"Ein falscher Schritt"
In der Schulpolitik gilt: Allein die Bundesländer und nicht der Bund sind dafür zuständig. Diese Vorschrift trat vor zehn Jahren in Kraft und nennt sich "Kooperationsverbot". Der Grünen-Politiker Özcan Mutlu fordert das Gegenteil davon.
Der bildungspolitische Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag, Özcan Mutlu, spricht sich für eine Abschaffung des Kooperationsverbotes zwischen Bund und Ländern in der Schulpolitik aus. Deutschland stehe in der Bildungspolitik vor riesigen Herausforderungen, sagt er im Deutschlandradio Kultur. Dazu gehörten die Bereiche Inklusion, die digitale Bildung, der Ausbau der Ganztagsschulen und die Integration junger Flüchtlinge:
"Das sind Herausforderungen, die nicht so ohne weiteres zu lösen sind. Und wir wissen durch zahlreiche Studien, dass Bildungsungerechtigkeit die Achillesferse des deutschen Bildungssystems ist."
Der Bund müsse den Ländern bei der Lösung dieser Probleme helfen, fordert Mutlu vor dem Hintergrund der am 1. September 2006 in Kraft getretenen Föderalismusreform, wonach für den Bereich Schule allein die 16 Bundesländer zuständig sind. Das bestehende Kooperationsverbot sei "weltweit einmalig", kritisiert er:
"Und deshalb müssen wir nach zehn Jahren evaluieren und sagen: 'Das war ein falscher Schritt. Und Fehler muss man auch korrigieren dürfen.'"
Angst vor einer Kompetenzbeschneidung der Länder ist "unbegründet"
Eine Aufhebung des Kooperationsverbotes bedeute nicht, dass die Kompetenzen der Länder beschnitten werden würden, betont Mutlu:
"Wenn man als Bund natürlich auch Geld beisteuert, möchte man mitgestalten. Und 'mitgestalten' heißt nach meiner Meinung, nicht die Länder in ihrer Verantwortung für die Bildung zu kastrieren."
Mutlu verweist auf die Erfolge der Lockerung des Kooperationsverbotes in der Hochschulpolitik, ähnliche Umsetzungen seien im Bildungsbereich zu erzielen:
"Man kann gemeinsam an einem Strang ziehen. Es geht um ein Kooperationsgebot, was wir einführen müssen. Und nicht darum, den Ländern ihre Kompetenzen wegzunehmen. Diese Angst ist meiner Meinung nach unbegründet."
Was ist das Kooperationsverbot?
Das Erklärstück von Christiane Habermalz:
Das Erklärstück von Christiane Habermalz:
Eigentlich ging es darum, die Gesetzgebung in Deutschland einfacher zu machen. Mit der Föderalismusreform sollten die Kompetenzen von Bund und Ländern entwirrt und die zustimmungspflichtigen Gesetze reduziert werden. Doch im Gegenzug für den Verzicht auf Mitwirkungsrechte verlangten vor allem die unionsgeführten Länder einen Ausgleich: Unter anderem die klare und alleinige Zuständigkeit in der Bildungspolitik. Per Verfassung wurde festgelegt, dass der Bund Kitas, Schulen und Universitäten nicht dauerhaft fördern - und damit auch nicht mitreden darf. Eine Sackgasse, wie sich bald herausstellte.
Denn während der Etat der Bundesbildungsministerin stetig stieg, mussten die Länder sparen. Gleichzeitig stiegen die Bildungsausgaben von Jahr zu Jahr. "Die Länder haben die Kompetenz, aber der Bund hat das Geld" – so formulierte es der Verwaltungswissenschaftler Wolfgang Wieland. Und während der Bund die außeruniversitäre Forschung an Max-Planck und Leibniz-Instituten auskömmlich förderte, war die Zusammenarbeit von Bund und Ländern zur Unterstützung der Hochschulen nur noch über juristische Verrenkungen wie zeitlich befristetete Programme und Pakte möglich.
Nach langen Verhandlungen zwischen Bund und Ländern, Union und SPD wurde 2014 das Kooperationsverbot im Wissenschaftsbereich schließlich gelockert. Für Bildungsministerin Johanna Wanka eine der wichtigsten hochschulpolitischen Beschlüsse der letzten Jahre. Für SPD und Grüne jedoch erst ein Anfang: Langfristig müsse der Bund den klammen Ländern auch bei der Finanzierung der Schulen beispringen können. Doch dagegen hatten sich nicht nur die CDU/CSU im Bundestag und Bundesländer wie Sachsen, Bayern und Hessen gestemmt, sondern auch der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Der hatte schon Jahre vorher klargestellt: "Mir liegt es so fern wie der Mond zu akzeptieren, dass uns der Bund in die Schulpolitik reinregieren kann!"
Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Zehn Jahre ist die Entscheidung alt, und ebenso alt ist der Streit um sie. Vor zehn Jahren sollte die Föderalismusreform die Beziehungen zwischen Bund und Ländern verbessern, vor allem in der Schulpolitik, und doch ist ihr Kern nach wie vor umstritten. Während die Universitäten ja eine Lockerung des Kooperationsverbots gesehen haben, also eine Beteiligung des Bundes damit möglich ist, sind für die Schulen allein die 16 Bundesländer zuständig. Christiane Habermalz erklärt noch mal die Einzelheiten.
(Christiane Habermalz über das Kooperationsverbot)
So weit also die Position des grünen Ministerpräsidenten. Özcan Mutlu ist bildungspolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag. Schönen guten Morgen!
Özcan Mutlu: Guten Morgen!
Brink: Sie wollen, dass das Kooperationsverbot abgeschafft wird, dafür haben Sie sich stark gemacht schon in diesem Jahr. Aber die Grünen, siehe Kretschmann, sind sich da anscheinend nicht einig.
Mutlu: Wir haben, seit es dieses Kooperationsverbot gibt, in der Partei Bündnis 90/Die Grünen eine überwältigende Mehrheit für die Abschaffung dieses Kooperationsverbots. Aber da wir eine Partei der Vielfalt sind, gibt es natürlich auch Stimmen, die dagegen sind. Und ein starker Landesfürst wie Herr Kretschmann hat natürlich da auch seine eigenen Vorstellungen. Aber die müssen nicht immer auch richtig sein, aber vor allem nicht in dieser Frage der Bildungspolitik.
Aufstieg durch Bildung ist ungleich verteilt
Brink: Wie begründen Sie, dass die das Kooperationsverbot abgeschafft haben wollen?
Mutlu: Deutschland steht vor riesigen Herausforderungen in der Bildungspolitik. Vorhin haben wir es in der Anmoderation gehört. Es gibt das Thema Inklusion, die digitale Bildung, der Ausbau der Ganztagsschulen, und vor allem seit letztem Jahr auch die Herausforderung, Hunderttausende junge Geflüchtete zu integrieren in unser Bildungssystem. Das sind Aufgaben, mit denen die Länder nicht alle gleichermaßen quasi vor lösbaren Aufgaben stehen. Es sind Herausforderungen, die eben nicht so ohne Weiteres zu lösen sind.
Und wir wissen durch zahlreiche Studien, dass Bildungsungerechtigkeit die Achillesferse des deutschen Bildungssystems ist. Aufstieg durch Bildung ist nicht mehr eben möglich in Bayern wie in Bremen oder in Nordrhein-Westfalen, wie in Berlin – alles ungleich verteilt. Und deshalb sind wir der Meinung, muss der Bund mit helfen, mit den Ländern gemeinsam kooperieren.
Es geht uns gar nicht darum, und vor allem mir nicht, den Ländern was wegzunehmen. Wir haben es ja gesehen, im Hochschulbereich ist es möglich – es geht darum, endlich mal die Möglichkeit zu haben, wieder zu kooperieren. Denn dieses Kooperationsverbot ist ja, wie der Name schon sagt, ein Verbot, und der Bund darf sich in keiner Weise einmischen. Das ist weltweit einmalig, und deshalb müssen wir nach zehn Jahren evaluieren und sagen, das war ein falscher Schritt, und Fehler muss man auch korrigieren dürfen.
"Die Länder dürfen ihre Kompetenz behalten"
Brink: Aber da würde ich ganz gern noch mal einhaken. Weil es scheint ja, dass Sie dann doch irgendwie auf einer Linie liegen. Nämlich der grüne Ministerpräsident Kretschmann hat ja gesagt, das ist okay, dass wir Geld vom Bund bekommen, allerdings entscheiden wir dann als Land, wie wir das verwenden und welches Schulsystem wir haben. Ist das dann nicht so eine Art von auch Rosinenpickerei, nach dem Motto, der Bund soll zahlen, aber die Länder sollen ihre Kompetenzen behalten? Das können Sie doch auch nicht wollen?
Mutlu: Die Länder dürfen ja ihre Kompetenzen behalten. Es geht nicht darum, denen die Kompetenzen zu entziehen. Aber wenn man denn als Bund natürlich auch Geld beisteuert, möchte man mitgestalten. Und Mitgestalten heißt nach meiner Meinung nicht, die Länder irgendwie in ihrer Verantwortung für die Bildung zu kastrieren. Darum geht es nicht, und ich verstehe auch nicht, warum die Vertreter der Bundesländer – und Winfried Kretschmann ist ja nicht der einzige –, immer glauben, wenn der Bund Geld gibt, dann darf er sich nicht einmischen, beziehungsweise wenn der Bund Geld gibt, nimmt er uns die Kompetenzen weg.
Das ist eine falsche Vorstellung, und dass es anders gehen, haben wir im Wissenschaftsbereich gesehen. Da wurde das Herausforderung gelockert. Es gibt natürlich immer noch Probleme damit, in der Umsetzung, aber der erste Schritt ist getan, und Ähnliches kann man mit den Bundesländern im Bildungsbereich machen. Man kann gemeinsam an einem Strang ziehen. Es geht um ein Kooperationsgebot, das wir einführen müssen, und nicht darum, den Ländern die Kompetenzen wegzunehmen. Diese Angst ist meiner Meinung nach unbegründet.
"Riesensanierungsstau" im Schulbereich
Brink: Aber dann würde ich ganz gern genau wissen wollen, wo soll sich denn der Bund beteiligen? Geht es also nur um Geldtransfer, oder wo wollen Sie dann auch mitreden?
Mutlu: Es geht doch zum Beispiel in der Bildung bereits in Bereiche, wo kooperiert wird, bei der Erstellung des Nationalen Bildungsberichts, und so weiter. Also möglich ist es. Man kann beispielsweise, Stichwort Lehrermangel – und das ist ein Problem nicht nur von armen Bundesländern, das ist ein Problem in den meisten Bundesländern –, gemeinsam sagen, wir legen hier Prioritäten fest, wir nehmen Geld in die Hand als Bundesländer, als Bund, und machen mal Vorkehrungen in gemeinsamer Zusammenarbeit mit den Hochschulen, wie wir diesen Mangel beheben können.
Man kann zum Beispiel die Kommunen dabei unterstützen, diesen Riesensanierungsstau in den öffentlichen Einrichtungen, namentlich Schulen und Kitas, gemeinsam meistern. Denn wenn Sie heute durch irgendwelche Städte fahren, die öffentlichen Gebäude, die am schäbigsten aussehen, sind in der Regel die Schulen. Und das können die Länder nicht allein meistern. Also sagen wir, okay wir machen ein Schulsanierungsprogramm für die Bundesrepublik, so wie damals die rot-grüne Bundesregierung dieses sehr erfolgreiche Programm der Ganztagsschulen ausgeführt hat. Und dass das nicht reicht, wissen wir heute längst, und deshalb sagen wir, also lasst uns gemeinsam das anpacken. Gemeinsam heißt aber auch, lasst uns mitsprechen, lasst uns euch aber auch unter die Arme greifen.
Forderung nach nationalen Bildungsstandards
Brink: Gut, aber das sind ja alles, was Sie angesprochen haben, das ist die Situation der Lehrer, das ist die Situation der Gebäude. Aber es geht natürlich auch um die Frage des Schulsystems, und da hat Bildungsministerin Johanna Wanka von der CDU ja gesagt, sie will keine Vereinheitlichung der Bildungspolitik, weil die Situation von Stadtstaaten und Flächenstaaten gar nicht vergleichbar ist.
Mutlu: Also ich kenne keine Bundespolitikerin und keinen Bundespolitiker, auch nicht aus den Reihen der amtierenden Bundesregierung, die da sagen, wir heben Kooperationsverbote auf und dann schaffen wir ein einheitliches Schulsystem. Darum geht es nicht. Dennoch ist es aber wichtig, dass man zum Beispiel Disparitäten abschafft, soziale Disparitäten wie strukturelle.
Es kann doch nicht sein, dass ein Abitur in Bayern anders bewertet wird als ein Abitur zum Beispiel in Bremen, oder dass ein Berliner Schüler, wenn er in Hessen studieren will, Probleme bekommt. Da müssen wir sicherlich mit den Bundesländern zusammen Wege finden, wie wir da strukturell einander näher kommen. Das bedeutet aber nicht, wir schaffen ein einheitliches Schulsystem. Ich kenne niemanden, der diese Forderung aufgestellt hat.
Brink: Aber schon ein einheitliches Abitur, wenn Sie sagen, dass es überall anerkannt werden soll.
Mutlu: Es gibt inzwischen schon nationale Bildungsstandards. Es gibt in etlichen Bundesländern gemeinsame Abiturprüfungen. Also, das ist nichts Neues, wovor man Angst haben muss. Es muss vergleichbar sein, und dagegen ist nichts einzuwenden, und es wird auch praktiziert.
Brink: Özcan Mutlu, der Bildungspolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag. Herr Mutlu, vielen Dank für das Gespräch!
Mutlu: Ich danke Ihnen, schönen Tag noch.
Brink: Vielen Dank, wünschen wir Ihnen auch hier in "Studio 9". Und es ging über das Kooperationsverbot. Die Föderalismusreform. Vor zehn Jahren ist sie in Kraft getreten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.