"Da werden Menschen weggeworfen"
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In der Region Bihać in Bosnien verwandelt die Coronakrise die schon verzweifelte Lage der Flüchtlinge in eine Tragödie. Helfer und Journalisten haben das Land verlassen, die Angst der bosnischen Bevölkerung wächst – und damit auch die Wut über die Flüchtlinge.
"Hello, we are immigrants in this place and we just want to take this video to show you where we are living and how much we are suffering over here."
Anfang April dieses Jahres bekomme ich ein Video über Facebook zugeschickt, es ist mit einer Handykamera gedreht. Man sieht dutzende Zelte, die in einer halb verfallenen Fabrikhalle stehen. In der Ferne, hinter kaputten Fenstern, liegt eine weiße Schneelandschaft. Zwischen den Zelten qualmen kleine Holzfeuer, um die sich Menschen drängen. Ein Elendslager. Der Mann sagt, sie alle seien Flüchtlinge, die im Norden von Bosnien-Herzegowina gestrandet sind.
"This is our life in this factory, in this big factory. It is very snowy, it is too cold but we have to deal with it, that's all. It is dirty anyway. We are suffering daily."
Man kann nicht mit Sicherheit sagen, wann diese Bilder von wem aufgenommen wurden. Denn wegen der Coronakrise hat auch Bosnien-Herzegowina seine Landesgrenzen geschlossen. Wer einreisen will, muss sich für zwei Wochen in Quarantäne begeben. Deshalb sind kaum mehr ausländische Journalisten vor Ort, fast alle Helfer haben bereits das Land verlassen.
Bericht aus der Ferne zur aktuellen Lage
Eigentlich wollte ich im Frühling dort recherchieren. Denn in der bosnischen Region Una-Sana, nur wenige Kilometer von der kroatischen Grenze entfernt, sind rund zehntausend geflüchtete Menschen auf dem Weg in die EU gestrandet. Es gibt drei offizielle Camps der Vereinten Nationen, aber mehrere tausend Menschen hausen in verlassenen Ruinen. Über sie wollte ich berichten, doch jetzt sitze ich im Home-Office fest. Deshalb versuche ich, aus der Ferne zu recherchieren.
"Ich habe ein paar Schuhe für dich und ich habe etwas … für dich. Please wartet auf mich."
Die Frau, die in der Aufnahme spricht, heißt Zehida Bihorac, 52 Jahre alt. Sie lebt in dem kleinen Ort Velika Kladuša kurz vor der kroatischen Grenze. Von dort hat sie mir das Video geschickt. Man sieht sie, umgeben von Männern, mit zerrissener Kleidung. Sie trägt einen Mundschutz vor dem Gesicht und einen blauen Turban um den Kopf, und spricht in einer Mischung aus Bosnisch, Deutsch und Englisch.
Bihorac ist eine der wenigen verbliebenen Helfer in der bosnischen Region Una-Sana. Mehr als 40.000 Geflüchtete hatten die Behörden dort im letzten Jahr registriert. Ich erreiche Bihorac am Abend auf ihrem Handy. Als ich frage, wie es ihr geht, fängt sie an zu weinen.
"Ich bekomme jeden Tag zehn Anrufe um Hilfe, um Kleidung, um Essen, um medizinische Mittel. Also das sind Appelle, und die Leute sind einfach an den Grenzen und Kräften. Also die Leute sind geschlagen, die Leute sind ohne Telefon, ohne Rucksäcke, ohne Schlafsäcke, Geld wurde ihnen genommen. Und sie kommen so in Velika Kladuša an, wo auch Armut ist, wo die Leute ihnen nichts geben können, oder kaum was. Also, keine Ahnung was ich sagen soll."
Jeden Morgen steigt Bihorac in ihren Wagen und klappert die illegalen Camps der Flüchtlinge in der Umgebung ab: halb verfallene Fabrikgebäude, verlassene Häuser. Sie verteilt Essenspakete, Schuhe und Medizin, gekauft von den Spendengeldern einer Organisation aus Österreich. Es sind homöopathische Dosen gegen die Not.
"Alle sind weg aus Bosnien-Herzegowina"
"Hier waren auch Volontäre aus anderen Ländern und sie haben auch sehr mitgeholfen, aber wegen des Coronavirus und der Situation, die entstanden ist, also viele sind – nicht viele, sondern alle sind schon weg aus Bosnien und Herzegowina, aus Velika Kladuša."
Zehida Bihorac arbeitet als Lehrerin an einer Hauptschule. Als im Jahr 2015 tausende geflüchtete Menschen auf dem Weg nach Norden die Region erreichten, beschloss sie zu helfen.
"Und wir bemühen uns und helfen so viel wir können, aber wie die Zeit weitergelaufen ist, wurde die Situation schlimmer. Die offizielle Politik und die Stadtregierung ist sehr streng und sehr unempathisch gegen die Migranten und Flüchtlinge."
Kroatien schloss seine Grenzen, und aus einem Durchgangsort wurde für die Menschen auf der Flucht eine Sackgasse. Sie blieben im Nordwesten des Landes hängen, einer Region, die sich noch immer nicht von dem Bürgerkrieg erholt hat. Seit Jahren bitten bosnische Politiker die internationale Gemeinschaft um Hilfe. Bosnische Aktivisten wie Bihorac sagen: Die EU lässt uns hängen.
"Und wir leben auch in Europa, nur an der anderen Seite der Grenze. Und das heißt nicht, dass wir so vieles alleine ertragen müssen, weil die Leute hier eingesperrt sind in Bosnien-Herzegowina, im Una-Sana Kanton, besonders in Velika Kladuša."
Mein Problem als Journalist ist: ich kann nicht überprüfen, ob meine Gesprächspartner die Wahrheit sagen. Um trotz der geschlossenen Grenzen zu recherchieren, klicke ich mich durch Facebook-Gruppen und führe Interviews über WhatsApp. Ich versuche so viele unterschiedliche Quellen zu bekommen wie möglich.
"So wir sind angekommen. Nassir ist mein Kameramann. So, 300 Leute, die Hunger haben, das muss ich jetzt hier irgendwie unter Kontrolle kriegen..."
Dieses Video hat der Deutsche Dirk Planert am 8. März auf seine Facebook-Seite geladen. Er lässt sich dabei filmen, wie er in der Stadt Tuzla, im Osten Bosnien-Herzegowinas, Essen und Medikamente an geflüchtete Männer verteilt. Mehrere hundert Menschen stehen in einer Schlange und warten auf Hilfe.
Menschen auf ehemalige Müllkippe abgeschoben
Planert hat eine besondere Beziehung zur Stadt Bihać, die nur wenige Kilometer von Velika Kladuša entfernt liegt. Anfang der 90er-Jahre hatte Planert als einer der wenigen Ausländer die mehrjährige Belagerung durch serbische Truppen miterlebt. Für seinen Hilfseinsatz damals wurde ihm 2019 die Ehrenbürgerschaft der Stadt Bihać verliehen.
Als er nach Bosnien fuhr, um die Auszeichnung in Empfang zu nehmen, war er erschüttert von der Lage der Flüchtlinge. Der Bürgermeister von Bihać hatte zu dem Zeitpunkt etwa tausend Menschen auf der ehemaligen Müllkippe Vucjak untergebracht und die Versorgung gekappt.
"Es hat fürchterlich gestunken, überall ragte noch Dreck aus dem Boden. Es standen da: für mehrere hundert Menschen zwei Zelte, kleine, und vier Wasserzisternen, die noch gefüllt waren. Sonst gar nichts. Keine Ambulanzstationen, keine Lebensmittel, null. Und dann kam ein kleiner Polizeibus, hielt direkt vor mir und die Polizeibeamten darin haben einen jungen Mann aus dem Transporter rausgeschmissen, mir direkt vor die Füße. Der hat vor Schmerzen geschrien, der hatte ganz schlimm Blinddarm und die Polizisten sind dann einfach wieder gefahren. In diesem Moment ist mir bewusst geworden, dass da Menschen weggeworfen werden, und ich habe dann entschieden, dazubleiben, bis es vorbei ist."
Fast jeden Tag in den letzten neun Monaten schrieb Planert an Politiker und Journalisten. Er reiste zum Europäischen Parlament nach Brüssel und schrieb Texte für die Heinrich-Böll-Stiftung. Er machte auf das Elend der Menschen aufmerksam. Und er hatte Erfolg: Im vergangenen Jahr berichteten viele Medien über das Müllkippen-Camp Vucjak. Im Dezember 2019 wurde es geschlossen. Ein kleiner Sieg. Einen Monat später gründete er mit einigen bosnischen Freunden die Hilfsorganisation "SOS Bihać".
Doch Mitte März ruft ihn ein Freund an, er sagte: Deutschland schließt die Grenzen. Zu Hause wartet seine Familie auf ihn. Planert beschließt, das Land zu verlassen.
"Die Abfahrt war ein komisches Gefühl"
"Die Abfahrt morgens war ein ganz komisches Gefühl, weil ich gar nicht mehr wusste: Komme ich überhaupt noch raus. Und was passiert überhaupt? Komme ich bis nach Deutschland. Und das letzte Mal, dass ich in Bihać war und nicht genau wusste, komme ich da wieder raus oder nicht, das war im Februar 1994, während der Offensive des serbischen Militärs, wo wir 2000 Granaten am Tag hatten."
Nun ist Planert wieder in seiner Heimatstadt Dortmund. Doch Bihać lässt ihn nicht los
"Ich bin hier natürlich aber auch täglich aktiv. Ich kriege sehr viele Nachrichten. Habe viel Kommunikation mit Journalisten, mit Politik, mit Spendern, und versuche von hier aus, alles am Laufen zu halten."
Einer von Planerts Mitarbeitern in Bihać heißt Zlatan Kovacovic, 43 Jahre alt. Planert und er hatten sich im Bosnien-Krieg kennen gelernt. Ich bekomme seine Nummer und schreibe ihm über Whatsapp. Kovacovic schickt mir Sprachnachrichten. Er sagt, ihm fehle die Unterstützung. Denn auch immer weniger Bosnier hätten noch Energie, um zu helfen.
"Hier, die Situation ist eine Katastrophe. Wir haben viele Volontäre verloren, weil in unserem Krankenhaus ist auch Krise und sie brauchen auch Volontäre. Und wegen diesem Coronavirus, es ist sicher auch schlecht für einige Leute. Wir geben alles, aber wir sind die einzigen, die helfen."
Anfang März starb der erste Mensch in Bosnien-Herzegowina am Coronavirus, ausgerechnet in der Stadt Bihać. Es gibt dort keine Beatmungsgeräte und nur wenige Krankenhäuser, die Furcht vor einem unkontrollierten Ausbruch der Krankheit ist groß. Seit einigen Wochen herrscht eine strenge Ausgangssperre. Auf den Straßen patrouillieren Polizei und Militär.
"Es ist verboten, eine Gruppe zu sehen. Wie werde ich Essen verteilen, wenn ich keine Gruppe sehen darf? Wir kommen um sechs Uhr morgens. Da schlafen alle, Polizei schläft, unsere Einwohner schläft. Dann organisieren wir eine große Gruppe und verteilen Essen."
In der Bevölkerung wächst die Wut
Unterdessen macht der Bürgermeister von Bihać die Geflüchteten für die Verbreitung des Virus mitverantwortlich. In einem Facebook-Video sagt er: "Das Problem ist, dass zweitausend Migranten frei durch die Stadt laufen und die Anordnungen nicht ernst nehmen." Er sagt, wenn ihnen niemand helfe, dann werden sie das Problem auf eigene Faust lösen.
Und auch in der Bevölkerung wächst die Wut. Auf Internetseiten hetzen rechte Gruppen gegen die Geflüchteten, an einigen Supermärkten in Bihać hängen nun Schilder, auf denen steht: Keine Migranten erlaubt. Zlatan sagt, ein großer Teil seiner Arbeit bestehe darin, den Menschen zu zeigen: Die Flüchtlinge sind nicht eure Feinde.
"Es gibt Leute, die hassen Migranten. Weil die müssen irgendwo schlafen, pinkeln, essen, klauen. Klauen Holz, klauen Essen – weil sie nichts haben. Und die Leute beschimpfen uns. Oft bekommen wir Nachrichten, dass sie uns umbringen werden und so, weil wir Migranten helfen."
Ende März melde ich mich in einer geschlossenen Facebook-Gruppe an. Sie heißt "Human Rights for Refugees in Bosnia". Ich schreibe einen Post, in dem ich geflüchtete Menschen darum bitte, mir ihre Geschichte zu erzählen. In den Tagen darauf erhalte ich mehr als zehn Nachrichten. Darin berichten Geflüchtete von Übergriffen durch die Polizei. Einer, der sich Mohamed nennt, schickt mir ein Foto, auf dem Einschusslöcher zu sehen sind. Angeblich hätten bosnische Männer auf eine illegale Unterkunft geschossen.
"Here is what is happening in our lives. I cannot go outside, cannot go..."
Ich erhalte die Sprachnachricht vom Profil eines jungen Mannes. Er sagt, er heiße Basher, 23 Jahre alt, er komme aus Afghanistan und lebe in einem der offiziellen Camps. Die Lage dort sei katastrophal. Es gebe nicht genug zu essen, die Hygienebedingungen seien schlecht. Es fehle an Seife und Desinfektionsmittel. Flüchtlinge dürften das Camp nicht mehr verlassen.
"... I don't blaming or complaining about anyone, just telling the truth."
Ich schreibe der Internationalen Organisation für Migration in Bosnien-Herzegowina eine Mail und frage, ob diese Behauptungen stimmen. Bis heute habe ich keine Antwort erhalten.
Viele Flüchtlinge schreiben mir, dass sie weiter versuchen werden, nach Kroatien zu gelangen. Ein Mann namens Zia Zia schickt mir ein Video. Darauf sieht man drei junge Männer, sie haben offene Wunden und Blutergüsse. In der Ferne sieht man Polizisten mit Hunden stehen. Zia Zia schreibt, die Männer seien von der Polizei verprügelt worden, als sie versuchten, die kroatische Grenze zu überqueren. Ihre Rucksäcke, Schlafsäcke und Handys wären ihnen abgenommen worden.
Weil sich die Lage in der Region immer weiter zuspitzt, hat nun der Bürgermeister von Bihać beschlossen, auf eigene Faust ein neues Lager zu eröffnen. Es liegt etwa 30 Kilometer von Bihać entfernt auf einem Hügel im Dorf Lipa. Bisher gibt es dort kein fließend Wasser, keinen Strom. Auf seiner Homepage erklärt der Bürgermeister, man habe keine Wahl, man werde von der EU mit dem Problem alleine gelassen. Er könne nicht zulassen, dass der Coronavirus sich weiter verbreitet.
"Da ist halt gar nichts. Man will die Menschen aus der Stadt raushaben, wenn die nach Lipa kommen, hat man das auch geschafft. Wir hoffen inständig, dass es kein zweites Vucjak wird. Das wissen wir aber erst, wenn es so weit ist."