Zurückgezogene Forschungen

Warum fehlerhafte Studien oft die meiste Aufmerksamkeit bekommen

06:34 Minuten
Atemschutzmaske mit dem Gesicht des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump
Viele Studien wurden überhaupt erst zurückgezogen, weil sie so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten, haben Forscher herausgefunden. © imago images/Müller-Stauffenberg
Von Piotr Heller · 21.07.2022
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Können Sie sich noch an den Hype um das Malaria-Medikament erinnern, das Donald Trump als Wundermittel gegen Covid gepriesen hat? Eine einflussreiche Studie widersprach der Einschätzung. Dass sie später zurückgezogen wurde, hat kaum jemanden interessiert.
Wissenschaftliche Studien werden vor ihrer Veröffentlichung zwar minutiös geprüft, doch auch da rutscht mal was durch. Darum werden auch mal fehlerhafte oder gar absichtlich manipulierte Forschungsergebnisse veröffentlicht. Fliegt so etwas auf, kann die Studie offiziell zurückgezogen werden. Man spricht dann von einer „Retraction“.
„Retractions sind ein Weg, wie wir in der akademischen Welt unser Wissen auf dem neuesten Stand halten“, sagt Daniel Romero, Experte für soziale Netze von der University of Michigan.

Studien als Grundlage für politische Entscheidungen

Abseits der akademischen Sphäre landen Studienergebnisse in Zeitungen, dienen als Grundlage für politische Entscheidungen oder als Argumente bei Twitter-Disputen. Daniel Romero hat sich also gefragt: „Haben die Retractions auch Auswirkungen auf diese öffentliche Debatte?“
Das wollten er, sein Kollege Hao Peng und die Kommunikationsforscherin Emőke-Ágnes Horvát von der Nothwestern University klären. Ihre Studie dazu ist jüngst im Magazin PNAS erschienen. Die Forscher haben sich knapp 4000 wissenschaftliche Publikationen angeschaut, die irgendwann zurückgezogen wurden. Dabei analysierten sie, wie viel Aufmerksamkeit diese Arbeiten in sozialen oder klassischen Medien bekamen.
„Darauf hatten die Retractions kaum einen Effekt. Denn wenn eine Retraction kommt, ist die Aufmerksamkeit ohnehin schon abgeebbt. Die Öffentlichkeit interessiert sich dann nicht mehr für die Studie“, sagt Daniel Romero.

Falsche Ergebnisse erhalten viel Aufmerksamkeit

Hinzu kommt: Die später zurückgezogenen Studien wurden im Schnitt etwa doppelt so häufig in Zeitungen oder auf Twitter erwähnt wie Studien, die nicht zurückgezogen wurden. Das Problem ist also: Falsche Studienergebnisse erhalten extrem viel Aufmerksamkeit und tragen so zur Meinungsbildung bei. Sobald sie dann offiziell zurückgezogen werden, diskutiert keiner mehr über sie. Im schlimmsten Fall bleiben die falschen Ergebnisse hängen.

Um das Malaria-Medikament Hydroxychloroquin gab es einen regelrechten Hype. Donald Trump hatte es zu Beginn der Pandemie als Wundermittel gegen Covid gepriesen hat. Dann erschien eine Studie im renommierten Journal "The Lancet", die der Einschätzung des damaligen US-Präsidenten widersprach: Hydroxychloroquin könne für Covid-Patienten gar eine tödliche Gefahr sein, so das Ergebnis. Tests mit dem Medikament wurden unterbrochen. Woran sich vielleicht kaum jemand erinnert: Diese Studie wurde später zurückgezogen. Die Datenquellen hatten sich als fragwürdig entpuppt, ließen sich nicht prüfen.

Diese Analyse hat jedoch eine Einschränkung: Die Forscher wissen nicht, warum die später zurückgezogenen Studien so viel Aufmerksamkeit bekamen. Kann sein, dass hier aufgrund wissenschaftlicher Fehler steile Thesen entstanden sind.

Oft führt Aufmerksamkeit erst zur Überprüfung

Wahrscheinlicher ist aber eine andere Erklärung, sagt Emőke-Ágnes Horvát: Die Studien wurden überhaupt erst zurückgezogen, weil sie so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten.
„Das ist uns im Nachhinein klargeworden: Aufmerksamkeit führt dazu, dass die Paper genau untersucht werden. So war es dann wohl in vielen Fällen einfach die Aufmerksamkeit, die überhaupt erst zu den Retractions geführt hat.“
Denn nur da wo viele hingucken, kann man auch Probleme finden. Trotz dieser Einschränkungen schlussfolgert sie: „Die Retractions sollten zeitnah passieren, wenn sie noch Einfluss auf die problematische öffentliche Debatte haben können.“

Viel diskutierte Studien schneller prüfen?

Denn tatsächlich dauert es im Mittel knapp 500 Tage, bis eine Studie zurückgezogen wird. Die Forscher haben eine Möglichkeit gefunden, die potenziell fehlerhaften Arbeiten früher zu identifizieren: Sie konnten zeigen, dass die später zurückgezogenen Studien auf Twitter kritischer diskutiert wurden.
“Die Fachjournale haben eine große Verantwortung. Sie sollten die Aufmerksamkeit, die ihre Publikationen auf sich ziehen, beobachten. Und wenn da etwas Merkwürdiges auffällt, sollten sie sie genauer untersuchen“, sagt Emőke-Ágnes Horvát.
Eine Analyse der sozialen Medien könnte die Retractions beschleunigen. Die Details einer solchen Prüfung müssten noch erarbeitet werden.
Wissenschaftliche Qualität braucht Zeit 
Doch alleine die Idee stößt bereits auf Kritik: „Da müssten schon ein paar Alarmglocken losgehen, wenn die Autoren darüber nachdenken, dass der Publikationsbetrieb schneller gehen soll und dass das die Lösung von Qualitätsproblemen ist.“
Das gibt Martin Reinhart von der Humboldt-Universität Berlin zu bedenken. Er erforscht den Wissenschaftsbetrieb an sich und war an der Studie aus den USA nicht beteiligt. Die Erkenntnis, dass das öffentliche Interesse an zurückgezogenen Studien schon vor der Retraction abebbt, hält er gar nicht für problematisch.
„Ich würde es erst mal einfach nur sehen als Bestätigung dafür, dass das wissenschaftliche Kommunikationssystem einen anderen Zeitverlauf, andere Bedürfnisse hat, wie man mit Wissensbehauptungen im Zeitverlauf umgeht. Eine Retraction ist keine kleine Sache. Eine formal publizierte wissenschaftliche Studie zurückzuziehen, ist ein folgenreicher Akt für die beteiligten Autoren.“
Sagt er und fügt hinzu: „Und dass das keinem Nachrichten-Zyklus folgt und nicht den Bedürfnissen einer öffentlichen Debatte – das finde ich sehr leicht zu argumentieren.“

Fakten entstehen selten durch einzelne Studien

Die Forschung könne damit umgehen, dass manche Studien falsch sein, „weil sie eben nicht ein einzelnes Papier für einen bestätigten Fakt hält, sondern weil ein Fakt dadurch entsteht, dass ganz viele Studien gemacht werden und sich ein Forschungsfeld eben einigt darauf, dass ein Phänomen stabil bestätigt wurde.“
Vielleicht liegt hierin die Lösung für das Problem, das die Autoren der Studie aus den USA sehen: Die breite Öffentlichkeit müsste Forschungsergebnissen mit der nötigen Skepsis begegnen; sie dürfte sich keine Studien herauspicken und deren Ergebnisse als die in Stein gemeißelte Wahrheit von „#TeamWissenschaft“ ansehen. In den Debatten einer solchen Öffentlichkeit würden falsche Ergebnisse aus Studien, die später zurückgezogen werden, kaum Schaden anrichten.

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