Publikationsflut beeinflusst wissenschaftlichen Fortschritt
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Tausende Studien zu Corona sind schon erschienen: Der Forschungsdrang im Eiltempo ist nachvollziehbar – hat aber auch politische und wirtschaftliche Gründe. Und die Masse an Publikationen hat wiederum problematische Folgen für die Wissenschaft.
Für Donald Trump war es vermutlich nur ein weiterer provokanter Auftritt. Mitte Mai erklärte der US-Präsident öffentlich: Er nehme ein Anti-Malaria-Medikament gegen eine Infektion mit dem neuen Corona-Virus. Vorbeugend.
Für die internationale Wissenschafts-Community steht der Streit um Hydroxychloroquin allerdings für einen der ersten Eklats im Rahmen der Forschung zu Sars-CoV-2 und Covid-19.
Ende Mai erschienen in der angesehenen Fachzeitschrift "The Lancet" Studienergebnisse, wonach Chloroquin und Hydroxychloroquin vermutlich nicht zur Therapie bei einer Sars-CoV-2-Infektion geeignet seien. Dass die Mittel, im Gegenteil, die Todesrate sogar vermutlich erhöhen. Daraufhin widerrief die Weltgesundheitsorganisation die Ausnahmegenehmigung für Therapien. Anfang Juni allerdings zog "The Lancet" die Studie zurück: Es gab Zweifel an der Qualität der Daten.
"Es ist natürlich auch so", sagt Moritz Petzold, "dass gerade in so einer Situation, wo nicht viel Wissen vorhanden ist, jedem Forscher klar ist, dass Wissensgenerierung kleinteilig ist und es heute so aussehen kann und morgen, mit einer besseren Datenlage, genau umgekehrt."
Ein Appell an die Forschenden
Für Moritz Petzold von der Charité Berlin war der Fall dennoch ein Alarmsignal. Zusammen mit anderen Autoren appellierte er in einem Fachartikel an Forschende, nur noch Arbeiten zu Sars-CoV-2 und Covid-19 zu veröffentlichen, die erste Prüfverfahren durchlaufen haben und wirklich neue Erkenntnisse vorstellen.
"Wenn zu schnell zu breit kommuniziert wird", erklärt er, "gibt es da teilweise bei Menschen, die sich wenig mit Wissenschaft beschäftigen, auch große Enttäuschungen, die dann auf so eine Idee kommen: Ja, es hieß aber vor vier Wochen noch genau das Gegenteil, und ich glaube der Wissenschaft jetzt gar nicht mehr."
Natürlich, sagt Moritz Petzold: Es gibt einen enormen Druck, schnell Erkenntnisse zu liefern – gerade bei einer Pandemie wie der jetzigen. Von der Bevölkerung, der Politik und der Wissenschaft. Dass Studien zu einem völlig neuen Forschungsthema zunächst vor allem Fallstudien sind, dass sie nur auf wenig Daten basieren können, auch das sei klar – und es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sie in den großen Fach-Journalen veröffentlicht wurden, nach wie vor die härteste Währung für wissenschaftliche Reputation.
Aber: "Es haben dann einfach manche Forscher gesehen, dass die ersten, sehr simplen Arbeiten sehr hochrangig publiziert wurden", sagt Moritz Petzold. "Sodass dann die nächste Phase kam, dass sich international sehr viele Forscher auch auf dieses Thema gesetzt und dann irgendwie versucht haben, möglichst schnell irgendwelche Daten zu generieren. Und es dann zu einer Schwemme von sehr vielen Manuskripten kam, wo nicht mehr so einfach zu beurteilen war, wie hochwertig die methodische Qualität dabei ist."
Schon mehr als 20.000 Studien erfasst
"Es gibt ein Register, das Studien zu Covid erfasst. Und da sind im Moment etwas mehr als 20.000 Studien schon erfasst worden", sagt Jörg Meerpohl.
In Deutschland gehört Professor Jörg Meerpohl zu den Experten, die Studien zum neuen Coronavirus sichten und bewerten. Er ist Leiter des Instituts für Evidenz in der Medizin an der Universität Freiburg und Direktor von Cochrane Deutschland. Das unabhängige Netzwerk bewertet die Qualität medizinischer Forschungsergebnisse.
"Nur mal als Vergleich", sagt er. "Ich habe früher als Kinderarzt und pädiatrischer Onkologe an einer angeborenen Knochenmarkerkrankung gearbeitet. Da habe ich die erste Publikation 1946 gefunden und seitdem sind einige dazu gekommen, aber das sind immer noch weniger als 1000! Also das zeigt, glaube ich, die Dynamik, die wir im Fall von Covid im Moment sehen."
Es gebe derzeit viele Übersichtsarbeiten und Meinungsstücke – auch viele kleine Studien und Fallserien, die ohne eine Vergleichsgruppe durchgeführt wurden. Die Ergebnisse seien deshalb aber nicht unbedingt schlechter als üblich, sagt Jörg Meerpohl.
"Trotzdem ist es natürlich so, dass unter Zeitdruck leichter Fehler passieren oder auch an der einen oder anderen Stelle aus pragmatischen Gründen Abläufe gewählt werden, die man, wenn man mehr Zeit hätte, vielleicht anders definieren würde", erklärt er.
Langwierige Prozeduren werden extrem verkürzt
Üblicherweise langwierige Prozeduren, die sichere Impfstoffe gewährleisten, werden extrem verkürzt. Zwischenergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen in den Fernsehnachrichten vorgestellt.
Unzählige Forschungsarbeiten werden auf Preprint-Servern veröffentlicht, wo sie – ohne Qualitätskontrolle durch die Wissenschaftsgemeinschaft – auch Laien lesen können. Nicht selten werden diese Zwischenergebnisse in sozialen Medien als wissenschaftlich harte Fakten gehandelt.
Der in der Wissenschaft übliche Druck, möglichst viel und möglichst hochrangig zu publizieren, trifft in der Coronakrise zusammen mit dem Wunsch von Politik und Wirtschaft, möglichst früh verwertbare Forschungsergebnisse vorliegen zu haben. Diese Mischung – so warnten schon im Mai britische Bio-Ethiker im Magazin "Science" – führe dazu, dass wissenschaftliche Standards aufgeweicht werden.
Auch Cochrane Deutschland hat bei der Evaluation der Studien auf Erscheinungstempo und schiere Masse reagieren müssen, sagt Jörg Meerpohl. Gestiegen sei etwa die Zahl der "Rapid Reviews", Übersichten über Evidenz, die schneller erstellt werden können, weil Teile der Prüfverfahren übersprungen werden.
Weniger kritisch aber werde deshalb nicht geprüft: "Das kann ich verneinen. Die Qualitätskriterien, die wir an die Studien anlegen, sind die gleichen. Wir nutzen sie trotzdem, die Studien, aber wir würden auch zu der Einschätzung kommen, dass hier gewisse Risiken, Verzerrungsrisiken vorliegen."
Masse behindert den Erkenntnisfortschritt
Allerdings, so Moritz Petzold: Auch wenn strenge Kontrollverfahren für Veröffentlichungen bestehen und minderwertige Studien am Ende entdeckt werden, leidet der Erkenntnisfortschritt. Die Arbeiten binden Ressourcen – in der Forschung und im Prüfprozess.
"Dadurch, dass viele Studien eingereicht wurden, haben die kaum noch Reviewer gefunden für die Paper", erklärt er. "Was dann wiederum dazu führt, dass dann so ein Flaschenhals entsteht und Studien jeglicher methodischer Qualität bei den Journals hängen: Weil es länger dauert, Reviewer zu finden als unter normalen Umständen. Und deswegen behindern nicht so hochwertige Studien trotzdem den Prozess, selbst wenn die gar nicht veröffentlicht werden."
Die Lösung ist einfach aber altmodisch: Gründlichkeit und – Geduld.