 23 in Verbindung mit 24 des Aufenthaltsgesetzes. Und ich will Ihnen das erläutern: Also, dabei handelt es sich um die Aufnahme aus dem Ausland aus humanitären Gründen und zusätzlich nur um eine temporäre Aufnahme. Das war auch der Bundesregierung sehr wichtig. Das bedeutet: Nur zwei Jahre ist der Aufenthaltsstatus. Und dann gibt es die Möglichkeit, das zu verlängern.

Deutschlandradio Kultur: Wie groß ist denn generell die Chance von Menschen, die zu uns kommen, die auf der Flucht sind, in Deutschland bleiben zu können? Kann man das in%en ausdrücken?

Franziska Vilmar: Das kann man. Es gibt ja unterschiedliche Rechte, die man erteilen kann, also einen Aufenthaltsstatus, der sich entweder aus dem Grundgesetz ergibt, nämlich eine Asylberechtigung wegen politischer Verfolgung. Der wird in den kleinsten%fällen ausgedrückt sind.

Deutschlandradio Kultur: Zwei bis vier Prozent.

Franziska Vilmar: So etwa, eher weniger hätte ich jetzt fast gesagt. Und dann gibt es den Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Da sind wir dann insgesamt etwa bei 15 Prozent. Und dann gibt es weitere 15 Prozent, die eine andere Form des internationalen Schutzes bekommen. Das heißt, die bekommen einen europäischen oder nationalen subsidiären Schutz. Und das bedeutet, dass man zwar sagt, sie sind eigentlich nicht verfolgt, aber wenn man sie zurückschieben würde in das Land, aus dem sie kommen, dann droht ihnen Folter, dann droht ihnen Gefahr für Leib und Leben. Und deswegen muss man sie schützen.

Deutschlandradio Kultur: Das ist die so genannte Duldung, richtig?

Franziska Vilmar: Nein, das ist noch etwas anderes. Es ist kompliziert in diesem Bereich. Um das noch zu ergänzen: Also, diese international Geschützten, die eigentlich nicht anerkannt werden, sondern diesen zweiten Status bekommen, sind leider in den Folgerechten nicht gleichgestellt, was wir immer wieder sehr bedauern. Die haben nämlich nicht den Anspruch auf Familienzusammenführung, wie ich das vorhin dargestellt habe. Das bedeutet halt, dass das ins Ermessen gestellt ist, ob ein minderjähriges Kind nachkommen kann oder nicht, was ein großes Problem ist. Die Duldung, um das auch ganz deutlich zu machen, ist überhaupt kein rechtmäßiger Aufenthaltstitel. Und wir haben fast 90.000 Menschen in Deutschland, die mit einer Duldung leben. Davon sind fast 40.000 seit sechs Jahren hier. Und diese Menschen haben gar keine Rechte.

Deutschlandradio Kultur: Eine sehr komplizierte Materie. Da bewegt man sich sehr schnell als Nichteingeweihter auf dünnem Eis. Ich versuche es gleich noch mal, ob ich das denn richtig verstanden habe: Asylbewerber dürfen zumindest in den ersten zwölf Monaten ihres Asylverfahrens nicht arbeiten. Sie unterliegen zudem der so genannten Residenzpflicht. Das heißt, sie dürfen sich nur sehr eingeschränkt im Land bewegen. Das ist von Bundesland zu Bundesland verschieden. Und die Rechte und Pflichten sind im Asylbewerberleistungsgesetz geregelt. Warum fordert zum Beispiel Amnesty International die Abschaffung dieses Asylbewerberleistungsgesetzes? Und was sollte nach Ihren Vorstellungen an dessen Stelle treten?

"Leistungen 40 Prozent unter Hartz IV"
Franziska Vilmar: Das Asylbewerberleistungsgesetz ist ein Sondergesetz, das für Asylsuchende eingeführt worden ist im Rahmen des Asylkompromisses 1992/93. Es sollte Abschreckungsfunktion haben. Das ist erklärt in den Bundestagsplenardebatten, die man nachlesen kann. Dieses Asylbewerberleistungsgesetz hat Leistungen vorgesehen für die Asylsuchenden, die dann seither nicht erhöht worden sind. Das heißt, sie lagen lange Zeit 30 bis 40 Prozent unter dem Hartz-IV-Satz. Das hatte klare Abschreckungsfunktion. Und mit dem Asylbewerberleistungsgesetz gibt es auch Probleme, zur medizinischen Versorgung Zugang zu bekommen, und andere. Auch, welche Gruppen fallen darunter, ist ein großes Problem.

Jetzt hat es eine Bundesverfassungsgerichtsentscheidung im letzten Sommer gegeben, die festgestellt hat, dass diese Leistungen, die bisher bezahlt worden sind, eklatant gegen die Menschenwürde verstoßen. Ein ganz wichtiger Satz aus diesem Urteil lautet, dass die Menschenwürde nicht migrationspolitisch zu relativieren ist. Und wir fordern, dass das abgeschafft wird, weil es diskriminiert. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, Menschen, die Sozialhilfe benötigen, von Menschen, die aus anderen Ländern kommen, die Sozialleistungen benötigen, zu trennen und mit einem Sondergesetz zu behandeln.

Deutschlandradio Kultur: Haben Sie eigentlich direkt in Ihrer Arbeit als Expertin mit Flüchtlingen, mit Asylbewerbern hier im Land zu tun? Kommen die teilweise auch zu Amnesty International und suchen den Kontakt mit Ihnen? Oder gehen die eher zu den Kollegen von Pro Asyl?

Franziska Vilmar: Die kommen auch zu uns. Wir haben ehrenamtlich Asylgruppen, die in verschiedenen Teilen in Deutschland arbeiten. Und ich komme selbst ursprünglich aus der ehrenamtlichen Ecke und habe hier in Berlin in einer Amnesty-Asylgruppe Flüchtlinge beraten. Wir haben also dafür gesorgt, dass die für die Anhörung, wenn sie denn rechtzeitig zu uns gekommen sind, sich gut vorbereiten können, auch mit Berichten, die Amnesty aus den Ländern parat hatte, ihr Begehr zu unterstützen. Und wenn sie Probleme haben, weil sie eine Ablehnung bekommen haben, wir aber der Auffassung sind, sie sollten eine Anerkennung bekommen, gibt es die Möglichkeit, bei uns den Fall einstufen zu lassen und auch finanziell den Rechtsanwalt beispielsweise durch uns tragen zu lassen. Insofern haben wir auch Einzelfallkontakte. Ich persönlich habe einen guten Kontakt zu einem Flüchtling, der im Rahmen des Resettlement-Programms hier nach Berlin gekommen ist und damals Libyen verlassen hat, seinerzeit aus Somalia kam und dann über unser Resettlement-Programm 2012 Deutschland erreicht hat.

Deutschlandradio Kultur: Da wir heute viel lernen: Resettlement-Programm in einem Satz?

Franziska Vilmar: Ich glaube, es geht in zwei Sätzen. Bei dem Resettlement-Programm sucht der UNHCR in bestimmten Flüchtlingscamps beispielsweise Flüchtlinge aus und sieht, dass diese Flüchtlinge erstens nicht zurück in ihr Herkunftsland können, weil sie dort verfolgt werden oder ihrem Leib und Leben Gefahren drohen, und zum anderen das Erstaufnahmeland, in dem sie gelandet sind, in das sie zunächst geflohen sind, ihnen keine Perspektive bieten kann.

Und um vielleicht noch einen Satz anzubringen: Der UNHCR hat im Jahr 2012 über 172.000 Plätze benötigt, um diesen Menschen eine dauerhafte Aufenthaltsperspektive in einem anderen Land zu gewähren weltweit. Von denen sind weltweit weniger als die Hälfte, also 80.000 Plätze überhaupt nur gefunden worden – und in Europa nur viereinhalbtausend. Und davon nimmt Deutschland gegenwärtig nur 300 auf. – Also, um sich diese Zahlen auch mal zu vergegenwärtigen. Deswegen wäre eine Forderung auch an eine neue Bundesregierung von uns, dieses Resettlement-Programm tatsächlich deutlich auszubauen und zu verstetigen.

Deutschlandradio Kultur: Flüchtlinge werden meist in Massenunterkünften untergebracht. Sie sind oftmals nicht willkommen. So gab es jüngst Bürgerproteste gegen ein Flüchtlingsheim in Berlin-Hellersdorf, um nur ein besonders eklatantes Beispiel zu nennen. Wie kann man der Gefahr begegnen, dass sich die hier lebende Wohnbevölkerung überfordert fühlt, und man auf der anderen Seite aber auch den Ansprüchen, die die Flüchtlinge natürlich haben, gerecht wird?

"Die Zahl der Flüchtlinge steigt"
Franziska Vilmar: Die Zahl der Flüchtlinge, die weltweit gerade auf der Flucht sind, ist ja steigend. Das heißt, die Asylantragszahlen, die in Deutschland in diesem Jahr erwartet werden, werden vielleicht bei 100.000 liegen. Das bedeutet, dass wir bei ansteigenden Asylanträgen sind. Sobald dies passiert, erlebt man in der politischen Debatte, dass schnell von Missbrauch gesprochen wird. Das hatten wir im vergangenen Herbst, als es verstärkt Anträge aus Serbien und Mazedonien gab. Und das hat man auch ganz schnell wieder, wenn jetzt vermehrt Tschetschenen kommen, obwohl es dort eine Schutzquote von knapp zehn Prozent gibt. Offenbar gibt es dort Verfolgung und offenbar gibt es dort Menschen, die schutzbedürftig sind.

Dem muss man natürlich entgegensetzen, auch als verantwortliche Bundesregierung, dass man klar macht, dass Menschen sich nicht freiwillig auf die Flucht begeben, dass sie nicht freiwillig ihr Haus verlassen, ihre Heimat verlassen, ihre Familie hinter sich lassen, sondern dass es Menschen gibt, die gute Gründe haben herzukommen, und dass wir umgekehrt international verpflichtet sind aufgrund von Menschenrechten, aufgrund von europäischem Recht und aufgrund unseres Grundgesetzes, diesen Menschen Schutz zu gewähren.

Deutschlandradio Kultur: Und in Hellersdorf kam ja offenbar noch dazu, dass die örtliche NPD dort ihr Süppchen gekocht hat und dann ja auch schäbige zehn Prozent dort in einem Wahllokal bei der Bundestagswahl bekommen hat.

Franziska Vilmar: Es ist leider ja nicht nur Hellersdorf. Es gibt auch Berichte darüber, wie in Bad Soden in einem Wohnviertel in der Nähe von Frankfurt Menschen, die sehr wohlhabend sind, Menschen, die akademisch gebildet sind, nicht möchten, dass es dort Gemeinschaftsunterkünfte gibt, weil sie sich sozusagen auch von dem Elend der Welt freigekauft haben. Ich glaube, es gibt nicht nur die Übersetzungsleistung an Menschen, die sagen, oh, da kommen Leute und nehmen uns was weg. Weshalb es ja auch erforderlich ist, dass die möglichst schnell arbeiten können, das ist inzwischen übrigens nach neun Monaten schon immerhin der Fall, aber das ergibt sich aus europäischem Recht. Sondern es geht natürlich auch darum, auch diesen Menschen zu vermitteln, dass wir da solidarisch sein müssen und dass man nicht einfach nur seinen Gartenzaun hochziehen kann und sagt, ich möchte das Leid der Welt nicht sehen.

Deutschlandradio Kultur: Und die Angst der Wohnbevölkerung vor Dingen wie Überfremdung, vor Kriminalität, vor Unruhe, vor Belästigung, vor Krach usw. usf.: Ist das sozusagen wirklich Ausfluss dessen, dass die Politik die Menschen in die Irre führt? Oder ist das nicht tief drin in den Leuten, weil sie wirklich Angst und Sorgen haben, die ihnen keiner nimmt an der Stelle?

Franziska Vilmar: Ja, ich denke, das wäre sehr hilfreich, wenn man einfach mit diesen Berührungsängsten umgehen würde und die Menschen einfach zusammenbringen würde, um zu sehen, was sind eigentlich die Schreckensbilder, die in meinem Kopf sind, und was sind eigentlich die Realitäten und um welche Menschen handelt es sich hier eigentlich. Also, sobald Menschen Kontakt haben zu anderen, wo man sieht, das ist auch eine Mutter, die hat auch ihre Sorgen mit ihren Kindern - und ob die aus Syrien kommt oder aus Somalia oder aus dem Irak -, eigentlich hat die ähnliche Sorgen wie ich als Mutter von zwei deutschen Kindern. Weil, ich möchte, dass die gesund bleiben, weil ich möchte, dass die eine Schulbildung bekommen, das sind ja teilweise sehr ähnliche Sorgen. Und ich denke auch, dass die Auseinandersetzung mit Krieg und der Not, die diese Menschen vor Ort erlebt haben, sehr hilfreich wäre für eine ganz andere Akzeptanz in der Bevölkerung.

Deutschlandradio Kultur: Diesen Prozess, den Sie da beschreiben, das muss man ja auch dann an der Stelle sagen, den gibt es eben auch in Berlin-Hellersdorf. Es gibt da wirklich zwei Seiten und nicht nur die eine. - Frau Vilmar, Hand aufs Herz, was verbinden Sie mit dem Begriff "Armutsflüchtling"? Können Sie damit was anfangen?

"Legale Einwanderungswege nach Deutschland schaffen"
Franziska Vilmar: Ich wehre mich immer sehr dagegen. Natürlich ist der Begriff Flüchtling tatsächlich auch einfach definiert in der Genfer Flüchtlingskonvention. Ich bin teilweise gefragt worden, wie wir jetzt zu den neuen Wirtschaftsflüchtlingen stehen. Und gemeint waren Menschen, die Spanien verlassen und hier eine neue Arbeit suchen oder zum Studieren nach Deutschland kommen. Ich denke, man muss genau hingucken, was für Motive haben diese Menschen, und vielleicht auch mal gucken: Schafft man legale Einwanderungswege nach Deutschland, die nicht in Abwehr bestehen, sondern: Wir haben eigentlich Fachkräftebedarf, beispielsweise.

Deutschlandradio Kultur: Es gibt ja nicht nur die weit verbreitete Das-Boot-ist-voll-Ideologie, es gibt ja auch das Argument, Deutschland könne nicht alle Mühseligen und Beladenen der Welt aufnehmen, verbunden mit der These: Umso mehr Flüchtlinge wir aufnehmen, umso mehr wollen dann auch kommen. Was entgegnen Sie dieser weit verbreiteten Argumentation?

Franziska Vilmar: Ich glaube, dass das nicht stimmt. Ich glaube, dass die Menschen kommen, weil sie nicht anders können. Ich glaube nicht, dass sich jemand vorher entschließt, deshalb zu kommen, weil wir hier so tolle Leistungen jetzt haben, nachdem das Bundesverfassungsgericht das Asylbewerberleistungsgesetz nachbessern musste, weil der Gesetzgeber das nicht hingekriegt hat und ja auch bis heute noch nicht hinbekommt. Ich denke, man muss damit umgehen, dass es einfach zunehmend Krisenherde in der Welt gibt, zunehmend Kriege in der Welt gibt, die Fluchtbewegungen in einem immer größeren Ausmaße auslösen. Und an den Ursachen dieser Flucht haben die Staaten, die im Endergebnis die Flüchtlinge aufnehmen, ja auch eine Verantwortung.

Deutschlandradio Kultur: Nach Schätzung der Vereinten Nationen wird sich die Zahl der Flüchtlinge in den nächsten Jahren und Jahrzehnten dramatisch erhöhen, es klang ja bei Ihnen auch schon an, wenn nämlich all die Menschen eine neue Bleibe suchen, deren Heimat aus ökologischen Gründen unbewohnbar geworden ist, sei es aus Mangel an Trinkwasser, sei es aufgrund von Überflutung. Geschätzte 150 Millionen Umweltflüchtlinge könnten dann vor allem nach Europa kommen. Ist die deutsche wie die europäische Politik vielleicht auch deswegen so abweisend in der Flüchtlingsfrage, weil sie weiß, da kommt noch sehr viel mehr auf uns zu?

Franziska Vilmar: Da müsste ich spekulieren. Also, ich glaube schon, dass es eine Abwehr gibt, die sich schlicht auf die Flüchtlinge bezieht, die jetzt kommen. Und ob das schwerpunktmäßig Umweltflüchtlinge sind, wage ich jetzt erstmal zu bezweifeln, sondern das sind schon einfach viel, viel Flüchtlinge aus Bürgerkriegsgebieten.

Deutschlandradio Kultur: Aber so in zehn, 15, 20 Jahren - diese Schätzungen gehen in die Zukunft.

Franziska Vilmar: Na ja, genau diese Umweltflüchtlinge sind von der Genfer Flüchtlingskonvention und damit durch unsere internationalen Verpflichtungen ja gar nicht gedeckt und nicht geschützt. Deswegen wäre sowieso zu fragen, wie man dann damit umgeht, dass es Menschen gibt, die sich schlicht aus Trinkwassermangel oder so auf den Weg machen. Dazu haben wir zusammen mit Pro-Asyl und Wohlfahrtsverbänden Anfang dieses Jahres einen kleinen Reader rausgegeben. "Auf der Flucht vor dem Klima" heißt der, der genau dieses Phänomen beschreibt und auch dazu auffordert, sich mit diesem Phänomen anders auseinanderzusetzen und zu sehen, wie man diesen Menschen Schutz bieten kann.

Deutschlandradio Kultur: Nach Angaben der Vereinten Nationen leben etwa 600.000 Flüchtlinge in Deutschland. Wo steht Deutschland mit seiner Flüchtlingspolitik im internationalen Vergleich?

Franziska Vilmar: Also, was das Aufnahmeland betrifft, ist Deutschland aus irgendwelchen mir nicht ganz erklärlichen Gründen beim UNHCR auf Platz 3 gelandet. Das liegt aber daran, wenn man sich die Zahl genau anschaut, dass da auch Russlanddeutsche - die Anfang der 90er zu uns gekommen sind, und das sind über 200.000 - mit dazuzählen. Das ist eine Bestandszahl, die nicht bedeutet, wir hätten jetzt 600.000 im letzten Jahr aufgenommen, was sehr misslich ist, weil dann so ein Land wie Kenia, was tatsächlich 500.000 Flüchtlinge aus Somalia in einem großen vergessenen Flüchtlingscamp in Dadaab beherbergt, komisch daherkommt und im Vergleich merkwürdig aussieht.

Deutschlandradio Kultur: Also kann man sagen, dass Deutschland im internationalen Vergleich eben doch nicht so großartig dasteht.

Franziska Vilmar: Was man über Deutschland sagen kann, ist, dass es nach den Vereinigten Staaten an zweiter Stelle steht, was die Asylantragszahlen betrifft. Und es hat immerhin eine Schutzquote, die ähnlich ist wie die der Europäischen Union im Schnitt, also etwa 30 Prozent. Und es ist eben auch innerhalb von Europa noch immer das Hauptaufnahmeland.

Deutschlandradio Kultur: Frau Vilmar, gestern wurde der bundesweite "Tag des Flüchtlings" begangen. In der öffentlichen Wahrnehmung, und auch in der Wahrnehmung der Politik, hat dieser Tag keine große Rolle gespielt. Andere Themen, wie zum Beispiel die Koalitionsbildung, dominierten die Agenda. Wie groß ist denn Ihre Hoffnung, dass die nächste Bundesregierung Ihrem Anliegen, dem Thema Flüchtlingsschutz, tatsächlich mehr Beachtung schenkt?

Franziska Vilmar: Ich habe mich zunächst sehr gefreut, dass die Tagesschau am gestrigen Tag um 12.00 Uhr den Nationalen Flüchtlingstag für einen kleinen Beitrag genutzt hat. Aber jenseits dessen wäre das meine Hoffnung, dass man dem Thema andere Beachtung schenkt. Und angesichts der Zahlen, über die wir jetzt in dieser Sendung viel gesprochen haben, gehe ich davon aus, dass das eine Notwendigkeit ist.

Deutschlandradio Kultur: Ganz herzlichen Dank für dieses Gespräch, Frau Vilmar.
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