Folter in der Ost-Ukraine

Strafverfolgung ist auch durch Drittstaaten möglich

OSZE-Patrouille in der Region Donzek (Ost-Ukraine) am 26.12.2015.
OSZE-Patrouille in der Region Donzek (Ost-Ukraine). © picture alliance / dpa / Sergey Averin
Christian Tomuschat im Gespräch mit Dieter Kassel · 19.05.2016
Bei den Foltervorfällen in der Ost-Ukraine ist eine internationale Strafverfolgung schwierig, sagt der Völkerrechtler Christian Tomuschat. Lediglich die UN-Antifolterkonvention biete hier eingeschränkte Möglichkeiten.
Christian Tomuschat, Professor für Völker- und Europarecht an der Berliner Humboldtuniversität, sieht in der Antifolterkonvention der Vereinten Nationen ein mögliches geeignetes rechtliches Mittel für die Strafverfolgung von Menschenrechtsverletzungen in der Ost-Ukraine. Das dort verankerte "Weltrechtsprinzip" beinhalte Folter und andere degradierende oder unmenschliche Behandlungen, sagte Tomuschat im Deutschlandradio Kultur.
Voraussetzung für die Anwendung dieses Prinzips sei es, dass sich der Täter auf dem Gebiet des verfolgenden Staates befinden müsse. Die Strafverfolgung könne nicht nur von den unmittelbar beteiligten Staaten, sondern auch von anderen Staaten betrieben werden, betonte Tomuschat:
"Wenn ein Beschuldigter etwa auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gerät, dann wäre die Bundesrepublik Deutschland sogar verpflichtet, den Betreffenden hier in Deutschland zu verfolgen."

Die Bestimmungen der Genfer Abkommen

Tomuschat verwies auch auf die Strafbestimmungen der Genfer Abkommen von 1949. In diesen Klauseln gelte für schwere Kriegsverbrechen ebenfalls das "Weltrechtsprinzip". Danach seien alle Vertragsstaaten berechtigt, derartige Verbrechen zu verfolgen und die Verantwortlichen vor ihre Gericht zu stellen. Es müsste dabei allerdings einen Zusammenhang mit einem Kriegsgeschehen geben, äußerte Tomuschat:
"Es müsste sich um Kriegsverbrechen im Rahmen eines bewaffneten Konfliktes handeln. Bei diesen Verschleppungen, die offenbar stattfinden in der östliche Ukraine, ist die Frage, ob sich das einfügt in den Rahmen des dort stattfindenden bewaffneten Konflikts."

Lageüberprüfung durch den Internationalen Strafgerichtshof?

Die Chance auf eine Strafverfolgung der Menschenrechtsverletzungen in der Ost-Ukraine durch den Internationalen Strafgerichtshof sei eher gering, meinte Tomuschat. Weder die Ukraine noch Russland hätten das Römische Statut über den Internationalen Strafgerichtshof ratifiziert. Es gebe aber die Möglichkeit, dass sich die Ukraine einer Lageüberprüfung durch den Internationalen Strafgerichtshof unterwerfe:
"Aber natürlich im Hinblick auf alle Verbrechen, von welcher Seite sie auch begangen sein mögen. Die Ukraine kann nicht sagen: 'Ich will nur, dass russische Verbrechen oder von russischen Sympathisanten begangene Verbrechen untersucht werden. ' Nein, die gesamte Lage ist dann im Fokus des Internationalen Strafgerichtshofs." .
Recherchen des Deutschlandradios hatten jüngst das Ausmaß der Foltervorfälle in der Ost-Ukraine enthüllt. Menschenrechtsorganisationen hatten ebenfalls von zahlreichen Menschenrechtsverletzungen in der dortigen Region berichtet.

Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Tausende Menschen werden in den umkämpften Gebieten im Osten der Ukraine auf der Straße festgenommen, regelrecht entführt und in illegalen Gefängnissen gefoltert. Recherchen des Deutschlandradios haben das Ausmaß dieser Kriegsverbrechen ans Tageslicht gebracht, wir haben gestern ausführlich darüber berichtet. Auch darüber, dass Menschenrechtsorganisationen diese Vorfälle dokumentieren und damit dafür sorgen wollen, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Aber wird das überhaupt möglich sein? Dazu jetzt bei uns Christian Tomuschat, er ist Professor für Völker- und Europarecht an der Berliner Humboldt-Universität. Schönen guten Morgen, Professor Tomuschat!
Christian Tomuschat: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Wie können denn solche Foltervorfälle verfolgt werden, wenn es die nationale Gerichtsbarkeit nicht tut?
Tomuschat: Ja, es gibt verschiedene Möglichkeiten, internationale Institutionen anzurufen. Man denkt selbstverständlich zunächst an den Internationalen Strafgerichtshof. Aber dessen Erreichbarkeit ist doch nur gering gegeben, weil weder die Ukraine noch Russland das Römische Statut über den Internationalen Strafgerichtshof ratifiziert haben.
Es gibt zwei Möglichkeiten: Einmal, dass der Sicherheitsrat die Lage in der östlichen Ukraine an den internationalen Strafgerichtshof heranträgt. Das ist sehr unwahrscheinlich, weil ein solcher Beschluss eine Einstimmigkeit unter den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates voraussetzen würde. Bekanntlich ist Russland eines dieser ständigen Mitglieder, Russland wird dem selbstverständlich nicht zustimmen.
Dann gibt es die andere Möglichkeit, dass die Ukraine sich unterwirft im Hinblick auf die Lage in der östlichen Ukraine. Das ist nicht so ganz klar, inwieweit das rechtlich zulässig ist, aber ich denke, das ist möglich. Denn man kann dem Internationalen Strafgerichtshof Lagen unterbreiten, und diese Lage, denke ich, die wäre dann auch tatsächlich vom Internationalen Strafgerichtshof zu überprüfen. Aber natürlich im Hinblick auf alle Verbrechen, von welcher Seite sie auch begangen sein mögen. Die Ukraine kann nicht sagen, ich will nur, dass russische Verbrechen oder von russischen Sympathisanten begangene Verbrechen untersucht werden, nein, nein, die gesamte Lage ist dann im Fokus des Internationalen Strafgerichtshofs.

Die Möglichkeiten des Internationalen Strafgerichtshofs

Kassel: Es hat ja gerade im Zusammenhang mit der Ukraine vor einigen Jahren einen sehr speziellen Fall gegeben. Von November 2013 bis Februar 2014 hat die Ukraine den Internationalen Strafgerichtshof quasi so was wie vorübergehend anerkannt, um die Verfolgung des ehemaligen Staatschefs Janukowitsch zu ermöglichen. Wäre das wieder so etwas, was Sie gerade als Beispiel beschrieben haben?
Tomuschat: So etwas Ähnliches wäre das. Und wieweit dann der Strafgerichtshof selbst sich auf solche Dinge einlässt, wenn man das sehr eng begrenzt, zeitlich und örtlich, nicht wahr … Da liegt natürlich die Gefahr einer gewissen Manipulation nahe und dieser Vorwurf wird dann sicher erhoben werden. Das kann man nicht mit absoluter Sicherheit sagen, wie der Strafgerichtshof sich darauf einlassen würde.

"Weltrechtsprinzip" für schwere Kriegsverbrechen

Kassel: Aber wenn wir mal davon ausgehen, dass der Strafgerichtshof am Ende gar nicht die Chance bekommt, sich darauf einzulassen, aus den von Ihnen zum Teil schon genannten Gründen: Gibt es denn irgendwelche anderen Möglichkeiten, diese Kriegsverbrechen – wenn wir mal davon ausgehen, dass es sich um solche handelt – zu verfolgen?
Tomuschat: Ja, es gibt ja die Genfer Abkommen von 1949, die Klauseln enthalten in ihren Strafbestimmungen, wonach für Kriegsverbrechen, für schwere Kriegsverbrechen das Weltrechtsprinzip gilt. Das heißt also, dass alle Vertragsstaaten – und zu denen gehören praktisch alle Staaten der Welt – berechtigt sind, derartige Verbrechen zu verfolgen, das heißt, die Verantwortlichen oder vermutlich Verantwortlichen vor ihre Gerichte zu stellen. Ich weiß jetzt nicht, inwieweit man bei diesen Verbrechen sagen kann, dass sie im Zusammenhang mit einem Kriegsgeschehen stehen. Es müsste sich um Kriegsverbrechen im Rahmen eines bewaffneten Konflikts handeln. Bei diesen Verschleppungen, die offenbar stattfinden in der östlichen Ukraine, ist die Frage, ob sich das einfügt in den Rahmen des dort stattfindenden bewaffneten Konflikts.
Kassel: Es ist ein bewaffneter Konflikt, ich glaube, das kann man durchaus behaupten. Aber wovon hängt denn das ab, ob es ein Kriegsverbrechen wäre? Sie haben es ein bisschen schon erklärt, aber reicht es zum Beispiel – und so scheint es ja zu sein –, wenn die in den beiden selbst ernannten Volksrepubliken im Osten der Ukraine, zurzeit die Macht besitzenden Herrscher, wenn die sagen, wir verhaften und foltern jemanden, weil er nicht auf unserer Seite ist? Ist das damit automatisch schon ein Kriegsverbrechen?
Tomuschat: Ich glaube nicht, dass man sagen kann, dass es sich dann um ein Kriegsverbrechen handelt. Da muss immer ein Zusammenhang hergestellt werden können mit dem einen bewaffneten Konflikt, der dann auch tatsächlich stattfinden muss. Aber es gibt noch einen anderen rechtlichen Weg, nämlich die Antifolterkonvention der Vereinten Nationen. Die sieht auch ähnliche Klauseln vor, nämlich: Das Weltrechtsprinzip gilt für Straftaten, Folter und andere unangemessene, degradierende und unmenschliche Behandlungen.
Und da ist die einzige Voraussetzung nur, dass der Täter sich auf dem Gebiet des verfolgenden Staates befinden muss. Das ist die Voraussetzung dafür, aber sonst kann jeder dritte Staat auch – nicht wahr, das muss sich nicht um die unmittelbar beteiligten Staaten handeln, das könnte Deutschland sein –, wenn ein Beschuldigter etwa auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gerät, dann wäre die Bundesrepublik Deutschland sogar verpflichtet, den Betreffenden hier in Deutschland zu verfolgen.

Südafrika als Präzedenzfall für eine Amnestie

Kassel: Nun gibt es noch ein weiteres Problem, das glaube ich eventuell – würde ich als Laie sagen – alle diese Möglichkeiten deutlich einschränkt: Bei den Friedensverhandlungen in Minsk, wo es um einen möglichen Frieden im Osten der Ukraine geht, da steht auch die Möglichkeit einer generellen Amnestie im Raum. Die russische Seite will das und es ist durchaus nicht ausgeschlossen, dass als Teil dieses Verhandlungsergebnisses eine solche Amnestie beschlossen wird. Würde das dann, ein solcher Beschluss in Minsk von vier Seiten, würde das wirklich sämtliche anderen Verfolgungsmöglichkeiten ausschließen?
Tomuschat: Das ist sehr umstritten unter Völkerrechtlern und das ist bisher nicht ausdiskutiert worden, und auch in der Praxis weiß man nicht genau, was das bedeutet. Ich glaube, dass Amnestien möglich sein müssen, so wie wir das ja auch aus Südafrika kennen, wo die Wahrheitskommission dann, wenn Täter ein vollständiges Geständnis abgelegt haben, ihnen einen Straferlass zugestanden hat. Selbst für schlimmste und übelste Verbrechen.
Also, es gibt diesen Präzedenzfall Südafrika und ich glaube, man kann also solche Amnestien nicht ausschließen im Rahmen einer allgemeinen Friedensregelung. Ich denke immer an einen künftigen Friedensvertrag zwischen Israel und den Palästinensern, da wird es auch künftig großzügige Amnestieregelungen geben müssen, sonst würde ein Friedensvertrag gar nicht zustande kommen.
Kassel: Christian Tomuschat, Professor für Völker- und Europarecht an der Berliner Humboldt-Universität, über die Möglichkeiten, die Menschenrechtsverstöße im Osten der Ukraine international zu ahnden. Professor Tomuschat, vielen Dank für das Gespräch!
Tomuschat: Bitte sehr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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