Begabte Kinder konsequenter fördern
Noch immer bestimmt die soziale Herkunft den Schulerfolg. Das Projekt Weichenstellung der Zeit-Stiftung fördert deshalb bereits an Hamburger Grundschulen besonders begabte Kinder. Eltern, Lehrer und studentische Mentoren arbeiten dabei eng zusammen.
"So, wir stehen hier vor dem Bucerius Kunst Forum, was stellt Ihr euch vor, was uns erwartet?"
Es ist ein regennasser Sonntag Ende November. Yagmur Celik steht mit ihren drei Mentees vorm Bucerius Kunstforum in Hamburg. Derzeit werden hier französische Maler ausgestellt.
Die zehnjährigen Kinder sind gespannt, was sie erwartet:
"Nein, ich war da noch nie."
"Ich war noch nicht mit meinen Eltern da. Jetzt bin ich das erste Mal hier."
"Ich war noch nicht mit meinen Eltern da. Jetzt bin ich das erste Mal hier."
Etwas verloren stehen die Mädchen vor dem prächtigen viergeschossigen Gebäude direkt neben dem Hamburger Rathaus.
"Ich heiße Alessia. Ich heiße Basant. Ich heiße Goldie. Und ich heiß Yagmur. So. Dann gehen wir mal rein."
Weichenstellung fördert Kinder ab dem 4. Grundschuljahr
Die 23-jährige Lehramtsstudentin Yagmur drückt den Kindern erst mal den Flyer zur Ausstellung in die Hand und lässt Alessia, Basant und Goldie vorlesen, worum es hier eigentlich geht.
Es klingt manchmal etwas holprig. Aber so können sie Bildungssprache üben, sagt Yagmur. Dann geht es endlich in die Ausstellung.
"Ich schicke sie alleine, damit sie lernen, alleine zu gucken und sich ein Urteil zu bilden."
Yagmur Celik ist eine von 38 Lehramtsstudierenden, die als Mentorinnen und Mentoren 104 Kinder im Programm Weichenstellung betreuen. Die Hamburger Zeit-Stiftung hat bislang etwa eine halbe Million Euro in das Programm investiert. Dazu kommt noch Geld von kleineren Förderpartnern. Beteiligen kann sich jeder. Die Weichenstellung fördert Kinder ab dem 4. Grundschuljahr. Tatjana Matthiesen:
"Kinder, die es von zuhause nicht so einfach haben und auch nicht die notwendige Unterstützung erfahren, die so angemessen zu fördern, dass sie den Sprung aufs Gymnasium bzw. auf die Stadtteilschule, die ja auch einen gymnasialen Zweig hat, so erfolgreich gestalten, dass sie hoffentlich ihr Abitur machen."
Tatjana Matthiesen ist die Gesamtkoordinatorin des Projekts Weichenstellung, das jetzt ins dritte Jahr geht. Die Idee dazu entstand aber schon viel früher. 2008 veranstaltete die Zeit-Stiftung zum ersten Mal Orientierungsseminare für Oberstufenschüler mit Migrationshintergrund. Das Motto: mehr Migranten werden Lehrer.
"Wir hatten in diesen Orientierungsseminaren auch Referenten zu Gast, das waren Lehrkräfte mit Migrationshintergrund. Und wenn die unseren Teilnehmern, also den Oberstufenschülern mit Migrationsgeschichte, ihren eigenen Bildungsweg beschrieben haben, dann waren da oft Brüche. Das war kein glatter Weg. Die scheiterten schon an der Schwelle vierte Klasse und dann Gymnasium. Die haben oftmals eine Empfehlung unter ihren Möglichkeiten bekommen, weil man ihnen das nicht zugetraut hat, dass sie ihr Abitur machen können. Und diese Geschichte haben sie erzählt."
Klassenlehrer dürfen drei Kinder vorschlagen
Für die Zeit-Stiftung stellte sich die Frage, wie man den Bildungsweg begabter und fleißiger Kinder, die von zuhause wenig Förderung bekommen, effektiver gestalten kann. Wie man es schafft ihre Chancen zu erhöhen und Viertklässer für eine höhere Schulbildung fit zu machen.
Die Schule beim Pachthof liegt in Hamburg Horn. 300 Schülerinnen und Schüler lernen hier in Vor- und Grundschule. Die Schule gilt als sozialer Brennpunkt. Ein ausgesprochen schwammiger Begriff, findet auch Schulleiter Dr. Adrian Klenner. Tatsache ist, dass man hier viele Kinder findet, deren Eltern zugewandert sind. Und dass relativ wenige Kinder davon den Sprung aufs Gymnasium schaffen. Ein Grund, warum Adrian Klenner von Anfang an vom Projekt Weichenstellung begeistert war.
"Da steckt dahinter, dass die Schulen in der Regel viel Fördermaßnahmen und Stunden bekommen für die Förderung von leistungsschwächeren Kindern. Auch Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, Sprachförderbedarf. Da kriegen die Schulen viele Stunden. Im Bereich der Förderung von Kindern mit höheren Begabungen, von leistungsstarken Kindern sieht es immer ein bisschen wenig aus. Und dieses Projekt Weichenstallung ist ein wunderbares Projekt, das sich genau dieser Kinder annimmt."
Am Ende des 3. Schuljahres dürfen die Klassenlehrer genau drei Kinder für das Projekt Weichenstellung vorschlagen, die dann ab Klasse vier eine Mentorin oder einen Mentor zur Seite gestellt bekommen. Eine sehr schwere Entscheidung, sagt Lehrerin Svenja Otto, die zusammen mit ihrem Teamkollege Christian Diaz in diesem Jahr die Kinder ausgewählt hat.
"Wir haben mit uns gerungen. Wir haben danach gekuckt letzten Endes, welche Kinder haben die größte Chance damit, sich weiterzuentwickeln. Also bei welchen Kindern fruchtet das besonders. Sind die Kinder wirklich auch lernwillig? Sind die gut im Kontakt mit anderen? Und dann haben wir drei ausgewählt. Aber ich hätte auch noch zwei dazu nehmen können, denke ich."
Menschen sind subjektiv. Svenja Otto ist sich dieser Problematik bewusst. Auch sie mag manche Kinder mehr als andere.
"Ich hatte genau diese Situation. Ich habe ein kleines Mädchen aus Serbien, ein Roma-Mädchen in der Klasse, die unheimlich wissbegierig ist. Und die lernt, das kann ich gar nicht beschreiben. Und die hätte ich sehr gerne bei Weichenstellung untergebracht. Aber wir haben im Team uns dann gegen dieses Mädchen entschieden, weil wir die Prognose, dass sie wirklich Abitur schafft, was natürlich hart ist in der 3. Klasse, das sozusagen zu stellen, geringer ist als bei den Kindern, die wir dann ausgewählt haben."
"Ich bin auch eine interkulturelle Lehrerin"
Man braucht viel pädagogische Professionalität, ergänzt ihr Kollege Christian Diaz. Aber bei manchen Kindern ist es von vornherein klar, dass sie in die Weichenstellung gehören, sagt er. Und verweist auf eine der Schülerinnen.
"Schon in der 2. Klasse hat die Bücher von Klasse 3 und 4 gelesen. Und das war ein Hintergrund, wo man das einfach nicht erwartet hätte. Also ich glaube, ihre Mutter ist über ein ganz schwaches Leseniveau gar nicht hinaus gekommen. Aber dieses Mädchen hatte einfach eine riesige Freude und Lust am Lesen. Und deshalb hat ihr der Bereich Deutsch auch keine Schwierigkeiten bereitet. Und da hab ich schon die ganze Zeit geahnt, die hat richtig Potential."
Im Klassenraum nebenan sitzen drei Mentees aus der vierten Klasse. Sie lernen mit ihrer Mentorin, der türkischen Lehramtsstudentin Elif Höppner. Sie hat in der Türkei bereits ein Studium abgeschlossen und absolviert jetzt in Hamburg ein Zweitstudium.
"Ich bin auch eine interkulturelle Lehrerin. Daher kann ich auch die Kinder, die einen interkulturellen Hintergrund haben, sehr gut verstehen. Daher weiß ich auch, welche Schwierigkeiten die Kinder beim Erlernen der deutschen Sprache haben können."
Einer ihrer Mentees ist Daniele, ein zehnjähriger Junge. Seine Eltern sind Italiener.
"Ich möchte Abitur schaffen. Das habe ich meinen Eltern gesagt."
Auch für die zehnjährige Indira kann die Unterstützung von Frau Höppner gut gebrauchen. Sie ist in Portugal geboren und seit sieben Jahren in Deutschland. Ihre Eltern sind portugiesisch und indisch. Bei den Hausaufgaben können sie Indira nicht helfen.
"Meine Eltern die müssen arbeiten. Also meine Mama. Manchmal kommt sie von der Arbeit und dann muss sie wieder los zur Arbeit. Und mein Papa der hat auch keine Zeit, weil er auch arbeiten muss. Und dann bleib ich mit meiner Tante. Und die hat auch keine Zeit."
Thomas Trautmann, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Hamburg, ist einer der pädagogischen Leiter der Weichenstellung. Er betreut die Mentorinnen und Mentoren, die vor vier Monaten mit Klasse 4 neu ins Programm eingestiegen sind. Alle vier Wochen lädt er zu einer Beratungs-Runde ein.
"Ich biete Supervision an, weil es einfach notwendig ist, dass die Mentorinnen in der Arbeit mit ihren Mentees unterstützt werden durch Draufschauen. Mehr ist eine Supervision nicht. Aber weniger ist sie eben auch nicht. Und das halt ich für eine der großen Glücksfälle von Supervision, dass wir unser Instrumentarium einfach erweitern, somit unsere pädagogische Professionalität unterstützen und das müsste Schule in Gänze anbieten können."
Monatliche Supervisionsrunde bei Thomas Trautmann
Thomas Trautmann ist ausgebildeter Supervisor. Früher war er selber Lehrer Er weiß, dass Lehrende - auch Mentorinnen und Mentoren – Rückmeldung brauchen.
"Es geht den Mentorinnen mitunter an die Substanz über einen Jungen, über ein Mädchen berichten zu müssen, was sich den pädagogischen Anregungen widersetzt hat aus Gründen, die die Schule nicht zu verantworten hat. Dass also keine haltenden Systeme wie Elternhaus, wie Freunde, wie Gleichaltrigengruppe da ist, um das Kind aufzufangen, wenn dieses Kind aus dem Ruder läuft, weil es, jetzt bin ich an Klischees, weil es in einem völlig bildungsfernen Haushalt aufwächst. Weil es mit Geschwistern, alle älter, aufwächst, gegen die es sich nicht durchsetzen kann. Und das dann kompensiert, indem es im Lebensraum Schule nachzieht und nachzieht heißt auf Deutsch, sich nicht regelkonform verhalten kann, weil es einfach sich durchsetzen muss."
In der Supervision bei Thomas Trautmann können die Lehramtsstudierenden offen über ihre Erfahrungen mit den Mentees reden. So etwas gibt es im normalen Studium nicht, sagt Mentorin Lara Maschke. Die monatliche Supervisionsrunde bei Thomas Trautmann hilft ihr, knifflige Probleme besser in den Griff zu kriegen und Handlungsalternativen zu entwickeln.
"Und das ist eben die Möglichkeit, sich auszutauschen und die Ideen der Anderen auch zu hören, weil es ist ja manchmal, wenn man außerhalb der Situation ist, deutlich einfacher, einzuschätzen, welche Handlungsalternativen es gäbe, als wenn man in der Situation drinsteckt."
Eine Erfahrung aller Mentorinnen, die heute gekommen sind, ist, dass die Kinder viel Zeit und Zuneigung einfordern. Dass sie fast eifersüchtig darüber wachen, in Sachen Aufmerksamkeit nicht zu kurz zu kommen, sagt Ann-Katrin Zibolla.
"Also ich denk, die Kinder profitieren ganz stark davon, dass halt einfach jemand da ist. Und ich merke auch, dass gerade das Kind, was die größten Schwierigkeiten hat am schnellsten ne Beziehung zu mir aufgebaut hat. Also wir hatten auch ne Situation, als wir uns begrüßt haben, dass er so in meine Richtung zuckte und ich in seine. Und wir nicht wussten, umarmen wir uns jetzt oder nicht. Das war total süß."
Dann gibt es auch die ganz banalen Probleme des Alltags. Auch daran kann man sich abarbeiten, weiß Mentorin Hanna Hüber:
"Die Struktur im Ranzen und Hausaufgaben aufschreiben und Elternbriefe zuhause abgeben usw. Und das ist ganz schwer, denen das beizubringen."
Trotz Chaos in Ranzen und Hausaufgabenheft, die Kinder sind stolz, in dem Projekt zu sein, erzählt Mentorin Nele Sievers. Und das gibt ihnen einen Kick.
"Also die Lehrer sind jetzt vielfach auf mich zugekommen und haben gesagt, also die Kinder sind jetzt viel motivierter im Unterricht. Die beteiligen sich vielmehr. Nur durch das reine Wissen, die sind jetzt in dem Projekt und die werden gesehen. Und die haben ne Förderung und wollen dafür auch selber was tun."
"Jetzt hat sie mehr Selbstvertrauen und nicht mehr so schüchtern"
Unter dem Motto "chancengerecht bilden" veranstaltete die Zeit Stiftung im November einen Bildungstag auf dem Hamburger Kampnagel Gelände. Sogar der Bundespräsident Joachim Gauck war gekommen. Auch um einige der Weichenstellerkinder zu begrüßen. Zum Beispiel. die elfjährige Basant, die von Anfang an dabei ist und seit ein paar Monaten aufs Gymnasium geht. Vor einem Jahr war es noch unvorstellbar, dass sie auf einer Bühne gestanden und mit einem so hohen Politiker gesprochen hätte, sagt ihr Vater Aschraf Hassan.
"Meine Tochter war sehr schüchtern. Jetzt hat sie mehr Selbstvertrauen und nicht mehr so schüchtern. Das hat sie auch heute gezeigt. Früher ich glaube, sie schafft das nicht. Aber heute hat sie das geschafft. Und alles toll."
Aschraf Hassan ist studierter Ingenieur. Er floh mit seiner Frau Ranja vor mehr als zehn Jahren aus Ägypten. In Deutschland wurde seine Ausbildung nicht anerkannt. Deshalb arbeitet er in der Gastronomie. Ausbildung ist für ihn sehr wichtig. Und dass seine Tochter bei dem Projekt Weichenstellung mitmachen darf, erfüllt ihn mit Stolz.
"Mit Gänsehaut, dass meine Tochter so in einem schönen Projekt weitermacht. Ich finde auch, das Projekt ist sehr schön, hat uns sehr geholfen, weil wir mit deutsche Kenntnisse nicht so gut ist. Die Sache, die schaffen wir nicht zuhause, dass wir meine Tochter helfen können."
Die zehnjährige Basant möchte das Abitur machen. Sie weiß, dass ihre Eltern große Hoffnungen in sie setzen.
"Ich wünsche auch, dass sie auch immer stolz auf mich sind und dass sie nicht traurig auf mich sind."
Hoffnungen in ihren Sohn setzt auch Nurschen Cifci. Er soll es besser haben als sie. Als Kind lebte sie mit ihren Eltern ein Pendlerleben zwischen der Türkei und Deutschland. Das hängt ihr bis heute nach.
"Ich kann die türkische Sprache nicht perfekt, die deutsche Sprache nicht perfekt. Man kann verstehen, was ich sage. Aber ich hab trotzdem Schwierigkeiten bei der Aussprache. Und kann auch nicht so hochdeutsch sprechen. Und mein Leben halt. Ich hab Kinderkrankenschwester gelernt. Aber ich hätte auch lieber studiert oder was Anderes gemacht. Aber dadurch, dass ich nicht Englisch konnte und früher anfangen musste mit Arbeiten, musste ich auch vieles verzichten halt."
Ihr Sohn Emre ist im Sommer aufs Gymnasium gekommen. Darauf ist sie sehr stolz. Aber nun muss er zusehen, dass er dort mitkommt, sagt Nurschen Cifci. Sie weiß, für die Weichenstellung ausgewählt zu sein, bedeutet auch, Druck auszuhalten.
"Ich bin eine Ausgewählte und ich muss jetzt das Gute daraus machen und ich hab ja was drauf. Sonst hätten sie mich ja nicht ausgewählt. Aber manchmal ist es ihm auch zuviel. Vor ein paar Wochen er hat die Verantwortung viel zu groß gesehen, dass er das nicht mehr schaffen wird. Aber als wir dann mit ihm geredet haben, seine Lehrerin, jetzt ist alles wieder im grünen Bereich. Jetzt ist alles wieder normal."
"Traumberuf: Fußballer und Arzt"
Mit von der Partie am Bildungstag sind auch Serpil Aksoy und ihr Sohn Abduhla. Auch er ist seit kurzem Gymnasiast.
"Das war nicht so schwer, also bisschen anstrengen musste ich mich schon. Aber das war nicht so schwer."
Abdulah hat schon fest umrissene Zukunftspläne. Zuerst das Abitur machen. Und dann
"Ich hab mir gedacht, also für später, dass ich Fußballer und Arzt werden will. Also das ist mein Traumberuf."
15 Euro pro Stunde bekommen die Lehramtsstudierenden für ihre Mentorentätigkeit. Im Monat kümmern sie sich 16 Stunden um ihre Mentees. Entweder in der Schule beim Lernen oder bei Freizeitunternehmungen. Mentorin Yagmur Celik und ihre drei Mentees haben sich im November das Bucerius Kunst Forum ausgesucht.
"Wir haben ganz viel gemacht. Wir waren im Schokoladenmuseum, im Speicherstadtmuseum, dann waren wir im Dialog im Dunkeln. Im Hafen, haben wir eine Hafenrundfahrt gemacht und haben was über den Hafen gelernt, wie der arbeitet. Dann waren wir auf dem Hamburger Dom, damit die Kinder ein bisschen Spaß haben. Wir waren schon im Rathaus, haben uns das Rathaus angeschaut. Wir wissen auch, dass Olaf Scholz dort arbeitet."
Zeit und Engagement gehören zum Job der Mentorinnen. Und nicht alles zahlt sich in Euro und Cent aus. Das weiß Yagmur.
"Mir macht es Spaß. Für mich ist es selber auch ne tolle Erfahrung mit den Kindern in ein Museum zu gehen, irgendeine kulturelle Ausstellung, weil ich lerne durch die Kinder auch noch mal nen anderen Blickwinkel kennen. Und deswegen ist es für mich ne schöne Erfahrung."
Nicht nur die Kinder werden durch das Projekt gefördert, sagt Reiner Lehberger, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg und pädagogischer Leiter der Weichenstellung. Auch die Lehramtsstudierenden machen hier wichtige Erfahrungen.
"Dass wir Lehramtsstudierenden mit diesem Projekt Möglichkeiten geben sich mit diesem Projekt im pädagogischen Alltag an den Schulen zu bewähren und auch Beziehungen zu Kindern aufzubauen in einem sehr kleinen, geschützten Rahmen. Beziehungen, die sie in dieser Intensität und in diesem Durchblick im Hinblick auf deren Umfeld mit Sicherheit hinterher gar nicht mehr aufbauen können, wenn sie 25 oder 28 Schülerinnen und Schüler in einer Klasse haben."
Außerdem, ergänzt sein Kollege Thomas Trautmann, wird die Kommunikation zwischen Mentoren und Mentees auch zum Forschungsthema gemacht. Die Studierenden können ihre Masterarbeit über die Weichenstellung schreiben.
"Die Begeisterung unter den Studierenden ist sehr groß"
"Wir können beispielsweise lernen, warum ein Kind sich nicht meldet. Und ein halbes Jahr sitzt die Mentorin, wie das so Lehrpersonen machen, warum meldest du dich denn nicht. Schweigen. Meld dich doch mal. Schweigen. Also ich würd mich jetzt melden. Schweigen. Und irgendwann sagt dieses Kind, ich bin nicht wichtig. Und wenn die Mentorin oder der Mentor gut ist, dann fragt sie, wie muss ich denn das verstehen, gibt's da ne Geschichte dazu. Dass irgendjemand, Großeltern gesagt haben, du bist nicht wichtig. Du musst hier nicht die erste Geige spielen. Tritt zurück. Und das übertragen wir auf Schule. Und das dann wieder langsam abzubauen, ist ne ganz andere Sache von pädagogischer Begleitung."
Aus aktuellem Anlass wurde jetzt gerade ein Weichensteller-Programm für Flüchtlingskinder aufgelegt. 120.000 Euro hat die Zeit-Stiftung bereitgestellt. Für viele Lehramtsstudierende ist das eine Herausforderung, sagt Professor Michael Göring.
"Wir haben dieses neue Programm ausgeschrieben und es haben sich innerhalb weniger Tage 72 Studierende gemeldet auf die ersten 20 Plätze, die wir brauchen. Das ist ein schönes Zeichen, ich hatte schon Angst, dass uns irgendwann die Studierenden ausgehen. Noch ist die Begeisterung unter den Studierenden auch sehr groß."
Michael Göring ist der Vorstandsvorsitzende der Zeit-Stiftung. Sein Motto: schnell handeln, um die Potentiale der Flüchtlingskinder in richtige Bahnen zu lenken.
"Ich glaube, dass Bildung immer noch das Wichtigste ist in der gesamten westlichen Welt, um einen Beruf zu finden, der den einzelnen Fähigkeiten entspricht, dadurch einen Stellenwert in der Gesellschaft für sich zu finden. Einen Job zu finden, der auch eine entsprechende Entlohnung am Monatsende sicher stellt. Und das sind für mich alles Faktoren, die sehr schnell Integration eines solchen Menschen in unsere westliche Werteordnung erzielen."
An der Europaschule Gymnasium Hamm koordiniert Sabine Bühler-Otten die sogenannten internationalen Vorbereitungsklassen und auch das neue Weichenstellungsprojekt. In den fünf Vorbereitungsklassen werden die Kinder auf den Übergang in die Regelklassen vorbereitet. Die jeweils 15 Schülerinnen und Schüler im Alter von 10 bis 16 Jahren kommen aus aller Welt. Unter ihnen sind sowohl Eleven des John Neumeyer Balletts wie Kinder von hochbezahlten Managern als auch Flüchtlinge.
"Problematisch war immer traumatisierte Flüchtlinge, weil wir natürlich als Lehrkräfte nicht entsprechend ausgebildet sind. Kann auch kein Lehrer mit traumatisierten Schülern zu arbeiten. Aber die Schüler, die wir haben, das sind vielleicht pro Klasse einer. Und das ist eine Größe auf die kann man sich einstellen und mit diesem Schüler kann man dann auch insbesondere dann arbeiten."
Mit nicht deutschsprachigen Kindern hat man an der Europaschule Hamm seit 20 Jahren Erfahrung. Es gibt 14 Lehrerinnen und Lehrer mit spezieller Ausbildung. Eine von ihnen ist Karoline Saathof. Am Anfang sprechen wir genauso Deutsch wie Englisch und mit Händen und Füßen, sagt sie.
"Die Kinder sind unglaublich motiviert"
"Die Kinder sind unglaublich motiviert und durch die Mischung der Sprachen, die vorliegt, geht das auch sehr, sehr schnell, da sie dann eben auf Deutsch kommunizieren müssen. Und nicht ausweichen können."
Leichter wird der Unterricht dadurch, dass die meisten Kinder und Jugendlichen hohe soziale Kompetenzen mitbringen, ergänzt Julia Biermann, die Deutsch als Zweitsprache unterrichtet.
"Die helfen sich gegenseitig wirklich sehr, sind sehr offen und sehr lernwillig. Ihnen macht das Lernen Spaß und das ist für uns als Lehrkräfte sehr befriedigend, das zu sehen. Und diese schnelle Progression im Lernen mitzuerleben."
Lehramtsstudent Alexander Köster übt mit seinen beiden Mentees Mariam und Moschan (Mojan) Deutsch. Nach einem knappen Jahr in Deutschland sind die beiden gerade aus der Vorbereitungs- in die Regelklassen gewechselt.
"Ich war überrascht, wie gut sie schon Deutsch sprechen konnten. Die sind jetzt ein Jahr erst hier, sprechen aber schon sehr flüssig, was man merkt, ist, dass es häufig an Wortschatz noch fehlt. Aber grammatikalisch sind sie schon sehr gut."
Alexander Köster hat sich als Mentor beworben, weil er Erfahrungen mit Schülern sammeln und sich für die Flüchtlinge engagieren wollte. Die beiden zwölfjährigen Mädchen freuen sich darüber. Beide sind mehr als fit. Mariam kommt aus dem Libanon. Ihre Familie flüchtete vor knapp einem Jahr vor dem Terror.
"Ich kann Arabisch, Deutsch, Französisch und Englisch."
Ihr Mentor versucht, deutsche Vokabeln und Grammatik zu vermitteln.
Das Ziel der beiden Mädchen ist klar definiert: Sie wollen in Deutschland ihr Abitur machen.
"Ja, ja genau. Ja."
Vor einem Jahr haben die beiden ihre Heimat verlassen. Natürlich vermisst sie vieles, sagt Mariam.
"Und wir sprechen immer, sagen, was passiert hier, was passiert im Libanon. Meine Familie, vermisse ich sehr. Ich spreche mit denen sehr oft, mit meiner Familie."
Ein Flüchtlingskind ist auch Weichensteller-Mentorin Mitra Ahmadi. Als sie vier Jahre alt war, flohen ihre Eltern mit ihr aus Afghanistan.
"Besondere Hilfestellung? Nein, hab ich so nicht bekommen. Aber ich bin auf'm Dorf groß geworden. Vielleicht war das ein Vorteil. Weil es auf dem Dorf ziemlich wenig Migrantenkinder gab und mein Umfeld ausschließlich deutsche Freunde, Mitschüler. Und ich glaub, das war von Vorteil."
"Wie kann ich Chancen ergreifen, was bedeutet ein Schulabschluss?"
Gerade hat Mitra Ahmadi ihr Lehramtsstudium abgeschlossen. Genauso wie ihre Freundin und Kommilitonin Arsu Anwar
"Ich bin mit sehr vielen Sprachen aufgewachsen. Meine Mutter hat Türkisch mit mir gesprochen. Mein Vater hat Dari mit mir gesprochen. Untereinander haben sie Deutsch gesprochen. Im Kindergarten hab ich dann Deutsch noch mal richtig kennengelernt. Und dann kam noch Englisch und Französisch dazu. Und inzwischen studier ich halt auch Englisch und spreche diese vier Sprachen tatsächlich auch perfekt."
Die beiden Mentorinnen sind von Anfang an dabei. Sie begleiten ihre Mentees bereits im dritten Jahr. Wehmütig sehen die beiden jungen Frauen jetzt dem Tag entgegen, an dem ihr Mentorenamt endet. Gerade jetzt, wo sie älter werden und man auf Augenhöhe kommunizieren könne, sagt Mitra Ahmadi. Aber sie ist ganz sicher: ihre Mentees werden das Abitur schaffen.
"Durch das Projekt haben sie überhaupt erkannt, was sind Chancen. Wie kann ich Chancen ergreifen, was bedeutet ein Schulabschluss? Wohin kann der führen? Auch beruflich, auch ganz in die Zukunft, in 20 Jahren, wo werde ich stehen und was bedeutet ein Abschluss? Und wiederum, was bedeutet es, dass ich im Unterricht aufmerksam zuhöre? Die Hausaufgaben mache? Das mach ich nicht für die Lehrerin, das mach ich nicht für die Eltern, das mach ich für meinen Abschluss, für meine Zukunft."
Yagmur Celik streift mit ihrem drei Mentees immer noch durch das Bucerius Kunst Forum. Die zehnjährige Alessia zieht sie zu ihrem Lieblingsbild. Es heißt "der Sturm" und zeigt eine aufgewühlte See und ein gekentertes Schiff. Und wie Menschen andere Menschen retten.
"Das ist toll, weil die Menschen an sich glauben und anderen helfen."
Yagmur Celik schaut auf das Bild und dann auf die drei dunkelhaarigen Mädchen. Ja, toll, sagt sie.
"Toll, das du aus einem Sturm etwas Positives herausgezogen hast. Dass Du gesagt hast, dass da andere den Menschen helfen."