Mathias Forster, Christopher Schümann (Hg.): "Das Gift und wir"
Westend Verlag, Frankfurt 2020
448 Seiten, 29,95 Euro
Todesanzeige für die Turteltaube
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Turteltauben, Schwarze Mörtelbienen oder Baumweißlinge bekommen wir kaum noch zu Gesicht. Auch deshalb müssten Pestizide aus der Landwirtschaft verschwinden, wird in dem Buch "Das Gift und wir" argumentiert. Es geht auch um die Zukunft des Landbaus.
Pfingsten 1829, die Obstbäume auf der Heerstraße von Erfurt nach Gotha sind weiß. Sie sehen aus, als ständen sie in voller Blüte. Ein Trugschluss, wie der Zoologe Alfred Brehm in seinem Nachschlagewerk "Tierleben" aus dem Jahr 1876 berichtet. Eine ungeheure Menge von Baumweißlingen, ein heller Schmetterling, habe an den Bäumen gesessen.
Heute wäre dieser Anblick undenkbar, denn seit den 1980er-Jahren werden die Baumweißlinge immer seltener. Der starke Einsatz von Pflanzenschutzmitteln in den Obstbaugebieten Mitteleuropas hat zu einem starken Rückgang der Populationen geführt. So steht es in "Das Gift und wir". In dem Buch gibt es insgesamt 13 "Verlustanzeigen" wie jene für den Baumweißling, die Schwarze Mörtelbiene oder die Turteltaube. Die Verlustanzeigen sind sehr schön illustriert und durchziehen das Buch wie eine ständige Mahnung.
In konventionellen Getreidefeldern können Insekten erfrieren
Der Verlust der Biodiversität durch Pestizide ist immer wieder Thema in dem Sammelband, an dem 33 Autorinnen und Autoren mitgewirkt haben. Darunter sind viele Forschende aus dem Bereich der Ökologischen Landwirtschaft und Mitarbeitende von Umweltorganisationen. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie die Landwirtschaft weltweit ökologischer gestalten wollen. Einige fordern sogar die komplette Umstellung von der konventionellen zur biologischen Bewirtschaftung.
Die direkten Auswirkungen von Pestiziden zeigt die Journalistin Tanja Busse in ihrem Text auf. Pflanzenschutzmittel beeinflussten wahrscheinlich das Nervensystem und den Orientierungssinn von Insekten. Aber nicht nur deshalb seien Pestizide für Insekten schlecht. Getreidehalme wachsen laut Busse auf Feldern von konventionell arbeitenden Landwirten häufig so dicht nebeneinander, dass Insekten trotz Klimaerwärmung erfrieren, denn es komme nicht mehr genügend Licht auf den Boden. Diese Dichte sei nur möglich, weil das Getreide mit Pilzbekämpfungsmitteln behandelt wird.
Acht Milliarden Menschen brauchen Essen
Solche Auswirkungen werden immer wieder thematisiert, ebenso die Folgen von Glyphosat oder auch Kostenfragen. Viele der Autoren argumentieren, dass Kosten und Nutzen von Biodiversität zwar schwer zu beziffern sei, dass aber die nachträgliche Reinigung von Wasser und die Schadstoffentfernung die Gesellschaft viel Geld kosteten.
Einer der Knackpunkte in der Diskussion um eine Landwirtschaft ohne Chemikalien wird aber erst im letzten Viertel des Buches angesprochen: Es leben fast acht Milliarden Menschen auf der Erde. Kann eine Landwirtschaft, in der komplett auf Pestizideinsatz verzichtet wird, diese wachsende Anzahl an Menschen ernähren? Der ehemalige Direktor der internationalen Vereinigung der ökologischen Landbaubewegung, Bernward Geier und sein Sohn Marin Geier widersprechen dem früheren US-Landwirtschaftsminister Earl Butz, der polemisch gesagt hat: "Bevor wir in diesem Land zur biologischen Landwirtschaft zurückkehren, muss irgendjemand entscheiden, welche fünfzig Millionen Amerikaner wir verhungern oder hungern lassen."
Ein Buch für Verfechter des Öko-Landbaus
Die Geiers stützen sich in ihrem Widerspruch auf eine Studie aus dem Jahr 2016 von Lauren Ponisio und Paul Ehrlich – nicht dem deutschen Arzt, sondern einem Biologen der Stanford University. Laut Ponisio und Ehrlich hat die nachhaltige Landwirtschaft nur 2,5 Prozent geringere Erträge als der industrielle Landbau. Auch ein Interview mit dem ehemaligen Premierminister des indischen Bundesstaats Sikkim soll Hoffnung für den Ökolandbau machen: Seit 2015 bestellen die Einwohner ihre Felder nur noch nach Richtlinien des indischen Ökostandards. Allerdings bleiben in dem Interview Fragen offen: Was bedeutet ‚Anbau nach dem indischen Ökostandard‘? Und kann der Bundesstaat sich selbst versorgen, oder muss er Lebensmittel importieren?
Offene Fragen wie diese ziehen sich durch das Buch. Das liegt daran, dass es klar politisch motiviert ist. Wer von ökologischer Landwirtschaft überzeugt ist und sich für Diskussionen mehr fundierten Argumente aneignen will, sollte es lesen. Dabei ist auch sehr praktisch, dass die Kapitel unabhängig voneinander stehen. Wer sich dagegen grundsätzlich darüber informieren möchte, ob eine ökologische Landwirtschaft zukunftsfähig ist, wird enttäuscht.