Flüstersound in der Musikproduktion
Finneas O'Connell und Billie Eilish betonen, wie viel Arbeit sie in die Produktion des Gesangs stecken. © picture alliance / Photoshot
Hyper-Intimität trendet in der Popwelt
05:56 Minuten
Im Pop steht die Stimme im Vordergrund. Wie sie klingt, hängt mit der Entwicklung der technischen Mittel zusammen und was der Producer daraus macht. Produzent Numinos erzählt, was da alles bearbeitet wird – und was die Pop-Stimme heute ausmacht.
Christian Kalinowski aka Numinos ist Produzent und Dozent am Pop-Institut der Folkwang Universität der Künste in Essen. "In der Historie der Singstimmen steht eigentlich die Soul-Stimme ganz vorne", sagt er.
In den 1960er, 70er und 80er-Jahren hat eine gute Pop- und Soulstimme ausgemacht: "Eine gewisse Durchsetzungsstärke, eine laute Stimme, eine sichere Stimme, Artikulation, Vibrato und so was. Das war ja früher alles ganz wichtig."
Auch deshalb ist es eine klassische Popgeste, wenn eine Sängerin oder ein Sänger so laut singt, dass sie das Mikrofon extra weit weghalten müssen.
Billie Eilishs Hyper-Intimität
Aber was eine gute Popstimme ausmacht, wie sie klingen sollte, wie sie bearbeitet wird, das hat sich ziemlich verändert: Mikrofone, Lautsprecher, Kopfhörer – all das beeinflusst die Art, wie Sängerinnen und Sänger sich in ein Studio stellen und singen und vor allem, was der Produzent im Anschluss daraus macht.
Die bekannteste Flüsterstimme der Gegenwart hätten die Mikrofone aus einer solchen Entfernung gar nicht richtig einfangen können, denn Billie Eilish steht für eine ganz neue Art der Popstimme: leise, gehaucht, und ganz nah dran am Mikrofon.
Trotzdem klingt Eilish in ihren Songs präsent. Diese "Hyper-Intimität" hat Eilish nicht erfunden, aber extrem populär gemacht. "Was dann produktionstechnisch erreicht wird: Dass du eine Platte hörst, und im Grunde genommen das Gefühl hast, der oder die Sängerin oder der Rapper, die flüstern dir gerade ins Ohr, die singen oder rappen nur für dich." Direkt über den Noise-Canceling-Kopfhörer rein in den eigenen Kopf – näher dran geht nicht.
Weil immer mehr Menschen auf diese Art Musik hören, passt der alte Soul-Gesang nicht mehr. "Du willst niemanden in deinem Kopf die ganze Zeit am Schreien haben", sagt Numinos. Schlechte Zeiten also für die Schreihälse des Soul.
Demokratisierung der Musikproduktion
Aber die Stimme ist immer noch extrem wichtig für die Musik, und die Produktion dieser Stimme vielleicht wichtiger denn je.
Als Billie Eilish und ihr Bruder und Produzent Finneas dem amerikanischen "Rolling Stone Magazine" erklärten, wie sie den Song "Bad Guy" produziert haben, war das mit dem dicken Bass schnell erklärt. Aber dann: Die Stimme, und die Harmonien. Sehr viel Arbeit und sehr viel Aufmerksamkeit haben die beiden in ihren Gesang gesteckt, wie sie erklären.
So konnte die Weltkarriere von Billie Eilish tatsächlich im Schlafzimmer anfangen. Hochwertiges Equipment zu erschwinglichen Preisen machte es möglich. "Um die Dimension dieser Demokratisierung sich vor Augen zu führen: Das hat vor der Jahrtausendwende ein Studiotag gekostet", sagt Produzent und Dozent Numinos.
Kompressor, Hall und Co.
Nun ein Selbstversuch, Augen zu und durch. Ich mache den Test. Ich singe also. Was lässt sich aus meiner Stimme, mit der eher wenig gesungen wird, rausholen?
Erster Schritt: Der Kompressor. Der macht die leisen Stellen lauter, und lauten leiser. Die Stimme klingt dadurch näher dran, und: "Kompakter, durchsetzungsstärker, präsenter", so Numinos.
Macht sich gut im Kopfhörer.
Zweiter Schritt: Damit das alles aber noch hochwertiger klingt, fehlt noch der Hall.
Und, dritter Schritt, "ein kurzes Delay", erklärt Numinos, "was so ein bisschen Räumlichkeit schafft."
Pitch Shifting und Autotune
Oder wie manche Anleitungen im Netz es ausdrücken: So entsteht der Luxus- und Hochglanz-Sound. Das lässt sich auch auf Lana Del Reys aktuellem Album hören:
Die Harmonien sind da wie bei Billie Eilish. Numinos kann es auch das technisch umsetzen:
Pitch Shifting heißt das dann: "Das ist nichts anderes als das Verschieben der Aufnahme in der Tonhöhe." Jeweils eine Oktave höher und eine tiefer. "Durch das Pitch Shifting ergibt sich natürlich auch einfach so eine Harmonisierung der ganzen Geschichte."
Und wer, wie ich, nicht singen kann, braucht noch etwas Autotune: Der Effekt korrigiert falsche Töne. Mit einem Beat drunter könnte es fast als Song durchgehen…
Gesang tief aus dem Innersten
Wie viel eine Sängerin mitbringen muss, zeigt dieser Versuch dann aber doch: Es geht zwar nicht mehr um die große Soulstimme, die besonders laut und stark klingen soll. Aber ein gewisses Timbre ist schon wichtig, also eine Stimmfarbe, die angenehm klingt.
Aber der Rest ist Produktion: Hypernah, Hypernatürlich. Da wird dann auch gerne mal ein Atmen bewusst herausgestellt.
"Natürlichkeit ist nicht mehr das Ziel. Es soll ja nicht der gute, richtige Gesang sein, sondern es soll ja tief aus deinem Innersten rauskommen", erklärt Numinos. "Du hast zusammen mit deinem Produzenten zu Hause gesessen und ihr habt gewickelt und gewerkelt, weil ihr introvertiert und neugierig sein."
Flüstersound und Nähe
Das passt auch viel besser zu dem, worüber viele Pop-Künstlerinnen und -Künstler heute singen. "Viele Aussagen in Soul waren letztendlich: 'Ich sitze ja einsam im Hafen'; 'du hast mich verlassen'; 'ich bin so unglücklich'. Und eine Billie Eilish geht da total nah ran an die Probleme und sagt: Ich bin total komisch, Du bist aber auch komisch und wir sind in einer komischen Welt und man ist viel introvertierter."
Der Flüstersound, der uns Nähe vorgaukelt, passt zur Tiktok- und Insta-Welt, wo die besonders erfolgreichen Accounts, nehmen wir mal den von Billie Eilish, ebenfalls eine Nähe und Natürlichkeit vorspielen – die in Wirklichkeit natürlich auch nur eines ist: sehr gut inszeniert.