Zum Thema Folter in der Ostukraine lesen Sie auch den Beitrag von Sabine Adler: "Ich flehte ihn an, mich nicht zu verstümmeln".
Der Westen will es lieber nicht wissen
Tausende Menschen in Geiselhaft, Folter in dunklen, feuchten Kellern: In der Ostukraine kommt es zu schweren Menschenrechtsverletzungen. Dennoch gebe es keine Alternative zu den Verhandlungen mit Separatisten und Russland, meint die Grünen-Politikerin Marieluise Beck.
Marieluise Beck ist Osteuropaexpertin der Grünen, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages – und derzeit auch Berichterstatterin des Europarats für die Kriegsverbrechen in der Ost-Ukraine. Dass dort Menschen willkürlich verhaftet und in feuchten Kellern brutal gefoltert werden, werde "im politischen Raum" im Westen "nicht gern gehört", sagt sie – weil man im Augenblick darum bemüht sei, in der Ukraine "den Deckel zuzumachen". Wahlen in der Ostukraine würden geplant, "obwohl man wissen kann, dass solche Verhältnisse vor Ort herrschen. Man will es aber lieber nicht wissen", sagte Beck im Deutschlandradio Kultur.
Das Gespräch im Wortlaut:
Dieter Kassel: In den umkämpften Gebieten im Osten der Ukraine werden Kriegsverbrechen eines bisher ungeahnten Ausmaßes verübt. Recherchen des Deutschlandradios, unter anderem beruhend auf Informationen der vor Ort noch aktiven Hilfsorganisationen, haben Beweise dafür ergeben, dass zum Beispiel im vergangenen Sommer 4.000 Menschen gleichzeitig in regelrechter Geiselhaft waren.
Auf der Straße verhaftet, und dann monatelang in Geheimgefängnissen festgehalten wurden, gefoltert, und einige von denen haben das nicht überlebt. Diese Zahl 4.000 ist trotz allem eine theoretische – so viel ist nachweisbar, die Dunkelziffer ist ziemlich sicher noch höher.
Marieluise Beck ist Bundestagsabgeordnete der Grünen, Mitglied des Auswärtigen Ausschusses und momentan unter anderem auch Berichterstatterin der Parlamentarischen Versammlung des Europarats zu Menschenrechtsverletzungen in den ukrainischen Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle. Schönen guten Morgen, Frau Beck!
Marieluise Beck: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Was haben Sie über diese Entführungen und Folterungen schon vor unserer Berichterstattung gewusst?
Beck: Ich bin Anfang April zusammen mit einer tschechischen Parlamentskollegin für die Parlamentarische Versammlung des Europarats in vielen Städten der Ukraine gewesen, und wir haben dort Menschen getroffen, die eben diese Folterberichte uns gegenüber erzählt haben, eigene Erfahrungen. Es waren Menschen, die a) überlebt haben und b) denen es gelungen ist, diesen Folterkellern zu entkommen und in die freie Ukraine zu gehen. Ich habe Fotografien gesehen von ganz fürchterlich zugerichteten Menschen. Insofern ist mir all das, was Ihre Kollegin recherchiert hat, nicht neu.
Kassel: Einer der Männer, den sie getroffen hat, Sabine Adler, die diese Recherche durchgeführt hat, ist Alexander Kretschenko. Er war Amtstierarzt, bevor der Krieg in der Ostukraine begann, und er hat ihr gegenüber geschildert, was er selbst erlebt und gesehen hat in einem Foltergefängnis. Wir werden uns das jetzt anhören, ich sage aber allen, die uns zuhören, dazu, dass das wirklich eine sehr schlimme Geschichte ist, aber ich glaube, es ist eine Geschichte, die wir hören müssen.
Alexander Kretschenko: Ich musste mich ganz ausziehen. Einer schnitt Stücke von einer Schnur ab und legte mir Schlingen um die Handgelenke. Ich sollte mich auf den Tisch mit dem Gesicht nach unten legen. Einer, der sich Maniak, Irrer, nannte, schlug mir mit einem Plastikrohr auf die Fersen, Hüften und den Rücken. Dann wies er an, meine rechte Hand zu fixieren, um mir die Finger zu brechen. Zum Glück krachte plötzlich der Tisch, auf dem ich lag, zusammen. Maniak zeigte mir ein Operationsbesteck. Er erklärte jedes einzelne Instrument, und sagte, dass er mir mit der Knochensäge Stück für Stück die Finger absägen wolle. Er setzte die Säge zwischen Ring- und kleinem Finger an. Hier ist die Narbe. Es war furchtbar, schmerzhaft. Ich flehte ihn an, mich nicht zu verstümmeln.
Kassel: Alexander Kretschenko hat das überlebt. Viele, die er gesehen hat in diesen Gefängnissen, haben das nicht. Marieluise Beck, wenn man das hört, ist man dann nicht völlig hilflos? Denn diesen Menschen, denen helfen ja irgendwelche langwierigen Verhandlungen in Minsk, Wien, Brüssel, Berlin oder sonst wo nicht.
Der Westen drängt die Ukraine zu Wahlen im Osten des Landes
Beck: Nein, aber es hilft schon das Wissen und die Gewissheit, dass solche Erlebnisse und solche Taten nicht straflos bleiben. Wir haben im Augenblick das Problem, dass solche Erfahrungen im politischen Raum im Westen nicht gern gehört werden, weil man ja im Augenblick darum bemüht ist, den Deckel zuzumachen in der Ukraine. Die Wahlen, die geplant sind, werden geplant, obwohl man wissen kann, dass solche Verhältnisse vor Ort herrschen. Man will es aber lieber nicht wissen.
Kassel: Sie meinen jetzt die Wahlen in den sogenannten Autonomen Gebieten da im Osten.
Beck: Genau. Der Westen, das Normandie-Format, drängen die Regierung in Kiew massiv, ein Wahlgesetz zu machen, damit dort Wahlen stattfinden können. Wahlen, faire und freie Wahlen können nicht stattfinden in einer Region, in der es in diesem Ausmaß Folter, Einschüchterung, Bedrohung, Folterkeller gibt.
Aber es ist Teil von Minsk, und da es eine gewisse Ratlosigkeit gibt, wie mit diesem Krieg im Donbass umgegangen werden soll, sind solche Informationen, die nicht zum ersten Mal an die Öffentlichkeit kommen – es hat zum Beispiel hier in Berlin in den Räumen des Deutschen Bundestages eine Anhörung gegeben mit vielen dieser Nichtregierungsorganisationen, die eben diese Tatsachen berichtet haben, darunter übrigens auch russische, was sehr wichtig ist, weil oft solche Informationen als Propaganda abgetan werden.
Kassel: Nun ist aber auch – entschuldigen Sie bitte –, bei den Informationen, die wir jetzt haben, befindet sich auch eine Liste mit 58 konkreten Namen russischer Staatsbürger, die an diesen Folterungen beteiligt sind, darunter auch Mitglieder des Geheimdienstes FSB. Wie kann man denn da in Minsk und anderswo weiter verhandeln mit einer russischen Regierung, die immer noch behauptet, sie hätte überhaupt nichts zu tun mit den Ereignissen in der Ostukraine?
Beck: Es gibt keine Alternative zur Verhandlung, denn die Alternative wären noch stärkere, muss man sagen, kriegerische Auseinandersetzungen. Es wird ja Krieg geführt im Donbass nach wie vor. Aber Minsk hat eine Situation hergestellt, wo die Kampfhandlungen deutlich reduziert werden, und ich kann Ihnen sagen, ich bin froh um jeden Soldaten, jeden Bürger, der nicht sein Leben verliert.
Die Tatsachen werden nicht offen benannt
Das Problem ist aber, dass es eine Scheu gibt, diese Tatsachen offen zu benennen und zu sagen, bevor das nicht eingestellt ist, kann das, was in Minsk niedergeschrieben worden ist, Verhandlungen und Wahlen zum Beispiel, kann nicht stattfinden.
Es gibt ein zweites Problem: Eine sehr unscharfe Formulierung in den Minsker Vereinbarungen über eine Amnestie. Amnestie bedeutet, dass die Menschen, die diese Taten begehen im Donbass, erwarten, dass sie straflos bleiben werden. Und Straflosigkeit setzt, so ist offenbar das menschliche Wesen und das Böse, das wir in uns haben und haben können, Straflosigkeit setzt diese wahnsinnige Brutalität bei manchen Menschen frei, die sie ungehemmt ausleben können, weil sie nicht erwarten, dass sie jemals zur Rechenschaft gezogen werden. Die Straflosigkeit ist eines der Hauptprobleme. Das erleben wir übrigens in einer anderen Region, in Russland selbst, nämlich in Tschetschenien.
Kassel: Herzlichen Dank! Marieluise Beck war das, sie ist Osteuropaexpertin der Grünen, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestags und im Moment auch Berichterstatterin für die Kriegsverbrechen im Osten der Ukraine im Europarat. Frau Beck, vielen Dank für das Gespräch!
Beck: Ich danke Ihnen, Herr Kassel!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.