Chapecoense ein Jahr nach dem Unglück
Wenn ein Flugzeug mit einer ganzen Fußballmannschaft abstürzt – dann war es das mit dem Verein, oder? Nicht im brasilianischen Chapecó. Dort versucht man mit Hilfe einer neuen Mannschaft die Trauer zu besiegen.
Der Ablauf ist an jedem Trainingstag gleich: Ein weißer Geländewagen fährt vor und parkt unter einem Baum, weit weg allen anderen. Aus dem Wageninneren dröhnt laute Musik. Eine Mann steigt aus: Baseballkappe tief in die Stirn gezogen, darunter eine Sonnenbrille.
Alan Ruschel, den alle nur rato nennen, die Maus, weil er klein und drahtig ist und seine Ohren ein wenig abstehen. Ruschel stülpt sich drahtlose Kopfhörer über, senkt den Blick und hastet hinüber zu den Umkleidekabinen von Chapecoense, einem Erstligaverein aus dem südbrasilianischen Bundesstaat Santa Catarina. Kein Gruß nach links, keiner nach rechts. Und auch keine Interviews für die Reporter, die sich unter einem Pavillon versammelt haben. Wortlos verschwindet Alan Ruschel durch eine Tür mit dem grün-weißen Logo des Vereins.
Alan Ruschel: 28 Jahre alt, 1,75 Meter groß. Bevorzugte Position: Linksverteidiger. Insgesamt magere 22 Spiele in Brasiliens erster Liga, der Série A. Dass Reporter überhaupt mit Alan Ruschel sprechen wollen, liegt an seinem Schicksalstag: dem 28. November 2016.
Auf dem Weg zum Pokalfinale
Es hätte sein großer Tag werden sollen. Und der größte in der Vereinsgeschichte von Chapecoense: Mit einem Team voller fußballerischer Nobodys hatte der Club drei Jahre nach dem Aufstieg in die Série A das Finale der Copa Sudamericana erreicht, dem Pendant zur Europa League. Gegner ist Nacional Medellín aus Kolumbien, eine der besten Mannschaften des Kontinents. Das ist als spielte Mainz 05 ein europäisches Finale gegen den FC Barcelona. Für den Flug nach Medellín hat Chapecoense eine bolivianische Maschine gechartert. Die Stimmung an Bord von Flug LaMia 2933 ist ausgelassen: Die Spieler nehmen Handy-Videos auf und schicken sie nach Hause. Auch Alan Ruschel.
Wenige Minuten später geht der Maschine der Treibstoff aus. Gegen 22 Uhr Ortszeit zerschellt sie am Berg El Gordo in der kolumbianischen Provinz Antioquia. Von den 77 Personen an Bord überleben nur sechs: zwei bolivianische Flugbegleiter, ein Radioreporter – und drei Spieler. Alan Ruschel ist einer von ihnen.
Stunden im Wrack eingeklemmt
Das Training beginnt. Für Alan Ruschel geht es um einen Platz im Team. In drei Tagen steht das Spiel gegen Flamengo aus Rio de Janeiro an, den größten Verein Brasiliens. Ist es nicht ein Wunder, dass er überhaupt wieder spielen kann? Beim Flugzeugabsturz hat sich Alan Ruschel einen Brustwirbel gebrochen, das Becken und das Schienbein. Er hatte Risse in der Bauchmuskulatur, Schnittwunden am ganzen Körper und eine schwere Blasenentzündung, weil er bis zu Bergung Stunden bei strömendem Regen im Wrack eingeklemmt war.
"Alan ist eines des Gesichter des Clubs, ein leuchtendes Beispiel: ein echter Krieger. Wir sind alle eine Familie, und er hat hart für seine Rückkehr auf den Platz gearbeitet. Er hat immer nach vorn geblickt und an sich geglaubt. Und mit seiner Rückkehr hat er dem Team einen Schub gegeben."
Jefferson da Silva ist Fan von Chapecoense, das Training sieht er sich mit seiner Freundin, seinen Eltern und Geschwistern an. Er trägt das Trikot mit der Nummer 28 - Ruschels Rückennummer.
"Er gibt uns allen Kraft, der ganzen Familie Chapecoense. An ihm können wir uns nach Niederlagen aufrichten. Was er durchgemacht hat, und wie stark er heute wieder ist!"
Graciela Missel sitzt in einem Café in Chapecó: brünette schulterlange Haare, aufrechte Haltung, wache Augen. Vor ihr liegt eine kleine Mappe mit Fotos von ihrem Mann. Marcio Bestene war der Teamarzt von Chapecó. Er hat den Absturz bei Medellín nicht überlebt – und Graciela Missel mit den beiden Töchtern zurückgelassen. Carolina war 12 Jahre alt, als ihr Vater starb, Isabella fünf.
Graciela Missel ist nach dem Tod ihres Mannes in Chapecó geblieben, dieser 200.000-Einwohner-Stadt in den grünen Hügeln Santa Catarinas. Chapecó lebt von der Landwirtschaft, hauptsächlich von Viehzucht.
Mit Schmerz und Sehnsucht leben lernen
Dass sie über den Flugzeugabsturz und ihr Leben danach redet, ist keine Selbstverständlichkeit. Die meisten sind dazu nicht bereit. Das gilt für die Überlebenden: Der Radiojournalist Rafael Henzel hat ein Buch über seinen Weg ins neue Leben geschrieben - und will seitdem nicht mehr über den Absturz reden. Ebenso der tiefgläubige Helio Neto, neben Ruschel und Ersatztorwart Jackson Follmann der einzige Spieler, der überlebt hat. Vor allem die Hinterbliebenen scheuen die Öffentlichkeit. Das muss man verstehen, sagt Graciela.
"Im ersten Moment öffnet sich der Boden. Du fällst in ein schwarzes Loch, du kannst es nicht glauben, das ist vollkommen unwirklich. Und es tut unfassbar weh. Dieser Schmerz geht vorüber, er weicht einer tiefen Sehnsucht. Auch die schmerzt. Damit zu leben, muss man lernen, jeden Tag aufs Neue. An jedem Geburtstag, zu Weihnachten, Silvester oder Geburtstagen spürt man die Sehnsucht besonders stark. Du muss wirklich immer wieder aufs Neue lernen, damit zu leben."
Rui Costa sitzt im Großraumbüro auf dem Trainingsgelände von Chapecoense. Ein Endvierziger mit tiefen Ringen unter den Augen, Haare und Bart mehr grau als schwarz. Sein Amt hat er ein paar Tage nach dem Flugzeugabsturz angetreten. Bilder von damals zeigen einen Mann, der deutlich jünger aussieht.
Tränen mitten im Training
"Ich kam in eine Stadt, die schwer an diesem verheerenden Schicksalsschlag zu leiden hatte. Es war ja nicht nur der Verein betroffen, sondern ganz Chapecó. Chapeceonse ist der einzige Club hier, wir repräsentieren also auch die Stadt. Das Schlimmste war, dass niemand wusste, wie es weitergeht. Wir hatten Mitarbeiter auf allen Ebenen verloren und viele Mitarbeiter wiederum ihre Liebsten. Es war völlig normal, dass ich über den Platz ging und jemand plötzlich anfing zu weinen. In dieser Stimmung mussten wir ein komplett neues Team aufbauen. Jeder Morgen begann mit derselben Frage: Wie viele Spieler haben wir heute? 2, 3, 4… Unser Ziel war, der Welt zur Saisoneröffnung am 6. Januar das neue Team zu präsentieren. Wenige wissen es, aber wir mussten etliche Jugendspieler aufs offizielle Mannschaftsfoto schmuggeln. Ich konnte der Welt ja nicht sagen, dass wir zu jenem Zeitpunkt nur ein halbes Dutzend Spieler hatten."
Rui Costa lächelt. So schwer aller Anfang war, so gut ließ sich die Saison an. Chapecoense gewann die Staatsmeisterschaft von Santa Catarina und hielt in der Gruppenphase der Copa Libertadores, Südamerikas Champions League, lange gut mit.
"Auch im südamerikanischen Supercup haben wir uns gut verkauft. Das Hinspiel gegen Atlético Medellín haben wir gewonnen, das Rückspiel leider verloren. Aber das lag auch daran, dass wir durch das Drumherum abgelenkt waren."
Mit "Drumherum" meint Rui Costa die Rückkehr nach Medellín. Fernsehreporter folgten der Mannschaft auf Schrift und Tritt. Sie berichteten live vom Besuch der Absturzstelle und aus der Umkleidekabine. Wer wollte da an Fußball denken? Ende Mai stand Chapecoense sogar auf Platz 1 der Serie A - zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte. Doch seitdem geht es bergab. Aktuell beträgt der Vorsprung auf die Abstiegsränge gerade mal einen Punkt. Für Rui Costa keine Überraschung.
"Wir kämpfen um den Klassenerhalt. Für uns wäre das wie der Gewinn der Champions League - nach allem, was wir durchgemacht haben. 2018 wird dann hoffentlich ein ruhigeres Jahr für uns."
Alan Ruschel kommt als einer letzten aus der Kabine. Wieder mit Sonnenbrille, die Kappe tief ins Gesicht gezogen. Reden? Mag er nicht. Und sagt dann doch etwas.
"Meine Gefühle auf dem Platz kann ich nicht beschreiben. Ich versuche einfach mein zweites Leben zu genießen, auch als Dank für alle, die für mich und die anderen Überlebenden gebetet haben. Für die Hilfe, die positive Energie und Gebete bin ich unendlich dankbar."
Brief an den verstorbenen Vater
"In Chapecó ist es unmöglich, der Erinnerung zu entgehen. Du fährst am Stadion vorbei und alles kommt dir wieder in den Sinn. Ich halte nicht zu den Gegnern, aber mein Herz schlägt nicht mehr für Chapecoense. Meinen Töchtern fehlt der Vater sehr. Sie sprechen ständig von ihm. Wir kommen aus dem Kino oder vom Schwimmen, und sie sagen: Das haben wir immer mit Papa gemacht. Oder Vatertag: In der Schule haben die Kinder Briefe für ihre Väter geschrieben. Auch Carolina. Sie kam nach Hause gerannt: Mama, wir müssen zum Friedhof, ich möchte Papa den Brief geben."
Graciela bestellt noch einen Cappuccino. Sie wirkt gefasst. Eine starke Frau. Von Beruf ist sie Anwältin. Vor ein paar Wochen hat sie wieder angefangen Vollzeit zu arbeiten. Zurück in die Normalität, sagt Graciela. Die düsteren Gedanken kommen so oder so.
"Chapecoense hatte drei Ärzte, und für das Spiel in Medellín war ein anderer vorgesehen. Aber Marcio sagt: "Das ist ein historisches Spiel, da muss ich hin." Das Rückspiel in Curitiba wollte er sich als Fan ansehen. Also hat er getauscht und ist mitgeflogen. Ich frage mich oft: "Warum musste er tauschen? Warum wollte er unbedingt da hin? Eines aber weiß ich aber sicher: Mein Mann ist glücklich gestorben, weil er gemacht hat, was er am liebsten mochte: Medizin und Sport. Das tröstet mich ein wenig."
Neulich war Graciela mit ihren Töchtern im Kino. Im Vorprogramm lief der Trailer einer Dokumentation: "Das Wunder von Chapecó" – ein Film über den Verein. Nur über den Verein. Mit den Hinterbliebenen hatte niemand gesprochen, sie noch nicht einmal darüber informiert. Unsensibel, findet Graciela das. Eine andere Witwe hat eine Einstweilige Verfügung gegen den Film erwirkt. In Chapecó darf er vorerst nicht mehr gezeigt werden.
Keine Hilfe vom Verein
Unser Verhältnis zum Verein ist kompliziert. Das geht von beiden Seiten aus. Wir hätten uns Hilfe gewünscht und, dass sich der Verein ums uns kümmert. Für den Club wiederum hatte der Aufbau eines neuen Teams Priorität. Aber auch wir mussten uns ein neues Leben aufbauen - ohne unsere Liebsten, die für den Verein gestorben waren. Dabei hätten wir Hilfe gebraucht, und damit meine ich nicht das Finanzielle. Ich hätte erwartet, dass mal jemand anruft und nachfragt: "Wie geht’s dir, Graciela, wie den Mädchen? Braucht Ihr etwas? Sollen wir euch einen Psychologen vermitteln oder kommt ihr ohne klar? Aber das hat es nie gegeben."
Rafael Henzel wuchtet drei Metallkoffer aufs Pult in der Reporterkabine. Der erste enthält ein kleines Mischpult, der zweite ein Laptop für die WLan-Verbindung. Der dritte Kopfhörer, Kabel - und Mikrofone.
Rafael Henzel ist die Stimme vom Chapecoense. Seit sieben Jahren, seit der märchenhafte Aufstieg des Vereins aus der dritten Liga in die Beletage des brasilianischen Fußballs begann, berichtet er live von den Spielen. Fan ist er seit Kindesbeinen. Er war einer von 20 Journalisten, die Chapecoense nach Medellín begleitet ahebn – und hat als einziger überlebt.
"Der Absturz ist jetzt ein Jahr her, und ich rede jeden Tag darüber. Aber so weit wie möglich führe ich ein normales Leben: Ich spiele Videospiele mit meinen Sohn, lebe mit meiner Familie, spiele Fußball, gehe Wandern und ins Fitness-Studio, berichte von Spielen. Ein normales Leben halt."
Ein Blick in die Aufstellung: Alan Ruschel ist nur Ersatz. Neto huscht vorbei, einer der drei überlebende Spieler. Ein kräftiger Händedruck, dann verschwindet der hünenhafte Verteidiger in der Kabine. Dann kommt Jackson Follmann, der dritte Überlebende. Ein hoch gewachsener Schlacks mit kurzen blonden Haaren. Follmann war Ersatztorwart. Nun ist er Sportinvalide. Sein rechtes Bein war nach dem Absturz unter den Trümmern eingeklemmt - die Ärzte in Medellín mussten es unterhalb des Knies amputieren. Follmann ist als Experte bei einem Fernsehsender untergekommen. Und er dient Chapecoense als Botschafter.
Ein Sportinvalide als Botschafter
Jackson Follmann ist der einzige Überlebende, der über den Flugzeugabsturz an sich spricht.
"Es war ein ruhiger Flug. Bis die Motoren und das Licht ausgingen. Plötzlich war es totenstill, niemand wusste, was los war. Kurz vor dem Absturz kam eine Flugbegleiterin: Anschnallen bitte, wir müssen notlanden. Was willst du da machen, du kannst ja nicht weg. Du kannst dein Leben nur in Gottes Hand legen. Als nächstes erinnere ich mich, wie ich im Wald aufgewacht bin. Ich habe Stimmen gehört, die um Hilfe riefen, schwache Stimmen. Keine Ahnung, wie lange ich dort lag, mal war ich wach, mal ohnmächtig. Irgendwann sah ich den Schein von Taschenlampen. Dann hörte ich Rufe: Polizei! Polizei! Ich fing an zu schreien, so laut ich konnte. Aber ich war der einzige. Die anderen Stimmen waren verstummt."
Follmans Blick geht ins Leere. Fixiert einen imaginären Punkt an der Wand des Spielertunnels. Seine Schilderung ist nüchtern. Wahrscheinlich kann man nur so an jenen Ort zurückkehren: indem man die Emotionen ausblendet. Und wahrscheinlich kann man nur so mit dem Unfassbaren leben: indem man nach vorne blickt. Als die Ärzte ihm in Medellín eröffneten, dass sie sein Bein amputiert hatten, soll er geantwortet haben: "Besser mein Bein als mein Leben."
Das Spiel beginnt. Und Rafael Henzel ist in seinem Element. Jeden halbwegs gelungen Spielzug von Chapecoense begleitet er mit hoffnungsvollem Tremolo. Aber es reicht nicht.
Für einen Moment ist Rafael Henzel sprachlos. Dann fängt er sich wieder: ein schlechte Ergebnis, klar. "Dann müssen wir halt die nächsten Spiele gewinnen."
Eine halbe Stunde nach dem Abpfiff in den Katakomben des Stadions. Alan Ruschel hat das ganze Spiel auf der Ersatzbank verbracht. Jetzt kommt er aus der Kabine: Mütze tief ins Gesicht gezogen, den Blick gesenkt. Reden? Er winkt ab.
Jackson Follmann und Rafael Henzel brüten über der Tabelle. Am Klassenerhalt hat er keinen Zweifel.
"Wir bleiben drin. Mit Sicherheit."