Flüchtlingstragödie im Mittelmeer

Europas Schande

Ein von der italienischen Finanzpolizei zur Verfügung gestelltes Infrarotbild der Suche nach Überlebenden der Flüchtlingskatastrophe in der Straße von Sizilien
Ein von der italienischen Finanzpolizei zur Verfügung gestelltes Infrarotbild der Suche nach Überlebenden © picture alliance / EPA/ GUARDIA DI FINANZA / HANDOUT
Von Jan-Christoph Kitzler, ARD-Studio Rom |
Etwa 700 Menschen haben vermutlich bei dem neuen Flüchtlingsdrama im Mittelmeer ihr Leben verloren. Im vergangenen Jahr waren es laut UNO rund 3.500 Tote. Und was tut Europa? Schleuser bekämpfen, den Exodus aufhalten, Leben retten: Bei jedem dieser Punkte versagt Europa und das ist eine Schande, meint Jan-Christoph Kitzler in seinem Kommentar.
Ich kann mich noch gut an den 9. Oktober 2013 erinnern – damals wurden auf der Mittelmeerinsel Lampedusa beste Krokodilstränen vergossen. Der damalige EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso war, wie andere auch, nach Lampedusa gekommen. In einer Halle auf dem Flughafen standen weit über 300 Särge aufgereiht, die Toten einer weiteren Flüchtlingstragödie. Und Barroso sagte den schönen Satz: "Wir glauben, dass die Europäische Union nicht akzeptieren kann, dass Tausende an ihren Grenzen sterben."
Was tut Europa?
Schön gesagt war das – und hat damals vielleicht ein paar getröstet, die auf eine neue, europäische Migrationspolitik gehofft haben. Aber für jeden, der sich mit dem Thema etwas näher beschäftigt, klingen diese Worte einfach nur bitter. Zumal nach einer neuen Katastrophe wie dieser. Denn was ist seitdem passiert?
In den ersten Monaten dieses Jahres sind laut UNHCR bereits rund 1.500 Menschen bei dem Versuch gestorben, Europa über das Mittelmeer zu erreichen, 2014 gab es rund 3.500 Tote. Und was tut Europa? Man hat die Italiener lange machen lassen – Marine und Küstenwache waren bis Ende letzten Jahres weit draußen auf dem Meer unterwegs, um Menschen zu retten. Seitdem gibt es "Triton", eine Operation unter der Regie der Grenzschutzagentur Frontex. Ihr Auftrag: eine 30-Meilen-Zone überwachen, drei Millionen Euro lässt sich Europa eine Mission kosten, die zur Rettung der meisten Menschenleben völlig ungeeignet ist. Mare Nostrum, nebenbei gesagt, war mehr als dreimal so teuer.
Ziemlich klar, was passieren muss
Aber es ist nicht das Geld: Europa fehlt ein Konzept. Dabei ist ziemlich klar, was passieren muss. Erstens: Europa muss die Schleuser bekämpfen. Die machen ein Riesengeschäft mit der Verzweiflung derer, die vor Krieg, Terror oder Hunger fliehen. Sie verdienen bestens daran, dass Europa auf Abschottung setzt. Denn je höher die Hürden und Zäune, desto großer das Risiko, sie zu überwinden. Und genau dieses Risiko lassen sich die Schleuser gut bezahlen.
Zweitens: Man muss verhindern, dass die Menschen sich überhaupt auf den Weg machen. Und das heißt zunächst einmal: jenseits der Grenze zu blicken, über den eigenen Tellerrand zu schauen, die Migrationsströme zu verstehen. Libyen ist ein Land der Verzweiflung. Viele Menschen kommen hierher, in der Hoffnung, Europa zu erreichen. Und gleichzeitig ist Libyen ein zerfallender Staat. Aber tut Europa irgendetwas, um den Zerfall aufzuhalten? Hat Europa ein Libyen-Konzept, einen Plan, um zu verhindern, dass kurz vor unserer Haustür Terror und Gewalt die Macht übernehmen? Und Libyen ist nur ein Beispiel.
Und drittens: Europa muss die Menschen retten, die zu tausenden auf dem Mittelmeer umkommen. Das gebietet die Menschlichkeit, das gebieten alle Werte, für die Europa steht.
Die Europäische Union kann nicht akzeptieren, dass Tausende sterben, hatte Barroso gesagt. Aber dann müsste man auch entsprechend handeln. Schleuser bekämpfen, den Exodus aufhalten, Leben retten – bei jedem dieser Punkte versagt Europa. Und das ist eine Schande.
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