Wissenschaftliches Arbeiten in Zeiten von Corona
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Das Interesse an neuesten Erkenntnissen über das Coronavirus ist riesig. Studien werden jetzt ungewöhnlich schnell veröffentlicht: auf Preprint-Servern oder den Homepages wissenschaftlicher Journale. Wie hoch ist die Qualität der Publikationen?
Zurzeit hat Claudia Traidl-Hoffmann kaum eine freie Minute übrig.
"Der Druck ist enorm", sagt sie. "Wie viele Publikationen ich jetzt auch schon mitgeschrieben habe, wo es darum geht, zum Beispiel spezielle Dinge für Allergiker zu entwickeln. Da schreibe ich jetzt schon an der zweiten Publikation mit."
Claudia Traidl-Hoffmann betreut Patientinnen und Patienten am Universitätskrankenhaus in Augsburg. Gerade wertet sie zusammen mit ihrem Team Umweltdaten über die Verbreitung von Pollen und Schadstoffen aus. So will sie mehr darüber lernen, warum sich das Coronavirus in gewissen Regionen besonders stark ausbreitet.
Rasante Geschwindigkeit bei der Publikation
Die Erkenntnisse können daher gar nicht schnell genug gewonnen werden - das Gefühl hat die Umweltmedizinerin aber nicht nur in Bezug auf ihre eigene Forschung.
"Auf der anderen Seite sieht man natürlich auch, dass Publikationen sehr, sehr schnell rauskommen und die Journale haben sich auch völlig geändert", erzählt sie. "Es ist zum Teil so, dass wenn Publikationen nur eingereicht sind, dann sieht man die zum Teil schon auf der Homepage von dem Journal - wenn es sich um Corona handelt."
Mehr noch, sagt Serge Horbach: "Man kann gerade dabei zusehen, wie täglich neue Studien aufpoppen, ja alle paar Minuten sogar. Die Wissenschaft bewegt sich gerade mit einem immensen Tempo."
Warum das so ist, erforscht der Mathematiker von der Radboud University in den Niederlanden. Er hat sich auf die Veröffentlichungspraktiken von wissenschaftlichen Publikationen spezialisiert. Seine aktuelle Studie zeigt: Die meisten Journale veröffentlichen Studien im Vergleich zu vor ein bis eineinhalb Jahren momentan fast doppelt so schnell. Allerdings nur, wenn es um Covid-19-Forschung geht.
Sorge um Einhaltung der Qualitätskriterien
"Dass diese Prozesse jetzt in wenigen Tagen passieren, das lässt schon die Frage aufkommen, ob die Qualitätskriterien, die normalerweise für die Forschung gelten, jetzt gerade noch weiter eingehalten werden, auch in der aktuellen Krise", sagt Serge Horbach.
Normalerweise wird die Forschung vor der Veröffentlichung in den Fachjournalen idealerweise gründlich geprüft. Normalerweise. Gerade ist alles anders. So wurde auch die Studie von Serge Horbach selbst nur auf einem Preprint-Server veröffentlicht.
Das heißt, lediglich direkte Kolleginnen und Kollegen haben seine Arbeit begutachtet und kritische Anmerkungen gegeben. Geteilt hat er seine Ergebnisse dennoch, ermutigt durch den Herausgeber eines Fachjournals.
"Wir waren uns beide darüber einig, dass dieses Wissen wirklich als ein Warnsignal funktionieren kann - für die Journale, aber auch für Wissenschaftler und Journalisten", erklärt er.
Begutachtung findet im Nachgang statt
Viele Forschende teilen ihre Daten mit der Welt gerade verstärkt auf Preprint-Servern. Dort können Kolleginnen und Kollegen die dann bereits veröffentlichte Studie kommentieren - die Begutachtung durch die Fachwelt findet also im Nachgang statt.
In Krisenzeiten vereinfacht das die Zusammenarbeit und hilft natürlich auch dabei, dass die Daten viel schneller verfügbar sind. Allerdings stellt sich jetzt heraus, dass einige von diesen Studien Qualitätsprobleme haben.
"Und dann mit denen, die qualitativ hochwertig sind, vermischt werden", erklärt Ulrich Dirnagl. "Dann wird es sehr schwierig, nicht nur für Laien, sondern auch für Experten in diesem Wald noch die Bäume zu sehen – von dem, was da drin entsteht."
Eine gute Studie folgt immer bestimmten Regeln
Ulrich Dirnagl ist Gründungsdirektor von QUEST, dem "Center for Transforming Biomedical Research" am "Berlin Institute of Health". Dort schaut er, wie sich Forschung verbessern lässt. Der Neurologe betont, dass eine gute Studie immer bestimmten Regeln folgt.
"Dazu zählen zum Beispiel so Dinge wie, dass sie kontrolliert ist", sagt er. "Kontrolliert heißt an der Stelle, dass sie eben eine Kontrollgruppe enthält. Dazu gehört aber natürlich auch, dass sie verblindet ist, dass sie randomisiert ist, das sie genügend groß ist, um eine vernünftige Aussage zu machen."
Zurzeit beobachtet Ulrich Dirnagl, dass diese Standards bei Studien nicht immer eingehalten werden, selbst wenn sie für angesehene Journale bestimmt sind. Dabei sollte gerade die Veröffentlichung in einem angesehenen Journal für Seriosität stehen.
Unsaubere Studien sollten nicht in die Öffentlichkeit
Die ursprüngliche Idee dahinter: Unabhängige Gutachter prüfen die Studien gründlich, geben Feedback und verhindern so, dass unsaubere Studien mit zweifelhaften Ergebnissen überhaupt in Medien und der breiten Öffentlichkeit verteilt werden.
Das Problem besteht auch nicht erst seit Covid-19, betont Ivan Oransky. Er ist Mitbegründer von "Retraction Watch" - ein Blog, der über zurückgezogene Studien berichtet.
"Wenn Sie mich fragen, was sich bei Retraction Watch verändert hat, dann ist das ehrlich gesagt nicht viel. Ich denke, eines der Missverständnisse ist, dass gerade mehr schlechte Studien veröffentlicht werden. Das ist auf keinen Fall wahr."
Bislang wurden sieben bereits veröffentlichte Studien zu Covid-19 wieder zurückgezogen. In normalen Zeiten sind es rund 1500 Studien und es sollte noch sehr viel mehr sein, fordert Ivan Oransky. Die Kerndebatte: Forscher müssen veröffentlichen.
"Institutionen haben ihnen erzählt, dass sie, um ihre Jobs zu behalten, Anstellungen zu bekommen oder um befördert zu werden, dass sie dafür in diesen renommierten Journalen mit hohem Impact-Faktor veröffentlichen müssen", erkärt er.
Zahlreiche Veröffentlichungen in "Pseudo-Journalen"
Doch es wird deshalb nicht notwendigerweise nur in angesehenen Journalen publiziert - denn oft gilt: Hauptsache, veröffentlichen. Darauf weist schon eine Recherche von NDR, WDR und der Süddeutschen Zeitung aus dem Jahr 2018 hin.
Die Journalisten konnten bei der Auswertung von mehreren hunderttausend Veröffentlichungen zeigen, dass mehr als 500 Wissenschaftler aus Deutschland in sogenannten Pseudo-Journalen veröffentlicht haben. Dahinter stecken Briefkastenfirmen, die Studien gegen Geld, aber ohne Prüfung oder ernsthafte wissenschaftliche Kontrolle publizieren.
Wird sich jetzt, wo durch die Krise ein neues Bewusstsein für die Probleme geschaffen wird, etwas ändern? Das hoffen viele. Und es gibt auch schon Beispiele, dass es anders geht, erzählt der niederländische Forscher Serge Horbach.
"In diesem anderen System reichen Autoren ihre Studien bereits in einem sehr frühen Stadium bei den Journalen ein", erklärt er. "Sie reichen erst einmal nur ihre Forschungsfrage, die Forschungsmotivation und die Methode zur Überprüfung ein."
Die Allmacht der Journale angreifen
Doch auch dieses Verfahren ist nicht perfekt. Vielleicht ist aber ist es auch einfach Zeit, die Allmacht der Journale anzugreifen. Forschende sollten nicht mehr gezwungen werden, zu publizieren, um Fördergelder oder Titel zu bekommen oder weil sie Angst um ihren Job haben müssen, wenn die Anzahl der publizierten Artikel nicht stimmt.
Das wäre doch tatsächlich ein erstrebenswertes Ziel für die Zeit nach Covid-19.