Duchamp hält die Motten von der Kunst fern
Der Künstler Marcel Duchamp gilt bei Fachleuten als einer der rätselhaftesten Künstler, weshalb die Wissenschaftler bis heute an der Entschlüsselung seiner Werke arbeiten. Ende April treffen sich Duchamp-Experten aus der ganzen Welt zu einer Konferenz in Stockholm - mit dabei sind die Kunsthistoriker der weltweit einzigen Duchamp Forschungsstelle in Schwerin.
"Jetzt habe ich den Deckel geöffnet und jetzt sehen wir darin unterschiedliche Dinge wie zum Beispiel die kleinen Miniaturausgaben am Rand C3/7 was man noch machen kann, in der Mitte der Schachtel einen Deckel hochzuheben und dort haben Sie dann die Sammlung sämtlicher Drucke."
Mit Glacéhandschuhen packt Christina May, wissenschaftliche Volontärin an der Schweriner Forschungsstelle Marcel Duchamp, die Schätze der Boite en Valise aus dem Seidenpapier. In einer hölzernen Kiste hat der Künstler ein winziges Museum mit Miniaturen seiner wichtigsten Werke eingerichtet. Das berühmte Urinal hängt da in Puppenstubenformat. Aus dem aufklappbaren Deckel kann man Verkleinerungen der Gemälde ziehen. Sie lassen erkennen, mit welch atemberaubender Finesse der gelernte Drucker Marcel Duchamp seine Vervielfältigungen produzierte. Vom Betrachter verlangt der Kunstkoffer eigene Initiative.
"Die Frage, ich bin Schöpfer von Ideen und die anderen reagieren darauf, das ist glaube ich etwas, was uns auch immer wieder Marcel Duchamp als sehr lebendig und frisch und aktuell empfinden lässt."
Die Kuratorin Kornelia Röder und Gerhard Graulich, der stellvertretende Museumsdirektor, haben die Forschungsstelle Marcel Duchamp 2009 am Schweriner Museum eingerichtet.
"Wir haben zwischen 1995 und 2005 die Erfahrung gemacht, daß ganz viele Kuratoren auf uns zugekommen sind, Dinge über Marcel Duchamp wissen wollten und wir mussten uns immer wieder in die Dinge hineinbegeben, hineinarbeiten. Und dann haben wir gesagt, wir wollen selbst eigene Fragen stellen, zu Duchamp."
Auf der Fensterbank der weißen Villa gegenüber dem Schweriner Schloss steht der Mottenkönig, eine Zimmerpflanze, die ihren Stammbaum bis auf ein Exemplar aus dem Atelier des Künstlers zurückführen kann.
"Er soll bei ihm im Atelier gestanden haben, damit, wie der Name sagt, die Motten ferngehalten werden. Und wir sagen, das ist ein so schönes Bild, denn Duchamp hält auch die Motten von der Kunst fern."
Eine Mäzenin finanziert jetzt ein Stipendium für junge Wissenschaftler verschiedener Disziplinen. Regelmäßig versammelt die Publikation Poiesis Texte zu Duchamp. Zur Zeit wird an der aufwendigen Digitalisierung der Bestände gearbeitet. Vor allem aber wollen die beiden Kunsthistoriker den weltweiten Austausch der Forschung befördern und natürlich die eigene Duchamp-Sammlung ergründen mit ihren rund 90 Werken - Grafiken, Zeichnungen und Readymades.
Erotik mit der Mechanik eines Motors
In Schwerin bedeutet forschen, für Marcel Duchamp zu brennen. In der ständigen Ausstellung geraten die Besucher selbst in den Feuerring dieses provozierenden Universums, das aus dem Eklat um das letzte Gemälde entstand. Ein Druck zeigt den "Akt, der die Treppe heruntersteigt" aus dem Jahr 1912. Nach Kritik seiner Kollegen zog Duchamp das kubistische Bild aus dem Pariser Salon des Independants zurück.
"Und dann ist er zum Taxistand gegangen, hat seine Bilder eingepackt und ist weg gegangen. Und dann einige Monate später hat er diese Werke in New York auf der Armory Show gezeigt und da war es dann ein Skandalerfolg und Duchamp war ein Künstler, der in aller Munde gewesen ist."
Mit der Erfindung der Readymades stellte der Künstler auch die Vorstellung vom Original der Malerei in Frage. Im Museum erwachen diese alltäglichen Objekte erst, wenn die Betrachter ihnen ihre ganze Aufmerksamkeit schenken. Von der Decke hängt die Schneeschippe mit dem schönen Titel: "In advance of the broken arm".
"Marcel Duchamp hat ja auch gesagt, er ist gegen eine retinale Malerei, also gegen Kunst, die auf der Netzhaut entsteht, das ist ja ein sehr radikaler Bruch eigentlich, weil wir gerade in der Kunst mit dem Auge wahrnehmen, und er bringt unseren Verstand mit hinzu, unsere Lust, über Dinge, die wir sehen, die wir nicht verstehen, nachzudenken."
Eine Grafikserie analysiert das Hauptwerk von Marcel Duchamp, "Das Große Glas", an dem er ab 1915 arbeitete. Eine spätere, kleine Replik läßt die Fragilität und Flüchtigkeit des gläsernen Bildes erahnen.
"Im Großen Glas geht es ja letztendlich darum, Aspekte des Erotischen zu zeigen, der Beziehung zwischen Mann und Frau. Das was man ja eigentlich nicht sieht, was zwischen Mann und Frau passiert, also dieser erotische Impuls. Wie kommen Mann und Frau zusammen und warum. Etwas zu zeigen, was über unsere klassischen drei Dimensionen hinaus geht."
Die erotischen Beziehungen skizziert Duchamp nach der Mechanik eines Motors. Das Bild wirkt bis heute nach, zum Beispiel in den Filmen von Matthew Barney. In Schwerin kann man sich leicht in den labyrinthischen Gedankengebäuden verlieren. Doch am Ende geht man klaren Kopfes aus der Begegnung mit diesem widerspenstigen Geist heraus. Das detaillierte Wissen über Marcel Duchamp, das an der Schweriner Forschungsstelle gespeichert wird, führt zu neuem Überblick.