Versteckte Schamgefühle, wenig Freunde
Wenn Kinder arm sind, sind sie oft allein, sagt die Kinderschutzbeauftragte der Berliner Stadtmission Claudia Held. Die staatlichen Leistungen für den Besuch von Sportvereinen oder Musikschulen müssten "entbürokratisiert" werden, damit sie auch ankommen.
Damit Sozialleistungen für Kinder abgerufen werden, muss das Antragswesen entbürokratisiert werden. Diese Auffassung vertritt die Kinderschutzbeauftragte der Berliner Stadtmission, Claudia Held, im Deutschlandfunk Kultur.
Es sei "schauderhaft", wie schlecht die Bürgerinnen und Bürger informiert seien - etwa über Sozialleistungen wie Wohngeld, BaFöG oder Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets. Zudem versäumten viele Menschen, sich Teile ihrer Lohnsteuer mit einer Steuererklärung zurückzuholen.
Entbürokratisierung der Maßnahmen gegen Kinderarmut
In Berlin gebe es allerdings erste Erfolge bei der Entbürokratisierung der Maßnahmen gegen Kinderarmut, sagte Held am Weltkindertag. So sei der Antrag für den Zuschuss zum Mittagessen in Ganztagsschulen vereinfacht worden.
Und die Landessportjugend treibe derzeit voran, dass die staatlichen Teilhabeleistungen für den Freizeitsport über die Sportvereine gestellt werden können. Das Projekt habe Modellcharakter, sagt Held:
"Das soll dann, wenn es funktioniert, auch für Musikschulen und so weiter gemacht werden. Und wenn das in Berlin klappt, klappt es vielleicht auch im Bundesgebiet."
Unterstützung muss auf Dauer angelegt sein
Wichtig sei, dass alle Akteure bei der Kinderförderung an einem Strang ziehen, sagt Held. In Berlin sei dazu die Landeskommission zur Prävention von Kinder- und Familienarmut eingerichtet worden, deren Aufgabe es sei, eine Strategie zu entwickeln, damit Hilfsprojekte nicht nur aus der Not geboren würden und man gute Projekte in eine Regelfinanzierung bekomme.
Die negativen Auswirkungen von Armut seien vor allem eine soziale Isolierung, meint die Fachkoordinatorin Jugendhilfen. Auf die Frage, woran sie Kinderarmut erkenne, sagt Held: "Ich merke das daran, wie Kinder sich verhalten." Sie beobachte "versteckte Schamgefühle, dass sie bei Ausflügen nicht teilnehmen können, obwohl sie nur zwei Euro kosten. Und oft auch, dass sie nicht gut vernetzt sind und keine Freunde haben, die aus anderen sozialen Schichten kommen."
(huc)
Das Interview im Wortlaut:
Stephan Karkowsky: Heute ist Weltkindertag. Da wird weltweit hingewiesen auf ein ganz drängendes Problem, nämlich die Kinderarmut – zum Beispiel von der Sozialarbeiterin Claudia Held. Sie ist Kinderschutzbeauftragte der Berliner Stadtmission und Mitglied der Berliner Landesarmutskonferenz. Frau Held, guten Morgen!
Claudia Held: Guten Morgen!
Karkowsky: Es gibt natürlich offizielle Definitionen, aber wie definieren Sie denn als Praktikerin Kinderarmut? Woran merken Sie, dass ein Kind arm ist?
Held: Ich merke das daran, wie Kinder sich verhalten – versteckte Schamgefühle, dass sie bei Ausflügen nicht teilnehmen können, obwohl sie nur zwei Euro kosten, und oft auch, dass sie nicht gut vernetzt sind und keine Freunde haben, die aus anderen sozialen Schichten kommen.
Karkowsky: An der Kleidung wahrscheinlich nicht. Es heißt ja oft, dass die ärmsten …
Held: Nein, Kleidung absolut nicht.
Karkowsky: Es heißt ja oft, dass die ärmsten Eltern ihren Kindern die teuersten Turnschuhe kaufen. Vor knapp zwei Jahren waren Sie zu Gast in unserer Sendung "Im Gespräch", und da sagten sie, viele Menschen wissen gar nicht, welche Zuschüsse und Hilfen ihnen überhaupt zustehen.
Held: Ich kann nur sagen, das ist einfach schauderhaft. Ich erlebe Leute, die überhaupt nicht informiert sind über diese ganzen Zuschläge und BAföG oder Wohngeld. Da muss man mehr tun. Auch die Eltern fördern oder auch gucken, wo kann man Geld herbekommen und wie kann man zum Beispiel auch Lohnsteuer zurückbekommen. Ich kenne ganz viele Leute, die arbeiten, die holen sich nie die Lohnsteuer zurück.
Karkowsky: Das ist also wie gesagt fast zwei Jahre her, wie sieht es denn da heute aus, hat sich daran was verändert?
Held: Ich kann da ein kleines Beispiel sagen: Es ist eine Informationssache, es ist aber auch eine Sache, dass bestimmte Zuschläge bürokratisiert werden. Es gibt ja dieses Bildungs- und Teilhabepaket, da sind Änderungen getroffen worden, man kommt leichter an Anträge ran, es sind auch nicht mehr so viele Anträge, zum Beispiel für das Mittagsessen in den Ganztagsschulen. Oder es läuft gerade ein Projekt – das Teilhabepaket hat ja auch Zuschüsse für Vereine, also Sportvereine, das ist äußerst kompliziert, und da versucht gerade die Landessportjugend als Projekt das hinzubekommen, dass über die Vereine Anträge gestellt werden können und dass es total vereinfacht wird. Das soll dann, wenn es funktioniert, auch für Musikschulen und so weiter gemacht werden, und wenn das in Berlin klappt, klappt es vielleicht auch im Bundesgebiet.
Karkowsky: Es ist aber bislang so, dass das alles jedes Bundesland für sich selbst entscheidet, oder?
Held: Ja.
Karkowsky: Es gibt eine aktuelle Umfrage des Kinderhilfswerkes, da steht drin, 84 Prozent der Deutschen meinen, es werde von der Politik zu wenig getan gegen Kinderarmut hierzulande. Haben diese Leute recht, was meinen Sie?
Held: Da muss man gucken, was getan werden soll, es ist ja auch schon einiges getan worden, und wie die Wahrnehmung auch ist. Es kommt selten eigentlich in den Nachrichten vor oder so, was alles schon getan wird, und es ist langsam, weil alles sehr kompliziert auch ist und alles Geld kostet.
Karkowsky: Ist natürlich auch eine Frage, zu der wenig Leute nur "nein" sagen würden, wenn man gefragt wird, glauben Sie, es wird zu wenig getan für die Kinderarmut, dann werden die wenigsten Leute sagen, nein, nein, nein, es wird zu viel getan. Wie ist das denn mit der politischen Seite, wie sehr fühlen Sie sich da unterstützt derzeit?
Held: Derzeit in Berlin ist es so, dass diese Regierungslegislaturperiode der Senat sich verpflichtet hat, eine Landeskommission einzurichten zur Prävention von Kinder- und Familienarmut, wo alle Akteure an einem Tisch sitzen, das heißt Politik, Verwaltung und die Wohlfahrtsverbände. Und wir gucken, wie kann man eine Strategie entwickeln und nicht nur einzelne Projekte machen. In Berlin ist das typisch, dass wenn irgendwo eine Notlage ist, macht man mal ein Projekt für zwei, drei Jahre, und dann muss man wieder ein neues Projekt machen, und wir gucken, was läuft super, was läuft gut und was kommt eventuell auch mal in eine Regelfinanzierung hinein.
Karkowsky: Was läuft denn derzeit nicht so gut?
Held: Eine gemeinsame Strategie, etwas zu machen.
Karkowsky: Gemeinsam in einem Bundesland oder aller Bundesländer?
Held: Ich hab leider nur Ahnung von Berlin. Es läuft vieles, vieles ganz toll, und man könnte sich dann von einem Bezirk – das ist dann für die, die jetzt zuhören, ein Bezirk ist eigentlich so ein Landkreis oder eine Kleinstadt –, da laufen Sachen gut, und in anderen Bezirken läuft es nicht so gut.
Karkowsky: Sie reden ja auch von sozialer Armut, die sollte man stärker in den Blick nehmen. Was ist damit gemeint?
Held: Damit ist gemeint, dass Menschen, die ärmer sind, auch weniger oft weniger Bildung haben, oft, nicht immer. Soziale Armut heißt, wenn Menschen keine Kontakte und keine Netzwerke mehr knüpfen, das ist, wenn Kinder andere Kinder nicht mehr zu sich nach Hause einladen, wenn allein erziehende Mütter überhaupt keine Zeit haben, sich mal mit anderen zu treffen, um sich auszutauschen, also wenn das soziale Gefüge ohne Netzwerk arbeitet, für die Familie gar nicht mehr so richtig vorhanden ist, man nicht mehr rausgeht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.