Forschung

Die Sprache des Dschungels

Aufgenommen am 10.12.2013 in Brasilien.
Blick auf den Zusammenfluss der Flüsse Rio Negro (links) und Solimoes zum Amazonas © picture alliance / dpa / Marcus Brandt
Von Tobias Wenzel |
Eigentlich wollte Daniel Everett in den 70er-Jahren die Pirahã-Indianer am Amazonas zum Christentum missionieren. Stattdessen begann er, ihre Kultur zu erforschen - und entdeckte eine Sprache, die Wissenschaftler verblüfft.
Sein Kollege Gisbert Fanselow habe ihm gesagt, irgendwann werde sowieso jeder den Raum verlassen, sagte wiederum der US-amerikanische Sprachwissenschaftler Daniel Everett am Dienstagnachmittag im vollen Hörsaal 47 der Universität Potsdam. Deshalb wolle er lieber seinen Vortrag rechtzeitig beenden. Dann könne jeder Fragen stellen oder ihn auch beschimpfen.
Daniel Everett sagte das halb im Scherz, halb im Ernst. Seit er die außergewöhnliche Sprache der in Brasiliens Amazonas-Gebiet lebenden Pirahã untersucht hat und die These vertritt, dass die Sprache vor allem ein kulturelles Phänomen ist und gerade nicht ein angeborenes, wie es sein Kollege Noam Chomsky seit Jahrzehnten behauptet, ist Everett von Wissenschaftlern beschimpft, ein Lügner und von Chomsky selbst ein Scharlatan genannt worden.
Als Lügner und Scharlatan beschimpft
Abfällig klang wiederum, was da aus Everetts Mund kam, als er kurz vor seinem Vortrag ein Interview in einem Büro des Uni-Gebäudes gab. Dabei wollte er nur stolz jenen Laut präsentieren, auf den er im Amazonas-Gebiet gestoßen war:
"Aber nach einem Vokal klingt es so ... - Es ist ein T-Laut, gefolgt von einem stimmlosen bilabialen Vibranten. Man findet den Laut in Wörtern wie ... - Das bedeutet: Einen Fluss auf Baumstämmen überqueren, die über den Fluss gefallen sind. Ein sehr komisches Verb."
1977 ging Daniel Everett mit seiner Frau und den gemeinsamen Kindern in den brasilianischen Dschungel, um den Stamm der Pirahã vom Christentum zu überzeugen. Sie erlernten ihre gleichnamige Sprache und übersetzten Teile der Bibel. Doch das Missionieren verlief in die andere Richtung. Daniel Everett war so fasziniert von den Pirahã, dass er letztlich seinen eigenen Glauben verlor und Atheist wurde. Unter anderem, weil dieses Volk nur glaubt, was es mit eigenen Augen gesehen hat. An einen Gott zu glauben – für diese Menschen unvorstellbar:
"Der wichtigste Grund war aber ihre Lebensqualität. Zwar haben sie Probleme: Ihre jungen Kindern sterben manchmal, sie müssen mit Krankheit umgehen, sich Nahrung beschaffen. Aber sie strahlten eine tiefe Zufriedenheit aus, im Gegensatz auch zu anderen Gruppen im Amazonas-Gebiet. Ihr Glück, ihre Zufriedenheit, die Abwesenheit von Zukunftsangst oder von Sorgen, die mit der Vergangenheit zusammenhingen, fand ich sehr anziehend. Genau das sollte ja angeblich das Christentum auslösen. Aber ich kannte keinen einzigen Christen, mich eingeschlossen, der das alles so sehr hatte wie die Pirahã."
Keine Wörter für Farben und Zahlen, keine Verschachtelung
Durch die Pirahã wurde Everett aber auch zum leidenschaftlichen Sprachwissenschaftler. Denn in dieser Sprache gibt es erstaunlicherweise keine Wörter für Farben und keine für Zahlen. Und: Es gibt zum Beispiel keine matrjoschkaartig verschachtelten Sätze wie "Hans sagt, dass Gerda sagt, dass Jürgen sagt, dass" und so weiter. Von diesem Rekursion genannten Phänomen hatte Noam Chomsky jedoch behauptet, es sei das grundlegende Phänomen der Sprache überhaupt. Und diese Sprachfähigkeit sei angeboren.
Wenn Everetts Beobachtung und Deutung richtig sind, dann ist Chomskys Theorie nicht mehr haltbar. Als Everett seiner Familie gestand, dass er nicht mehr an Gott glaube, wandte sie sich von ihm ab. Als er behauptete, Chomskys Theorie widerlegt zu haben, brach Chomsky den Kontakt zu ihm ab. Genauso wie viele seiner Anhänger. Das hat schon geradezu religiöse Züge:
"Es gibt tatsächlich eine starke Neigung dazu in einigen Bereichen der Wissenschaft, und ich habe das in der Sprachwissenschaft beobachtet. Als ich mit dem führenden Phonetiker Peter Ladefoged zusammengearbeitet habe, standen wir manchmal an dem Punkt: Wenn das jetzt stimmt, dann hat Peter Ladefoged unrecht. In solchen Fällen hat er sich gefreut: 'Toll, ich lag falsch, jetzt habe ich etwas Neues gelernt! Ich mag es so sehr, falsch zu liegen!' Diese Haltung trifft man aber nicht oft an. Oft ist es so: Wenn jemand eine Behauptung aufgestellt hat, dann fällt es schwer, sie anzufechten. Chomsky hat eine so starke Stellung innerhalb der Sprachwissenschaft, wie sie niemand sonst hatte, nicht einmal Einstein in der Physik."
Namhafte Forscher auf seiner Seite
Da hat es, so seriös er auch forscht, ein Daniel Everett, der Ex-Missionar, der gerade ein Opernlibretto geschrieben hat, schwer in diesem Betrieb der eingeschworenen Sprachwissenschaftler. Und doch haben sich mittlerweile schon namhafte Forscher auf seine Seite gestellt und seine Interpretation gestützt.
Auch bei seinem Vortrag in Potsdam wurde Everett wohlwollend bis fasziniert zugehört. Besonders, als es um die verschiedenen Arten ging, in denen die Pirahã sprechen. Everett spielte Tonaufnahmen von jenem Sprechgesang vor, den der Stamm der Pirahã aus Spaß aufführt. Dafür schlüpfen sie in eine Art komödiantischer Theaterrolle, legen die Kleider ab und nennen sich und ihr Sprechen Kaoáíbógí:
"Ein Reporter vom Geo-Magazin aus Hamburg war mit mir zusammen im Dorf. Er meinte: Ich will einen dieser Kaoáíbógís sehen. Da habe ich einem Pirahã gesagt: Der Reporter möchte einen Kaoáíbógí sehen. Da hat er geantwortet: Dann sehe ich mal nach, ob gerade einer in der Nähe ist. Er ist also im Dschungel verschwunden und kam kurz darauf zurück, und zwar nackt. Und er sprach mit dieser komischen Stimme, bewegte sich sehr komisch und betatschte schließlich den Reporter am ganzen Körper. Da meinte der Reporter zu mir: 'Das wird mir jetzt aber unangenehm!' Und ich: 'Sie wollten doch einen von ihnen sehen! Sie brechen ganz bewusst kulturelle Normen. Das ist doch vergleichbar mit unseren Comedians.'"

Daniel L. Everett: Das glücklichste Volk. Sieben Jahre bei den Pirahã-Indianern am Amazonas
Aus dem Englischen von Sebastian Vogel
DVA, München 2010
416 Seiten, 16,99 Euro

Daniel L. Everett: Die größte Erfindung der Menschheit. Was mich meine Jahre am Amazonas über das Wesen der Sprache gelehrt haben
Übersetzt von Harald Stadler
DVA, München 2013
464 Seiten, 24,99 Euro