Glücksritter und Dilettanten
Gut möglich, dass ein paar vom patriotischen Taumel besoffene Freischärler in der Ostukraine die Flugzeuge schlichtweg verwechselt haben. Erkennt Putin jetzt, dass die Geister, die er rief, nicht mehr unter Kontrolle sind?
Allmählich stellt sich Gewissheit ein: Es war kein Unfall, das malaysische Linienflugzeug ist wohl über der Ukraine abgeschossen worden. Dafür sprechen unter anderem die große Fläche, auf der die Wrack- und Leichenteile verstreut sind, sowie die Tatsache, dass keine Notmeldungen aus dem Cockpit kamen.
Damit ist der Konflikt in der Ostukraine in eine neue Phase eingetreten. Knapp 300 Todesopfer aus anderen Staaten. Was, wenn Vergeltung gefordert wird? Die Folgen sind noch gar nicht abzusehen.
Nun muss schnellstmöglich und zweifelsfrei geklärt werden, wer dieses Verbrechen begangen hat. Gegen eine Täterschaft des ukrainischen und des russischen Militärs spricht, dass weder die Ukraine noch Russland ein Interesse an dieser Katastrophe haben können. Die Behauptung, die Tat der anderen Seite anhängen und sie damit diskreditieren zu wollen, gehört in den Bereich der Verschwörungstheorien.
Auf eine Täterschaft der Separatisten hingegen gibt es mehrere Hinweise. Vor allem das zynische Bekenntnis des Separatistenführers Strelkow im Internet, ein ukrainisches Militärflugzeug abgeschossen zu haben. „Das Vögelchen ist vom Himmel gefallen", frohlockte er. Ein Wrack eines Militärflugzeugs wurde aber nicht gefunden.
Gut möglich, dass ein paar Freischärler, besoffen vom patriotischen Taumel und den Erfolgen der letzten Tagen, eigenmächtig den Startknopf gedrückt haben, die Flugzeuge schlichtweg verwechselt haben. Zuzutrauen wäre es ihnen. Man muss das einmal mit aller Deutlichkeit sagen: Die Leute, die sich in der Südostukraine wie auch auf der Krim als Staats- und Regierungschefs ausgeben, sind zu einem Teil Glücksritter mit krimineller Vergangenheit, im besten Fall Dilettanten.
Die Mär von den guten Landstürmern
Wenn sich diese Version bewahrheitet, wäre das für Russland fatal. Die Mär von den guten Landstürmern, die die russische Welt wie im Zweiten Weltkrieg vor Faschisten verteidigen, wäre dann nicht mehr zu halten. Auch Russland müsste die Separatisten dann Terroristen nennen. Wohl deshalb verbreiten russische Staatsbeamte, Politiker und andere sogenannte Experten seit gestern Abend in den Staatmedien systematisch die Version, dass nur, und auch wirklich nur, die ukrainischen Streitkräfte das Linienflugzeug abgeschossen haben können.
Nun gibt es ein gutes Signal. Präsident Putin hat sich für eine objektive Aufklärung ausgesprochen und durch Außenminister Lawrow eine internationale Untersuchung gefordert. Erkennt Putin möglicherweise, dass er zu weit gegangen ist? Dass die Geister, die er rief, nicht mehr unter Kontrolle sind? Als er gestern Abend in die Fernsehkameras sprach, war er erstaunlich still, suchte lange nach Worten.
Putin hat schon oft eine friedliche Lösung gefordert. Jetzt muss er beweisen, dass es ihm wirklich ernst ist. Dafür gibt es einen einfachen Weg: Russland muss den Nachschub an Waffen und Kämpfern in die Ostukraine stoppen. Es ist vielleicht die letzte Chance, zu einem Frieden zu kommen, ehe sich die Krise in der Ostukraine möglicherweise zu einem weltweiten Konflikt ausweitet.