Folgen der Meervermüllung "sind gravierend"

Thomas Clemens im Gespräch mit Britta Bürger |
Welche Folgen die enormen Müllmengen in der Nordsee für das Ökosystem Meer haben, sei kaum absehbar, klagt Thomas Clemens von der Organisation "Der Mellumrat". So würden nicht nur Tiere in herumtreibenden Netzen verenden, sondern Vögel an gefressenem Plastikmüll verenden.
Britta Bürger: Die Bilder von verendeten Seevögeln, die sind grausam: Mägen voller Plastikteile, von Seilen und Schlingen erdrosselte Hälse, ganze Tiere verfangen in verknoteten Netzresten. Es sind unfassbare Mengen an Müll, die mittlerweile die Weltmeere verschmutzt haben.

Eine Gruppe engagierter Naturschützer sammelt und dokumentiert seit über 20 Jahren auf der unbewohnten Nordseeinsel Mellum, was dort Tag für Tag, Nacht für Nacht an Land geschwemmt wird. Entstanden ist auf diese Weise ein einzigartiges Archiv, das inzwischen auch von Wissenschaftlern genutzt wird, die sich mit der Meeresverschmutzung befassen.

Der Biologe Thomas Clemens ist von Anfang an ehrenamtlich dabei. Er ist Vorsitzender der Naturschutz- und Forschungsgemeinschaft Mellumrat – ich grüße Sie, Herr Clemens!

Thomas Clemens: Ich begrüße Sie, Frau Bürger!

Bürger: Wie kommen Sie überhaupt auf diese Insel rauf, die ja zum Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer gehört, keine Anlegestelle hat und eigentlich gar nicht betreten werden darf?

Clemens: Die Insel Mellum wird bereits seit 1925 vom Mellumrat, seit ihrer Entstehung quasi, betreut. Das bedeutet, dass dort im Sommer mindestens zwei, meistens vier junge Mitarbeiter als sogenannte Naturschutzwarte, früher Vogelwarte, eingesetzt sind, die ein umfangreiches Programm erledigen von Bestandserfassung der Vögel bis zu Spülsaumkontrollen, auch Totfunde auf Öl und eben auch diese Mülluntersuchungen, die wir machen.

Die werden da rübergebracht mit dem Schiff. Es gibt keinen Anleger, sie müssen vom Schiff durchs Wasser, mehrere Kilometer übers Watt und dann über die Düne in einen eingedeichten Bereich auf der Insel, in dem der Mellumrat eine kleine feste Station hat, wo sie wohnen und arbeiten und wo gegebenenfalls auch Gastwissenschaftler untergebracht werden für ihre Arbeiten.

Bürger: An zwei bestimmten Strandabschnitten wird dann der angeschwemmte Müll eingesammelt und dokumentiert. Beschreiben Sie uns den Ablauf dieser Müllsuche. Was haben Sie zum Beispiel dort in der vergangenen Woche gefunden?

Clemens: Das kann sehr unterschiedlich sein, wie viel da liegt, und im Schnitt sind das so etwa 23 Müllteile, die unterschiedlicher nicht sein können. Das geht von der Zahnbürste bis zum Spielzeugauto über Sprayflaschen, Kanister, Gläser, Flaschen; eine Wärmflasche, eine Fischkiste, Netze, Schnüre, Styroporstücke, Verpackungsmaterial. Das können auch Becher, Geschirrteile aus Kunststoff sein, Flaschen aus Glas oder Kunststoff, Eimer, Kanister, Milchtüten, Eierkartons, Zigarettenschachteln. Es sind insgesamt etwa 40 Kategorien, unter denen wir diese aufgesammelten Teile eintragen, um zu sehen, wie verteilt sich das eigentlich, und, ja, lässt sich vielleicht auch noch mehr daraus dann lesen.

"Eine ungeheuer umfangreiche Datenbank, die ihresgleichen sucht"

Bürger: Der Mellumrat hat mit diesen Ergebnissen auf eigene Faust Informationsbroschüren und Ausstellungen organisiert. Wie wichtig ist Ihr Material mittlerweile auch für Wissenschaftler oder auch Politiker?

Clemens: Das ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Man muss solche Zeitreihen machen, systematisch, dann sind die Daten und die Schlüsse, die man daraus ziehen kann, sind belastbar. Und auf die Weise sind bis zum Zeitraum 2009, von 1991 bis 2009 sind etwa 54.000 Teile gesammelt und erfasst worden. Inzwischen dürften das etwa 60.000 sein. Und das ist natürlich eine ungeheuer umfangreiche Datenbank, die ihresgleichen sucht.

Wobei das Problem natürlich ist, dass diese Materialien zum Teil, wie Kunststoffe, eine Lebensdauer haben von 450 Jahren und mehr und auch Dosen zum Beispiel, Bierdosen, 250 Jahre nimmt man an, dass die etwa halten. Das heißt, wir können nicht eindeutig im Moment die Frage beantworten, was ist Altlast, was ist neu, und testen gerade Erfassungsbögen, wo wir der Frage der Herkunft und des Verursachers nachgehen wollen, durch Aufschriften. So muss man im Grunde arbeiten, damit man auch zu belastbaren Ergebnissen kommt.

Bürger: Thomas Clemens engagiert sich seit über 20 Jahren in der Naturschutz- und Forschungsgemeinschaft Mellumrat, das ehrenamtliche Müll-Monitoring in der Nordsee ist unser Thema hier im Deutschlandradio Kultur. Die Dinge verrotten nicht im Meer. Sie haben die Haltbarkeit, die Langzeithaltbarkeit schon angedeutet: Plastikflaschen bis zu 450 Jahre, Fischernetze aus Nylon sogar 600 Jahre. Welche Folgen hat das für die Meerestiere, für die Vögel, möglicherweise auch für die Nahrungskette?

""Für das Meeresökosystem sind die Folgen kaum absehbar""

Clemens: Die Folgen sind gravierend. Der Müll ist natürlich nicht auf diese unbewohnte Insel begrenzt, sondern er findet sich im Prinzip, auch unterschiedlich verteilt, auf allen Stränden der friesischen Inseln oder der Nordseeküste, und natürlich ist das Ganze inzwischen auch ein weltweites Problem, das ist deutlich geworden.

Für das Meeresökosystem sind die Folgen kaum absehbar. Am einfachsten zu verstehen ist das an den großen Müllteilen, Makromüll. Wenn Netzreste oder Fischerreusen im Meer herumdriften, die können über Jahrzehnte oder Jahrhunderte fängig sein. Und darin kommen ständig Tiere um, vom Krebs bis zum Fisch bis zur Robbe bis zum Schweinswal vielleicht, und in den großen Meergebieten natürlich auch große Wale, die sich verfangen, da elendig umkommen.

Und am Strand finden wir regelmäßig auch Vögel, die in Netzen verheddert sind, die Schnäbel gebrochen von stoßtauchenden Vögeln wie dem Basstölpel, der nicht erkennen kann, dass das eine Plastikplane oder ein Tampenrest ist und wird den dann nicht wieder los. Und diese Tiere verenden, und das geht durch alle Meeresorganismen im Prinzip durch.

Seevögel im Wattenmeer (Bild: dpa)

Bürger: Sie haben auch viele Seevögel gefunden, deren Mägen voll waren, voller kleiner Plastikteile. Warum fressen die Tiere das Plastik?

Clemens: Weil sie das verwechseln mit Nahrung. Das ist besonders die Gruppe der Sturmvögel, und bei uns in den Meeresgebieten der Nordsee kommt der Eissturmvogel vor und im Atlantik, und der sammelt, von der Meeresoberfläche nimmt der im Vorbeiflug quasi kleine Teile als Nahrung auf und kann dann nicht unterscheiden – ich sag mal, so ein Vogel hat sich entwickelt, die Entwicklungsgeschichte geht 60 Millionen Jahre zurück. Und dass es seit 60, 80 Jahren Kunststoffe gibt, die der Mensch in seine Meeresumwelt einbringt, darauf kann sich kein Tier einstellen. Der frisst das mit und verhungert letztlich mit vollem Magen, weil das natürlich unverdauliche Teile sind …

Bürger: Weil er sich satt fühlt …

Clemens: Abgesehen davon kann er sich natürlich auch vergiften.

Bürger: Würden alle den bestehenden Gesetzen folgen, dürfte es ja all den Müll in den Meeren gar nicht geben. Woher stammt der also?

Clemens: Es ist richtig, es gibt internationale Abkommen, es gibt das Sondergebiet Nordsee, es gibt EU-Verordnungen, die das eigentlich schlichtweg verbieten. Und wir gehen, ganz vorsichtig formuliert, davon aus, dass in der Nordsee zumindest ein Großteil des Mülls von Schiffen stammt. Es kann aber auch über Flüsse Einträge geben, und ich sag mal, wenn da Wasserlatschen oder Spielzeug ist, dann sicherlich oder eher zu vermuten von Stränden, die touristisch genutzt werden. Aber dieser Frage muss man ganz genau nachgehen. Seriös kann man das bisher nicht beantworten.

""Man muss auf verschiedensten Ebenen aktiv sein""

Bürger: Gab es Fälle, in denen man solche illegalen Müllabladungen von Schiffen schon nachweisen und auch rechtlich verfolgen konnte?

Clemens: Also in Bezug auf Ölverschmutzung und solche Dinge wird das ganz systematisch gemacht und verfolgt. In Bezug auf den übrigen Müll ist das nur sehr schwer, weil an diesen Müllresten natürlich kein Absenderaufkleber dran ist, sonst würde man einen Vogel, der in einem Netzrest sitzt, den würde man zumindest für eine Ordnungswidrigkeit von bis zu 30.000 oder 50.000 Euro verknacken können. Das geht so nicht.

Aber es gibt natürlich Fälle, wo wir einen Kanister finden, wo nicht nur der Hersteller drauf steht und wer den geliefert hat, sondern auch noch, weil wir den wahrscheinlich frisch gefunden haben, die Lieferadresse ist, an wen das am Festland gegangen ist. Solche Fälle werden genau registriert, auch schon in der Vergangenheit, und der Nationalpark-Verwaltung gemeldet. Und, ja, ich bin da hinterher, auch von der Verwaltung bei solchen klaren Verstößen, denen man nachgehen kann, zu erfahren, was denn daraus geworden ist.

In jedem Fall, wenn man dem nachgeht, wird derjenige, der da betroffen ist, sagen zu seinen Nachbarn oder Berufskollegen: Also passt mal auf, hier wird drauf geachtet. Man muss also auf verschiedensten Ebenen aktiv sein, um das Problem wirklich zu transportieren.

Bürger: Das Müll-Monitoring in der Nordsee, eine ehrenamtliche Initiative auf der unbewohnten Nordseeinsel Mellum. Thomas Clemens, herzlichen Dank für das Gespräch!

Clemens: Ich danke auch!

Bürger: Neben Plastiktüten, Flaschen und Verpackungen ist der sogenannte Mikroplastikmüll ein weiteres Problem. Das sind kleinste Kunststoffpartikel, die etwa durch das Waschen von Fleece-Kleidung freigesetzt werden. Deren Auswirkungen besprechen wir heute Mittag ab 14 Uhr hier im Radiofeuilleton, dann im Gespräch mit dem Meereschemiker Prof. Dr. Gerd Liebezeit.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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