Folgen des Vertrages von Versailles

Vorgestellt von Alan Posener |
Der Kern der Keynes'schen Kritik an Versailles lautet: Europa war vor dem Krieg ein einheitlicher, verflochtener Wirtschaftsraum und ist nur so überlebensfähig. Wer, wie Frankreich, den wichtigsten Produzenten, Konsumenten und Kapitalgeber Europas – also Deutschland – ruinieren will, begeht wirtschaftlichen Selbstmord und besorgt das Geschäft der Revolutionäre.
Vor uns steht ein leistungsunfähiges, arbeitsloses, desorganisiertes Europa, zerrissen vom Hass der Völker und von innerem Aufruhr, kämpfend, plündernd und schwindelnd… Wer kann aber sagen, wie viel zu ertragen ist oder in welcher Richtung die Menschen schließlich ihrem Unglück zu entgehen suchen werden?

Während Keynes an seinem Buch arbeitet, gründet Benito Mussolini die "fasci di combattanti", tritt Adolf Hitler der "Deutschen Arbeiterpartei" bei.

Der Erste Weltkrieg hat der bereits globalisierten Wirtschaft und dem bereits hochgradig vernetzten Europa einen beinahe tödlichen Stoß versetzt. Vor dem August 1914 konnte

"der Bewohner Londons, seinen Morgentee im Bette trinkend, durch den Fernsprecher die verschiedenen Erzeugnisse der ganzen Erde in jeder beliebigen Menge bestellen (…), seinen Reichtum in den natürlichen Hilfsquellen und neuen Unternehmungen jeder Weltgegend anlegen (…), billige und bequeme Verkehrsgelegenheiten nach jedem Lande oder Klima ohne Pässe und Förmlichkeiten bekommen (…) und nach fremden Weltgegenden reisen, ohne ihre Religion, ihre Sprache oder ihre Sitten zu kennen (…). Die Pläne der Politik des Militarismus und Imperialismus, der Nebenbuhlerschaft von Rassen und Kulturen, Handelbeschränkungen und Ausschließungen, die die Schlange in diesem Paradiese spielen sollten, waren wenig mehr als Gerede in seiner Tageszeitung…"
Zu diesem Garten Eden der Globalisierung haben wir 90 Jahre später immer noch nicht zurückgefunden. In Versailles wurde die Chance dazu vertan, weil Frankreichs Premier Georges Clemenceau einen "Karthago-Frieden" anstrebte – und gegenüber Großbritanniens Regierungschef Lloyd George und US-Präsident Woodrow Wilson durchsetzte. (So heißt es heute im Prospekt des "Trianon Palace – A Westin Hotel": "The Salon Clemenceau Conference Room is so named because it was here that Georges Clemenceau dictated the terms of the treaty of Versailles”: Hier hat Georges Clemenceau den Vertrag von Versailles diktiert.)

Keynes, der als Mitglied der britischen Delegation die drei westlichen Staatsmänner aus nächster Nähe beobachten konnte, bringt dem bösen alten Franzosen widerwillige Bewunderung, dem opportunistischen Briten kopfschüttelndes Verständnis entgegen. Für den amerikanischen Idealisten hat er nur Verachtung übrig. Nicht, weil sich Wilson über den Tisch ziehen ließ – das Alte Europa war halt damals stärker als heute und Amerika eher geneigt, auf seine Einflüsterungen zu hören; sondern weil er sich dabei einredete, das Rechte und Gerechte zu tun und damit seine und Amerikas moralische Autorität verspielte.

Wilson gab deshalb bei Fragen der Grenzen und Reparationen nach, weil er sie letztlich für nebensächlich, seinen Völkerbund für die Hauptsache hielt. Von diesem Instrument erhoffte er sich auch eine spätere Revision des Vertrags. Scharfsinnig legt Keynes jedoch die "zwei verhängnisvollen Mängel" des Völkerbunds bloß: das Prinzip der Einstimmigkeit und das Prinzip der nationalen Souveränität.

"Diese beiden Artikel zusammen tragen viel dazu bei, den Gedanken des Völkerbundes als Werkzeug des Fortschritts zu vernichten."

Sie tragen noch heute dazu bei, die Nachfolgeorganisation des Völkerbundes zu jener "Irrelevanz" zu verurteilen, die der Neo-Wilsonianer George W. Bush vor dem Irak-Krieg beklagte. Zu den schlimmsten Ergebnissen des Versailler Vertrages zählt Keynes die Entstehung der unzähligen neuen Staatsgrenzen zwischen

"habgierigen, eifersüchtigen, unreifen und wirtschaftlich unselbständigen Nationalstaaten."

Ein Ergebnis jenes Prinzips der "nationalen Selbstbestimmung", auf das Wilson so großen Wert legte, und das so gar nicht zur Realität Europas passte oder passt.

"Wirtschaftliche Grenzen waren zu ertragen, solange wenige große Reiche ungeheure Staatsgebiete einschlossen. Sie werden unerträglich, wenn die Reiche Deutschlands, Österreich-Ungarns, Russlands und der Türkei unter einige zwanzig unabhängige Staatsgewalten verteilt sind."

Als Abhilfe schlägt Keynes einen europäischen Freihandelsverband vor, dessen Mitgliedschaft zumindest für die Verlierermächte des Krieges oder vielmehr deren Nachfolgestaaten, von Deutschland bis zur Türkei, zunächst verbindlich sein sollte. Eine Vorläuferorganisation der EU also als Nachfolgeorganisation der untergegangenen europäischen Reiche, und mit der gleichen Funktion – der Bändigung des mörderischen europäischen Nationalismus durch wirtschaftliche Verflechtung.

Keynes hat erwartet, dass seine Vorschläge nicht beachtet würden; die Folge, so warnte er, werde ein langer europäischer Bürgerkrieg sein, der

"die Zivilisation und den Fortschritt unserer Generation zerstören wird."

Liest man das Buch in diesen Tagen, zwanzig Jahre nach dem Historikerstreit, wird einem noch einmal deutlich, wie verhängnisvoll sich der Widerstand des Alten Europa gegen die einzigen Kräfte ausgewirkt hat, die Europa hätten retten können: Globalisierung, europäische Einigung und amerikanischer Idealismus.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Keynes' Grundsätze – Aufbauhilfe für den besiegten Feind, wirtschaftliche Verflechtung als Friedensgarantie – mit Marshallplan und Montanunion in Westeuropa umgesetzt. Heute sollte man sein Buch lesen als Dokument einer vertanen geschichtlichen Chance; als Gradmesser für den gewaltigen Erfolg der Einigung Europas; und als Warnung davor, diese Erfolgsgeschichte durch nationalen Egoismus oder kulturelle Dünkel noch einmal aufs Spiel zu setzen.


John Maynard Keynes:
Krieg und Frieden
Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles

Aus dem Englischen von M. J. Bonn und C. Brinkmann
Herausgegeben und mit einer Einleitung von Dorothea Hauser
Berenberg Verlag, Berlin.