Forensische Analyse eines Gewaltvideos aus Afrika

Wie Open Source Investigation funktioniert

12:25 Minuten
Doku "Cameroon: Anatomy of a Killing": Screenshot aus dem Video auf dem offiziellen YouTube-Kanal von BBC Africa
Doku "Cameroon: Anatomy of a Killing": Screenshot aus dem Video auf dem offiziellen YouTube-Kanal von BBC Africa © youtube.com / BBC Africa
Von Azadê Peşmen und Serjoscha Wiemer · 29.09.2018
Audio herunterladen
Im Juli ging ein Gewaltvideo viral: Darin ist genau zu sehen, wie Soldaten Frauen und Kinder umbringen. Wo? Wann? Wer? Das war bis zuletzt umstritten. Open Source-Rechercheure haben inzwischen zusammen mit BBC Africa Details klären können.
Ein Video, das normalerweise von Content-Moderatoren sozialer Netzwerke gelöscht wird: Uniformierte Soldaten treiben zwei Frauen und zwei Kinder durch die Wüste, schlagen sie und sagen: "Du wirst sterben, BH." BH steht für Boko Haram. Am Ende des Videos werden ihre Köpfe verbunden und die Soldaten schießen mehrmals auf die vier Menschen, auch dann noch, als sie schon längst tot sind.

Gewaltszenen in einer wüstenähnlichen Landschaft

Diese gewaltvollen Szenen spielen sich in einer wüstenähnlichen Landschaft ab. Wo genau das Video aufgenommen wurde, ist nicht ganz klar. Einige behaupten, es sei in Mali gefilmt worden, doch die Camouflage-Uniformen, die die Soldaten in dem Video tragen, weisen darauf hin, dass es aus Kamerun stammt. Kurz nach der Veröffentlichung dieses Videos streitet ein Sprecher der kamerunischen Regierung ab, dass das Video aus Kamerun sei und behauptet, es handle sich dabei um Fake News:
"Das Video, das momentan im Umlauf ist, ist nichts anderes als ein unglücklicher Versuch, die Fakten zu verfälschen, und das öffentliche Klima zu vergiften. Der Wahrheitsgehalt dieses Videos kann sicher angezweifelt werden", erklärte Issa Tchiroma Bakary, kamerunischer Kommunikationsminister wenige Tage, nachdem das Video veröffentlicht wurde. Gleichzeitig kündigte er aber an, den Fall aufzuklären.

Fake News oder tatsächliches Verbrechen in Kamerun?

Das taten auch die Open Source Rechercheure Aliaume Leroy und Ben Strick von Bellingcat zusammen mit BBC Africa. Bellingcat ist ein investigatives Recherchenetzwerk, stellt seine Tools für die Verifizierung von Videos und Open Source Recherche öffentlich zur Verfügung und klärt regelmäßig umstrittene Fälle.
Forensische Analyse heißt das Verfahren, also das haarkleine Untersuchen jedes noch so kleinen Details in einem Video. Die Leitfragen sind die gleichen, wie bei jeder anderen journalistischen Recherche auch: Wo? Wann? Wer?

Zusätzliche bildliche Dimension auf dem viralen Video

Die Wüstenlandschaft in dem viral gegangenen Video sieht für Laien womöglich aus, wie jede andere auch, aber die spezielle Form der Bergstruktur in einer der Kameraeinstellungen ist einzigartig und lässt sich mit Satellitenbildern abgleichen. Die Doku von BBC Africa (Vorsicht: Die Gewaltdarstellungen im Video können verstören) bildet die Recherche als zusätzliche bildliche Dimension ab. Und zwar auf dem ursprünglichen viralen Video.
Mit einer roten Linie werden die Umrisse der Berge nachgezeichnet und mit Hilfe von Geolocation, dem Verfahren, das die exakte Position und Verortung eben dieser Berglandschaft feststellt, mit Satellitenbildern abgeglichen. Diese Bilder, aus Vogelperspektive aufgenommen, zeigen auch, wo die Häuser stehen, die in dem viral gegangenen Video auftauchen. Auch die lassen sich zuordnen. All das erlaubt eine genaue Ermittlung des Ortes.
Um die Frage, wann das Video aufgenommen wurde, zu klären, hat das Team der investigativen Journalisten ebenfalls Satellitenbilder aus unterschiedlichen Zeiträumen miteinander verglichen. Außerdem spielen klimatische Bedingungen eine Rolle. Die Schatten im Bild und die Sonneneinstrahlung geben Hinweise auf den Sonnenstand, also in welcher Jahreszeit und in welchem Zeitraum die Tat geschah: zwischen dem 20. März und dem 5. April 2015.

Das Mord-Video wird zum Video seiner Aufklärung

Um zu zeigen, wie diese Ergebnisse zustande kommen, wird das Video, dass die Tötungen zeigt, immer wieder kurz angehalten, an ein bestimmtes Bilddetail herangezoomt, die Berechnung des Sonnenstandes eingezeichnet und erklärt. Das vorhandene Original-Material wird mit den einzelnen Rechercheergebnissen ergänzt. So entsteht eine neue Art von Geschichte: Aus einem Mord-Video wird das Video seiner Aufklärung.
Mit forensischer Analyse lässt sich auch bestimmen, wer am Ende des Videos geschossen hat: Die Umrisse der Waffe erlauben eine Ermittlung des Modells. Und auch, dass das kamerunische Militär diese Art von Waffen nutzt, geht aus dem Vergleich mit einem anderen Video mit kamerunischen Soldaten hervor. Da die Täter selbst zum Teil ihre Namen bzw. Spitznamen nennen, lassen sich auch diese identifizieren, über soziale Netzwerke zum Beispiel.

Hilfe von Augenzeugen und Wissenschaftlern

Wer mit forensischer Analyse arbeitet, ist aber auch auf Augenzeugenberichte angewiesen und auf Bürger mit Lokalkentnissen, die entscheidende Hinweise geben können. Auch wenn Methoden wie Geolocation sehr hilfreich sind. Journalisten, die mit diesen Methoden arbeiten, sind nicht nur auf unterstützende Kollegen angewiesen, sondern auch auf Wissenschaftler, die Zugang zu den, meist teuren, Satellitenbildern haben. Die sind nämlich - anders als einige andere der Recherchewerkzeuge - nicht frei zugänglich.

Wie verändern Vorgehensweisen wie diese den Journalismus? Ein Gespräch mit dem Medienwissenschaftler Serjoscha Wiemer von der Universität in Paderborn über die Besonderheiten der Open Source Investigation und der forensischen Analyse.

Serjoscha Wiemer: Ich würde sagen, man kann das schon versuchen einzuordnen in so eine bestimmte Bild-Argumentationsstrategie, vielleicht auch von Bild-Journalismus und da ist es in dem Fall vielleicht nicht wirklich etwas Neues. Aber in der Gesamtbewegung schon etwas Neues. Das ist sehr avanciert, wie dort visuell argumentiert wird, weil man ja den Original-Clip quasi vollständig sieht, aber durch diese zusätzlichen Ebenen oder auch durch so was wie Splitscreen-Bilder, wo man links oder rechts Material sieht, was noch zusätzliche Informationen gibt - wo ja die Aussage vollkommen verändert wird und wieder Bilder sich selber kommentieren und ihre Funktion dadurch ändern. Das ist schon sehr avanciert. Es funktioniert fast auch ohne den Ton, das ist das Interessante auch.
Tim Wiese: Inwiefern wird die Aussage verändert Ihrer Meinung nach?
Serjoscha Wiemer: In dem Zusammenhang dieser journalistischen Arbeit wird das zu einem Zeugenschafts-Dokument, zu einer Art Beweismittel für den Mord und wahrscheinlich sogar gerichtlich verwertbar gegen die Täter. Und das ist ja eine ganz neue Drehung: Dieses Video ist ja nicht intendiert als Zeugenschafts-Video für ein Verbrechen, sondern wahrscheinlich aus einem anderen Grund gefilmt worden. Die ursprüngliche Bedeutung "nur" einen Mord zu zeigen, die wird verändert. Es wird Zeugenschaft für ein Verbrechen und dieses Verbrechen wird benannt.
Teresa Sickert: Das ist ja auch eine Kooperation aus Journalisten und Aktivisten. Sehen Sie denn auch so eine Verschiebung wenn es darum geht: Aufklärend über völkerrechtliche Verbrechen oder auch Menschenrechtsverletzungen, und so vorzugehen also hin zum Journalismus - weg von anderen Institutionen?
Serjoscha Wiemer: Das ist nicht unbedingt eine Verschiebung, das gibt es vielleicht schon öfter. Interessant finde ich von der Form her, die dieses Video hat, dass man da erkennen kann, dass die Journalisten auch Techniken aufgreifen, die eigentlich aus dem Video-Aktivismus, dem Menschenrechtsaktivismus oder auch aus dem Bürgerjournalismus kommen. Weil in diesen Bereichen bei Video-Aktivismus dieser Einsatz von Videos als Momente von Zeugenschaft auch um so etwas wie Verbrechen und Ungerechtigkeiten aufzudecken und dann auch zu bekämpfen, - weil das mit aufgenommen wird in diese Technik, wie dieses Video bearbeitet wird.
Teresa Sickert: Glauben Sie denn diese Vorgehensweisen verändern die Form des Journalismus? Auf der einen Seite geht es darum, Sachen transparent zu machen, aber gleichzeitig zeigt sich das Ganze auch sehr selbstreferenziell. Was glauben Sie, warum macht man das?
Serjoscha Wiemer: Die Bilder beglaubigen und kommentieren sich gegenseitig in diesem Video. Also dieses Originalmaterial und dann das zusätzlich recherchierte Informationsmaterial wie Satellitenkarten und Analysen von Sonnenständen und ähnliches - das gibt eine neue Qualität, weil den Bildern wieder so etwas wie Beweiskraft zugetraut wird. Man ist ja gegenwärtig durch diese Fülle an Bildern und Informationen gerade durch die Netzmedien nicht sicher, welchen Bildern zum Beispiel man trauen kann. Es gibt so etwas wie eine Erosion der Glaubwürdigkeit von Bildern. Und diese Art von visueller Strategie, die man in dieser Arbeit sehen kann, in dieser Form von Videojournalismus, diese Form von visueller Argumentationsstrategie, die arbeitet dagegen, die wertet diese Bilder wieder auf und das, glaube ich, ist sozusagen eine neue Form vielleicht auch von journalistischer Argumentation.
Tim Wiese: Also die Stärkung von Glaubwürdigkeit. Auf der anderen Seite sehen wir ja auch eine Fokusverschiebung, wenn wir eben beobachten wie die Journalisten gearbeitet haben und da erklärt wird. Lenkt das nicht letztlich aber auch vom Schicksal der Frauen ab, was da im Hintergrund einfach nur noch somit durchläuft?
Serjoscha Wiemer: In dem Fall ist das vielleicht eine Schwäche dieses Videos. Es wird sehr viel Aufmerksamkeit darauf verwendet zu erklären, wie diese Bilder beglaubigt werden, wie sie ihren Wahrheits- und ihren Aussagewert bekommen. Und dabei geht es auch selbstreflexiv um das, was die Journalisten und die investigativen Datenjournalisten im Hintergrund getan haben. Und dadurch tritt die eigentliche Geschichte vielleicht zurück. Es geht nämlich auch um die Opfer, die dort ermordet worden sind. Die bekommen weniger Aufmerksamkeit als zum Beispiel Satellitenbilder.
Teresa Sickert: Gleichzeitig kann ja genau diese Recherche auch einen positiven Effekt haben. Sie haben auch die Werkzeuge schon angesprochen, also gerade dadurch, dass es auch diese Kooperation mit den Open-Source-Aktivisten gab, die diverse Online-Investigation-Werkzeuge benutzt haben, könnte man das auch als eine Art Appell verstehen zum Selbermachen. Also auch andere Menschen können und sollen vielleicht sogar zu Rechercheuren werden und Fakten finden. Was halten Sie davon?
Serjoscha Wiemer: Ich finde es erst mal eine ganz wunderbare Entwicklung, dass zusätzlich zu den journalistischen Artikeln Hinweise gegeben werden: "Wie kann man denn recherchieren im Netz" - so dass man zum Beispiel selber einen Faktencheck machen kann. Es ist toll, dass es das auch in den Medien als Angebot gibt. Journalisten werden zu Faktencheckern. Aber diese Art von Video weist auf die Werkzeuge hin, mit denen ich selber Fakten checken kann. Und daran gibt es einerseits so etwas wie einen Appell, glaube ich auch an Bürger, sich selber zuzutrauen, Fakten zu checken. Ich glaube aber wichtiger ist in diesem Zusammenhang dieses Videos auch die Situation in Ländern in Afrika, in denen es nicht so eine journalistische Infrastruktur gibt wie hier und in der dann so etwas wie ein Bürgerjournalismus eine ganz andere Rolle hat.
Tim Wiese: Und wenn wir nochmal auf die Arbeit der Journalisten selbst gucken, sehen wir da auch gewissermaßen eine Schwerpunktverschiebung? In dem Fall ist ja keine Vor-Ort- Recherche erfolgt, sondern man wertet vorhandenes Material mit Hilfe einer Crowd über das Netz aus.
Serjoscha Wiemer: Ich glaube nicht, dass es eine Verschiebung sein muss in dem Sinne, dass deswegen andere Formen von Journalismus weniger eine Rolle spielen. Es ist eine Form von Datenjournalismus, gepaart mit Netz- und investigativem Journalismus. Das ist eine neue Form und ich kann mir vorstellen, dass, was Sie auch angedeutet haben, es im Vergleich mit klassisch-investigativem Journalismus eine Form von Journalismus ist, die sehr kostengünstig sein kann. Alle investigativen Tools können mehr oder weniger von der Couch zu Hause, auf der man mit dem Laptop sitzt, erledigt werden. Das heißt, teure Recherchen vor Ort entfallen bei dieser Art von Journalismus. Da muss man aufpassen. Die Journalisten sind sich dessen selbst sehr bewusst, dass das kein Ersatz ist, zum Beispiel in Kamerun mit Menschen vor Ort zu sprechen und vor Ort zu recherchieren.
Mehr zum Thema